Amnesty Journal Neuseeland 21. November 2025

Neuseeländischer Songwriter: Fenster in die Welt der Maori

Ein junger Mann mit Kurzhaarschnitt in einem weißen Hemd trägt eine Art Kleid oder Rock, aus Bast hergestellt, hinter ihm eine Seen-Hügellandschaft.

Marlon Williams singt von Sehnsucht und Einsamkeit, Verlorensein und Nachhausekommen.

Der neuseeländische Singer-Songwriter Marlon Williams besinnt sich seiner indigenen Wurzeln. Sein Album mit Texten auf Maori erscheint in politisch angespannten Zeiten.

Von Thomas Winkler

Marlon Williams ist einer der erfolgreichsten Sänger und Musiker Neuseelands: Er ist durch die ganze Welt getourt, hat Preise gewonnen, spielte im Vorprogramm von Bruce Springsteen, trat in der berühmten TV-Show von Jools Holland auf, hatte eine kleine Nebenrolle im Hollywood-Hit "A Star Is Born" und stand beim Newport Folk Festival auf der Bühne, wo einst Bob Dylan seinen Durchbruch feierte. Der 34-Jährige ist also längst kein Geheimtipp mehr, aber auf seinem erfolgreichen Weg ging ihm etwas verloren: seine Wurzeln.

Dass Williams – im Gegensatz zu seinen bekannten Kolleginnen Lorde und Aldous Harding – zur indigenen Bevölkerung Neuseelands, den Maori, gehört, spielte bislang keine große Rolle. Nicht in seinen Songs, nicht bei seinem Publikum und nicht einmal in seiner eigenen Wahrnehmung. Dass Williams Eltern Maori sind, hatte kaum praktische Auswirkungen. Seine Mutter sprach nur wenig Maori mit ihm, sein Vater gar nicht, erinnert sich Williams im Interview, und von dem einen Jahr, in dem er in die Maori-Vorschule ging, "ist nicht wirklich was hängen geblieben".

Entfremdung von den eigenen Maori-Wurzeln

Diese Entfremdung von der Maori-Kultur ist in Neuseeland durchaus verbreitet, obwohl die Sprache der Indigenen neben Englisch offizielle Landessprache ist und Traditionen wie der rituelle Haka-Tanz, der durch die neuseeländische Rugby-Mannschaft internationale Berühmtheit erlangte, in der Schule auf dem Lehrplan stehen. Wie dürftig seine eigene Verbindung zur Kultur seiner Eltern war, wurde Williams erst klar, als er Lieder für ein neues Album schreiben wollte, ihm aber nichts einfiel. Nachdem er bereits auf dem 2022 erschienenen Album "My Boy" mit traditionellen Instrumenten und Techniken experimentiert hatte, wollte er nun seiner Schreibblockade mit einer gewagten Idee beikommen: einem kompletten Album in der Sprache der Maori. "Ich habe mir gedacht, wenn ich gerade Probleme habe, auf Englisch zu schreiben, dann kann ich es ja mal mit Maori versuchen", erzählt Williams.

Es hat natürlich eine Bedeutung, in diesem politischen Klima etwas in Maori herauszubringen. So gesehen war es eine politische Tat, dieses Album aufzunehmen.

Marlon
Williams

Ein Maori-Sprichwort lautet: Es dauert nur eine Generation, um eine Sprache zu verlieren, aber drei, um sie wiederzufinden. Williams ließ sich davon nicht beeindrucken. Er suchte sich einen Maori-Lehrer, klaubte die wenigen Brocken aus seiner Erinnerung zusammen und hörte vor allem viel Maori-Musik. "Die Aussprache war da, auch ein Gefühl für die Sprache, aber die Vokabeln und die Grammatik waren eine Katastrophe", erinnert er sich an den mühsamen Prozess, der zu Beginn der Corona-Pandemie seinen Anfang nahm und bis heute nicht abgeschlossen ist: "Mein Maori ist immer noch nicht fließend, auch weil ich viel durch traditionelle, jahrhundertealte Songs gelernt habe. Es ist ein bisschen so, als hättest du Deutsch vor allem durch Kirchenlieder gelernt."

Trotz allem ist das Album fertig geworden. "Te Whare Tīwekaweka" versammelt wundervoll harmonische Songs, die sanft dahinfließen und gemütlich schaukeln wie das Boot in einem der Lieder, in dem der Protagonist allein über den Ozean segelt. Williams Themen sind Sehnsucht und Einsamkeit, Verlorensein und Nachhausekommen. In "E Mawehe ana Au" singt er fast kindlich: Ich bin zerrissen zwischen zwei Welten, und die Kluft wird immer größer.

Abbau von Minderheitenrechten

Welche Seelenqualen da verhandelt werden, ist oberflächlich kaum zu hören, aber eine gewisse Melancholie schwingt immer mit. Ursprünglich, sagt Williams, sei es ihm darum gegangen, "neue Ausdrucksmöglichkeiten und auch eine neue Sprache zu finden, um Gefühle auszudrücken". Aber längst ist ihm deutlich geworden, dass ein Album in der Sprache der Ureinwohner unweigerlich mehr ist als nur eine Auseinandersetzung mit der eigenen verdrängten Geschichte. "Es hat natürlich eine Bedeutung, in diesem politischen Klima etwas in Maori herauszubringen. So gesehen war es eine politische Tat, dieses Album aufzunehmen."

Neuseeland, das offiziell nie eine Kolonie war, aber bis heute Teil des britischen Commonwealth ist, wurde lange für seinen Umgang mit dem kolonialen Erbe gelobt. So gibt es spezielle Förderprogramme für Maori, sie können länger Arbeitslosengeld beziehen, und auch im Wahlsystem nehmen sie eine Sonderstellung ein. Doch in Aotearoa, wie die Maori ihre Heimat nennen, ist seit Jahren ein politischer Rechtsruck zu beobachten. Seit der Parlamentswahl im Jahr 2023 regieren die Konservativen mit Unterstützung zweier rechtspopulistischer Parteien. Die Koalition hat damit begonnen, systematisch Minderheitenrechte und gesetzliche Privilegien der Maori abzubauen. Dagegen gehen breite Bevölkerungsschichten, nicht nur Maori, auf die Straße. Das sonst so beschauliche Neuseeland sieht die größten Proteste seit Jahrzehnten. Erst im April konnte eine Gesetzesinitiative, die den Sonderstatus der Maori-Minderheit grundsätzlich infrage gestellt hätte, verhindert werden. Die Koalitionspartner stimmten aufgrund des öffentlichen Drucks gegen den Gesetzentwurf der kleinsten Regierungspartei New Zealand First – und lösten eine Regierungskrise aus. Kurz darauf wurden die Abgeordneten der Maori-Partei Te Pāti Māori, die den Protest ins Parlament getragen hatten, indem sie während einer Abstimmung des umstrittenen Gesetzes im vergangenen November einen Haka aufgeführt hatten, für drei Wochen suspendiert – die härteste Sanktion in der Geschichte des neuseeländischen Repräsentantenhauses.

"Trost in Zeiten des Kummers"

In dieser angespannten Atmosphäre ist "Te Whare Tīwekaweka" nur eine Randnotiz, aber eine mit politischer Dimension. "Dieses Album könnte ein Spielball in der Auseinandersetzung werden", sagt Marlon Williams. "Das macht mir zwar Angst, aber ich sage mir: Ich muss diese Songs loslassen, sie werden sowieso ein Eigenleben entwickeln." 

Im Idealfall, hofft Williams, werden diese Songs für die Menschen, die sie hören, dasselbe werden wie für ihn: eine Brücke zur Kultur der Maori. Er zitiert ein weiteres Sprichwort: Ko te reo Māori, he matapihi ki te ao Māori. Übersetzt heißt das ungefähr: Die Maori-Sprache ist ein Fenster in die Welt der Maori.

Einzelne Maori-Vertreter kritisierten zwar Williams’ mitunter eigenwilligen Umgang mit der Sprache, aber grundsätzlich sind die Reaktionen eher positiv. Der New Zealand Herald, die größte Tageszeitung des Landes, bescheinigte dem Album gar die Fähigkeit, dem in seinen Grundfesten erschütterten Land "Trost in Zeiten des Kummers" zu spenden. So harmlos und gefällig die Lieder von Marlon Williams beim ersten Hören erscheinen mögen, vielleicht haben sie die Kraft, zu einer neuen Harmonie in Neuseeland beizutragen.

Thomas Winkler ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Marlon Williams: Te Whare Tīwekaweka ­(Marlon ­Williams/Cargo) auf Bandcamp.

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