Schwangerschaftsabbruch in Europa: Wenn Rechte nicht für alle gelten
"Mein Körper, meine Rechte": Demonstration zum Weltfrauentag am 8. März 2024 in Luxemburg.
© Amnesty International Luxembourg
Ein neuer Amnesty-Bericht zeigt, wie schwierig Abtreibungen in Europa trotz gesetzlicher Regelungen bleiben. Schwangere Menschen werden unnötigen Risiken ausgesetzt. Regierungen müssen jetzt handeln!
In Europa haben Frauen, Mädchen und Menschen, die schwanger werden können, in den vergangenen Jahren mehr Rechte bekommen: Viele Länder haben Schwangerschaftsabbrüche legalisiert und die Strafbarkeit von Abtreibungen teilweise aufgehoben.
Aktivist*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen haben mit ihrem Einsatz maßgeblich zu diesen Reformen beigetragen. Das Resultat ist, dass die sexuellen und reproduktiven Rechte – also grundlegende Rechte zur Selbstbestimmung über den eigenen Körper – von immer mehr Staaten anerkannt werden.
Trotz dieser Verbesserungen ist der Zugang zu einem sicheren und legalen Schwangerschaftsabbruch in europäischen Ländern weiterhin unterschiedlich geregelt und teilweise mit hohen Hürden verbunden.
Darüber hinaus setzen menschenrechtsfeindliche Gruppen alles daran, den Zugang zu Abtreibungen stärker einzuschränken – oftmals durch die Verbreitung von Angst und Fehlinformationen.
In einem neuen, umfassenden Bericht hat Amnesty International die Lage für Schwangerschaftsabbrüche in insgesamt 40 europäischen Ländern analysiert. Die Ergebnisse der Recherche zeigen, wie schwierig Abtreibungen in Europa trotz gesetzlicher Regelungen bleiben. Schwangere Menschen werden so unnötigen Risiken ausgesetzt und gefährdet.
Die zentrale Forderung von Amnesty International: Ein Schwangerschaftsabbruch gehört zur medizinischen Grundversorgung und ist ein Menschenrecht. Regierungen müssen Abtreibungen vollständig entkriminalisieren und alle Barrieren beseitigen.
Demonstration in der italienischen Hauptstadt Rom für einen sicheren und legalen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen (22. April 2024)
© 2024 Simona Granati - Corbis
In Kürze: Was sind die größten Hindernisse für einen sicheren Schwangerschaftsabbruch?
Obwohl es rechtliche Fortschritte gibt, ist der Zugang zu Abtreibungen in Europa für viele Menschen weiterhin schwierig. Die größten Hindernisse sind:
- Strafbarkeit: In mindestens 20 Ländern in Europa ist eine Abtreibung außerhalb der gesetzlichen Regeln strafbar.
- Hohe Kosten: In vielen Ländern wie zum Beispiel in Deutschland und Österreich wird eine Abtreibung, wenn sie auf eigenen Wunsch stattfindet, nicht von der Krankenkasse bezahlt.
- Verweigerung durch Ärzt*innen: Medizinisches Personal kann die Behandlung aus Gewissensgründen ablehnen (zum Beispiel in Italien und Kroatien).
- Unnötige Hürden: Viele Länder haben weiterhin Zwangswartezeiten oder eine Beratungspflicht, die den Prozess erschweren.
- Politische Rückschritte: In einigen Ländern wurde der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen durch Gesetze verschärft.
- Ungleichheit: Marginalisierte Gruppen, Migrant*innen und LGBTI+ sind von diesen Hürden und Schikanen besonders stark betroffen.
- Reisezwang: Tausende schwangere Menschen müssen jedes Jahr ins Ausland reisen, um eine Abtreibung durchführen zu lassen.
Demonstration in Augsburg für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen anlässlich des Weltfrauentags am 8. März 2024
© IMAGO / Bihlmayerfotografie
Übersicht: Rechtliche Rahmenbedingungen für Abtreibungen in Europa
In der überwiegenden Mehrheit der europäischen Länder ist der Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch innerhalb definierter Schwangerschaftsgrenzen legal oder von der Bestrafung ausgenommen. Dieser Zeitraum stellt in der Regel das erste Trimester dar – also die ersten 12 Wochen der Schwangerschaft. Der Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen in Europa ist sehr unterschiedlich geregelt. Oftmals müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit eine Abtreibung legal durchgeführt werden kann.
Ein Beispiel: Abtreibungen in Deutschland sind grundsätzlich strafbar - bleiben aber unter bestimmten Bedingungen straffrei. Sie muss nach einer Pflichtberatung innerhalb der ersten zwölf Wochen erfolgen und der Eingriff muss von Ärzt*innen vorgenommen werden.
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Länder mit liberalen Abtreibungsgesetzen:
Zu den Ländern, in denen eine Abtreibung auf Wunsch innerhalb festgelegter Fristen erlaubt ist, gehören zum Beispiel Albanien, Österreich, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Zypern, Deutschland oder Türkei.
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Länder mit längeren Fristen:
Frankreich, Luxemburg, Spanien und Rumänien haben die Frist für Abtreibungen auf Wunsch auf bis zu 14 Schwangerschaftswochen erweitert. In Schweden, Norwegen und Dänemark liegt die Frist bei 18 Wochen und in Island bei 22 Wochen.
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Länder mit strengen Abtreibungsgesetzen:
- Andorra ist das einzige europäische Land, das ein vollständiges Abtreibungsverbot aufrechterhält. Weil die Aktivistin Vanessa Mendoza Cortés dieses Abtreibungsverbot in Andorra öffentlich kritisiert hatte, musste sie sich sogar jahrelang einem unfairen Gerichtsverfahren stellen.
- In Malta wird die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen sehr eingeschränkt.
- In Polen ist ein Schwangerschaftsabbruch nur in zwei Fällen erlaubt: wenn das Leben oder die Gesundheit der Frau gefährdet ist oder in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest. Der aktuelle Amnesty-Länderbericht biete weitere Informationen zum Thema Abtreibungen in Polen.
Fallbeispiele aus Polen, Großbritannien, Zypern, Kroatien, Deutschland und Frankreich
Kriminalisierung und strafrechtliche Verfolgung:
In manchen Ländern sind Schwangerschaftsabbrüche immer noch strafbar. Das führt zu starker Stigmatisierung und Unsicherheit bei schwangeren Menschen, die eine Abtreibung in Betracht ziehen.
Der Fall von Joanna aus Polen offenbart die erniedrigende und belastende Behandlung, der sie in einem Krankenhaus in Krakau ausgesetzt war. Ihrer Aussage nach habe sie im April 2023 wegen Angstzuständen mit ihrer Psychiaterin telefoniert und dabei erwähnt, dass sie eine Abtreibung hatte.
Daraufhin erschien die Polizei in Joannas Wohnung, beschlagnahmte ihren Laptop und ihr Handy und brachte sie in ein Krankenhaus. Dort wurde sie von Polizistinnen gezwungen, sich auszuziehen, in die Hocke zu gehen und zu husten, obwohl sie noch blutete. Die Polizei wollte herausfinden, wer ihr bei der Abtreibung geholfen hatte.
In Großbritannien (England und Wales) sind Frauen, die Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des gesetzlichen Rahmens vornehmen, von polizeilichen Ermittlungen betroffen, selbst nach Früh- oder Fehlgeburten.
Eine dreifache Mutter wurde dort 2023 zu einer 28-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft mithilfe von Tabletten selbst abgetrieben hatte. Sie wurde erst nach einem Monat aus humanitären Gründen aus der Haft entlassen und ihre Strafe im Rechtsmittelverfahren reduziert.
Mahnwache in der polnischen Hauptstadt Warschau für die verstorbene Izabela: Ein Schwangerschaftsabbruch hätte der 30-jährigen im Jahr 2021 das Leben retten können, doch Ärzte verweigerten den Eingriff aufgrund restriktiver Abtreibungsgesetze (undatiertes Foto).
© Grzegorz Żukowski
Barrieren und Verweigerung aus "Gewissensgründen":
In anderen Fällen verweigert medizinisches Personal bewusst die Abtreibung und manipuliert die betroffenen Frauen mit gezielter Desinformation. 2024 berichteten Medien über den Fall einer Frau in Zypern, die fünf Tage auf einen Schwangerschaftsabbruch warten musste, weil die Anästhesist*innen eines öffentlichen Krankenhauses ihre Mitwirkung an dem Eingriff verweigert hatten.
Auch in Kroatien wurden in der Vergangenheit Frauen, die einen Abbruch wünschten, in Krankenhäusern durch aktive Desinformation in die Irre geführt. Das berichtet Ljerka Oppenheim von der kroatischen Menschenrechtsorganisation Sofija: "Manchmal wird ihnen fälschlicherweise gesagt, dass der Schwangerschaftsabbruch nicht möglich sei, oder sie treffen auf Ärzt*innen, die sich darauf berufen, diesen 'nicht durchführen zu wollen’".
Diskriminierung marginalisierter Gruppen, bürokratische Hürden und Fristenprobleme:
Vor allem Migrant*innen, LGBTI+, rassifizierte Personen und andere Menschen in marginalisierten Gruppen sind von Diskriminierung beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen betroffen. Davon zeugen Erfahrungen von Ísis Fernandes von der Menschenrechtsorganisation DaMigra aus Deutschland:
"Viele Frauen haben mir beispielsweise erzählt, dass sie im Wettlauf gegen die Uhr, um die gesetzliche Frist für eine Abtreibung einzuhalten, fast in letzter Minute in der Klinik ankommen, in dem Glauben, dass jetzt alles gut ist, dass sie die Abtreibung bekommen und dass alles gut ausgehen wird. Stattdessen verlassen sie die Klinik noch traumatisierter, weil sie vom medizinischen Personal diskriminiert und Rassismus und Vorurteilen ausgesetzt werden.
Von solchen Fällen berichtet auch die Organisation "Abortion Support Network" in Frankreich: Viele Personen, die vom Netzwerk unterstützt werden, überschritten die Frist in Frankreich, weil sie sich in schwierigen Lagen befanden – etwa mit unsicherem Aufenthaltsstatus, häuslicher Gewalt, Drogenkonsum oder Obdachlosigkeit.
Stimmen von Expert*innen zum Thema Schwangerschaftsabbruch in Europa:
"Die Frauen entscheiden": Demonstration in Paris für die Verankerung des Rechts auf Abtreibung in der französischen Verfassung (28. Februar 2024).
© IMAGO / ABACAPRESS
Welche weiteren Hürden verhindern den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen?
Es gibt noch eine Reihe weiterer Gründe, die den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen erschweren. Dazu gehören zum Beispiel medizinisch ungerechtfertigte und bürokratische Anforderungen sowie soziale und politische Einflüsse:
- Fristen und zeitliche Beschränkungen: Obwohl Abtreibungen legal sind, sind die zulässigen Fristen oft restriktiv.
- Obligatorische Warte- und Bedenkzeiten: Mindestens zwölf europäische Länder verlangen weiterhin eine obligatorische Wartezeit - zum Beispiel drei bis sieben Tage.
- Pflichtberatung: Die gesetzlich vorgeschriebene Beratung – wie die "Schwangerschaftskonfliktberatung" in Deutschland – verstärkt Schuldgefühle und führt zu weiteren Verzögerungen.
- Stigmatisierung und Desinformation: Gesellschaftliche Stigmatisierung, verstärkt durch Desinformationskampagnen hält Schwangere davon ab, rechtzeitig Hilfe zu suchen.
Was fordert Amnesty International?
Der Weg zu einer vollen Anerkennung der Rechte auf Schwangerschaftsabbruch braucht weitere Anstrengungen. "Die ernüchternde Realität ist, dass trotz bedeutender Fortschritte in ganz Europa der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch immer noch durch beunruhigend viele sichtbare und unsichtbare Hürden eingeschränkt wird", kritisiert Monica Costa Riba, Expertin für Frauenrechte bei Amnesty International.
Es braucht Einsatz von Einzelpersonen, von den Ländern und auf internationaler Ebene. Nur so kann eine faire und gleiche Gesundheitsversorgung für alle gesichert werden. Hier sind die wichtigsten Amnesty-Forderungen:
1. Entkriminalisierung und sicherer Zugang
Vollständige Entkriminalisierung: Europäische Regierungen müssen Schwangerschaftsabbrüche vollständig aus dem Strafrecht streichen und alle Strafverfahren fallen lassen.
Kostenfreiheit: Sie müssen einen gleichberechtigten, universellen Zugang gewährleisten. Dienste müssen kostenlos oder subventioniert über das öffentliche Gesundheitssystem bereitgestellt werden.
2. Beseitigung von Barrieren
Hürden abschaffen: Europäische Länder müssen administrative und finanzielle Hindernisse beseitigen, darunter obligatorische Wartezeiten, Pflichtberatungen und die Notwendigkeit der Genehmigung durch Dritte (z.B. Ehepartner*innen oder Richter*innen).
Gewissensverweigerung: Die Verweigerung aus Gewissensgründen muss angemessen geregelt werden. Sie darf nur auf einzelne medizinische Fachkräfte beschränkt sein – nicht auf ganze Institutionen.
3. Moderne Versorgung und Aufklärung
Methoden: Europäische Länder müssen sicherstellen, dass Abbrüche in verschiedenen Szenarien, einschließlich Telemedizin und medikamentöser Methoden, verfügbar sind.
Stigmatisierung bekämpfen: Sie müssen die Stigmatisierung im Zusammenhang mit Abbrüchen bekämpfen und korrekte, unvoreingenommene Informationen bereitstellen.
4. Forderungen an die EU
Das Recht auf Abtreibung muss in der Grundrechtecharta der EU verankert werden.
Die EU muss einen Gesetzesvorschlag für einen grenzüberschreitenden Solidaritätsmechanismus (My Voice My Choice) vorlegen.