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"Die vergessenen Gefangenen" von heute
© Amnesty International
Seit der Gründung von Amnesty International sind 60 Jahre vergangenen. Seitdem hat es Verbesserungen, aber auch zahlreiche Rückschritte gegeben – viel Arbeit bleibt noch zu tun. Ein Gastbeitrag.
Aus einer Stimme wurden zehn Millionen – das ist nicht die Geschichte eines Songs, der Weltruhm erlangte, sondern die einer weltweiten Bewegung für die Wahrung der Menschenrechte. Der Anwalt Peter Benenson legte vor 60 Jahren mit dem Aufruf in einer englischen Zeitung den Grundstein für die weltweit tätige Menschenrechtsorganisation Amnesty International: Unter der Überschrift "Die vergessenen Gefangenen" (The forgotten prisoners) rief er dazu auf, sich für willkürlich inhaftierte gewaltlose politische Gefangene einzusetzen. Der Aufruf wurde aufgegriffen, überall wurden Menschen aktiv und setzten sich mit Briefen an die verantwortlichen Regierungen für die Freilassung der Gefangenen ein – im Juni 1961 gründete sich die erste deutsche Amnesty-Gruppe in Köln.
Benensons "Appell für Amnestie" gab der heute größten Menschenrechtsbewegung nicht nur ihren Namen. Er begründete auch eine wichtige Arbeitsweise von Amnesty International: Menschenrechtsverletzungen durch unabhängige, belastbare Recherchen ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen und Menschen für die Menschenrechte anderer zu mobilisieren.
60 Jahre nach Gründung von Amnesty ist die Welt eine andere: Millionen von Menschen nehmen heute Rechte wahr, die ihren Eltern verwehrt waren – ob der Zugang zu Bildung für Mädchen, das Verbot der Zwangsheirat oder das absolute Folterverbot. Viele Staaten haben die Todesstrafe abgeschafft. Amnesty hat zusammen mit anderen zur Schaffung von UN-Abkommen wie der Antifolterkonvention und zur Gründung von Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof beitragen können. Aber es gilt auch: Autoritäre Regierungen stellen Menschenrechte als internationalen Konsens in Frage, verletzen bewusst internationales Recht, kriminalisieren und verfolgen mit wachsender Systematik und Gewalt all jene, die sich mutig und friedlich für Menschenrechte einsetzen.
Weswegen es weiter unser aller Einsatz für die Menschenrechte braucht. Und unsere nicht nachlassende Aufmerksamkeit – damit die politischen Gefangenen von heute, wie Roman Protassewitsch (Belarus), Nasrin Sotoudeh (Iran), Julian Assange (UK), Osman Kavala (Türkei), und all die, deren Namen seltener Erwähnung finden, nicht zu "vergessenen Gefangenen" werden.
Die iranische Anwältin Nasrin Sotoudeh setzt sich für Menschenrechte ein und wird dafür gefangen gehalten.
© Getty Images
Wieder Hunderttausende: die vergessenen Gefangenen von heute
Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach der Shoa und dem Zweitem Weltkrieg ging einher mit dem weltweiten Ruf des "Nie wieder!" Auch wenn es Jahrzehnte dauerte, bis die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten von Amerika, das Apartheid-Regime in Südafrika und die koloniale Unterdrückung von Menschen ihr Ende fanden, so war eine weit verbreitete Hoffnung, dass die systematische, in großer Zahl stattfindende, gezielte Ausgrenzung, Internierung und Misshandlung von verfolgten Bevölkerungsgruppen der Vergangenheit angehören sollte.
Heute werden Menschen wieder systematisch zu Hundertausenden wegen ihrer Religion, Sprache oder ethnischen Herkunft, überwacht, vertrieben, interniert und misshandelt. Amnesty veröffentlichte kürzlich einen weiteren Bericht zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang. Seit Jahren berichten Amnesty und andere Organisationen, wie über eine Million Uiguren und Uigurinnen, Kasachen und Kasachinnen und andere vornehmlich muslimische Minderheiten systematisch und massenhaft inhaftiert, indoktriniert, verfolgt und gefoltert werden. Und dennoch scheint es, dass die Welt sie alle, wenige Momente nach jedem Bericht, jeder Zeitungsmeldung, wieder aufs Neue vergisst – sie gehören zu den "vergessenen Gefangenen" von heute.
Andere Regierungen scheinen dagegen genau hinzuschauen: das chinesische Vorgehen "macht Schule", Amnesty dokumentiert systematische Ausgrenzungen und die Verfolgung von Bevölkerungsgruppen in einer zunehmenden Zahl von Ländern.
Schutzsuchende, Migrantinnen und Migranten als "Menschen ohne Menschenrechte"
Zu den "vergessenen Gefangenen" von heute gehören auch die tausenden Kinder und Eltern, die an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze voneinander getrennt und inhaftiert wurden. Kinder, von denen zahlreiche bis heute ihre Familien nicht haben wiederfinden können. Kein Aufschrei der Weltgemeinschaft!
Vergessen werden Flüchtende, die im Pazifik unter menschenunwürdigen Bedingungen jahrelang auf Inseln festgehalten werden. Oder Familien der Rohingya, die erst vor Vertreibung und Gewalt in Myanmar fliehen mussten und nun von Bangladesch auf einer Insel, 34 Kilometer vor dem Festland, "ausgesetzt" werden.
Und ebenso vergessen sind die Männer, Frauen und Kinder, die an den europäischen Außengrenzen Opfer von rechtswidrigen Push-Backs durch europäische Grenzbeamte und -beamtinnen werden.
Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten werden an mehr und mehr Orten dieser Welt wie "Menschen ohne Menschenrechte" behandelt. Als ob wir die Genfer Flüchtlingskonvention vergessen haben, die vor 70 Jahren zum besonderen Schutz von Menschen auf der Flucht geschaffen wurde. Als ob einige vergessen wollen, dass alle Menschen Menschenrechte haben.
"Vergessene" unter uns
Auch mitten unter uns leben "vergessene Gefangene":
Gefangen, weil Gewalt sie täglich bedroht und sie nicht den nötigen Schutz erhalten. Vergessen, weil wir so tun, als gäbe es die Gefahr nicht – nur weil sie uns selbst vielleicht nicht droht. Täglich erleben Menschen in Deutschland Herabwürdigungen und Bedrohungen, weil sie einer Gruppe zugerechnet werden. Und es bleibt nicht bei Worten: Im letzten Jahr wurden rund 24.000 rechtsextreme Straftaten begangen. Die Morde in Hanau und Halle, des NSU sowie all jene rassistischen Gewalttaten, die es nicht in die Öffentlichkeit schaffen – sie sind Gewalt "mit Ansage". Und sie kommen einer Kriegserklärung gleich. Diese gilt all jenen, die in unserer Mitte in Angst leben müssen, weil rassistische und antisemitische Hetze sie öffentlich zur Zielscheibe machen, bedrohen und gegen sie aufstacheln. Der Kampf gegen rassistische und antisemitische Gewalt ist eine Frage der Menschenrechte und der inneren Sicherheit. Und er fängt in den Reihen von Polizei und Sicherheitsbehörden an.
Vergessen in der Pandemie?
Die COVID-19-Pandemie hat überall auf der Welt das Leben von Millionen Menschen aus den Fugen gerissen. Während aber durchschnittlich 42 Prozent der Bevölkerung in reichen Staaten eine erste Impfung erhalten haben, wurden in armen Ländern aktuellen Zahlen zufolge erst 0,8 Prozent einmalig geimpft.
Und während bei uns die Rückkehr "zum normalen Leben" eingefordert wird, stehen der großen Gruppe von Staaten, die eine Aufhebung der Patentrechte für Impfstoffe fordern, um rasch die weltweite Produktion zu vergrößern, weiter eine ablehnende Bundesrepublik und EU gegenüber. Dabei ist die bedürfnisgerechte Verteilung von Impfstoffen, Medikamenten, Tests und Schutzmasken eine Frage der Menschenrechte und der internationalen Verantwortung.
Es geschieht vor unser aller Augen
Peter Benenson glaubte: "Die Öffentlichkeit ist der größte Feind von Menschenrechtsverletzungen." Wenn die Leute nur wüssten, was passiert, so würden sie einschreiten. Der Blick in die Gegenwart zeigt: Die Menschenrechte der "vergessenen Gefangenen von heute" werden im Angesicht der Weltöffentlichkeit verletzt. Es fehlt nicht an Berichten von Amnesty International oder anderen Organisationen – es geschieht vor unser aller Augen.
"Um sich von der [aktuellen] weitreichendsten und schwerwiegendsten Kaskade von Menschenrechtsverletzungen zu unseren Lebzeiten zu erholen, brauchen wir eine lebensverändernde Vision und konzertierte Aktionen", sagte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet kürzlich. Gott sei Dank gibt es Menschen, die hinschauen und gemeinsam aktiv werden. Sie werden mehr, wie die wachsende Zahl von Unterstützern und Unterstützerinnen allein bei Amnesty zeigt. Doch es braucht viele weitere. Denn, auch das haben die vergangenen 60 Jahre gezeigt, die Verantwortlichen sind auf Dauer keineswegs unempfindlich gegenüber dem Druck der Vielstimmigkeit – damals wie heute.
Der Gastbeitrag erschien zuerst am 30. Juni 2021 auf faz.net.