Aktuell 11. Juni 2020

Wie der Einsatz von Tränengas weltweit zu Menschenrechtsverletzungen führt

Drei Polizisten bewaffnet, schießen mit Trängengasgranaten

Die venezolanische Polizei geht mit Tränengas gegen Protestierende vor (Mai 2017)

Der globale Handel mit Tränengas ist international kaum reguliert und begünstigt so Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei gegen friedliche Demonstrierende. Eine neue Website von Amnesty International informiert über den gefährlichen Einsatz von Tränengas und dokumentiert nahezu 80 Zwischenfälle in 22 Ländern und Gebieten. 

"Sicherheitskräfte wollen uns häufig einreden, Tränengas sei ein 'sicheres' Mittel, um gewalttätige Menschenmengen auseinanderzutreiben – der Einsatz schädlicherer Waffen könne so umgangen werden. Unsere Auswertungen zeigen jedoch einen massiven Missbrauch von Tränengas durch Polizeikräfte", so Sam Dubberley, Leiter des Evidence Lab im Krisenteam von Amnesty International. 

"Wir haben den Einsatz von Tränengas durch Polizeikräfte in Fällen dokumentiert, in denen dieser nie vorgesehen war. Dabei wurden häufig große Mengen Tränengas gegen friedliche Protestierende eingesetzt oder Projektile direkt auf Menschen abgeschossen, was zu Verletzungen und Todesfällen führte."

Die neue Website Tear Gas: An investigation von Amnesty International erläutert, was Tränengas ist und wie es eingesetzt wird. Außerdem werden zahlreiche Fälle seines missbräuchlichen Einsatzes durch Sicherheitskräfte weltweit dokumentiert, die häufig zu schweren Verletzungen oder sogar zum Tod führten.

Der Start der Website fällt zusammen mit dem Jahrestag des Beginns monatelanger, seit kurzem wiederaufgenommener Tränengas-Bombardements der Hongkonger Polizei gegen friedliche Demonstrationen sowie dem derzeitigen Einsatz von Tränengas gegen Demonstrierende durch Polizeikräfte in Dutzenden von US-Städten.

Video über den Einsatz von Tränengas weltweit:

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Open-Source-Recherchen 

Im vergangenen Jahr hat das Evidence Lab von Amnesty International den Missbrauch von Tränengas weltweit untersucht, hauptsächlich über Videos, die auf Social-Media-Plattformen wie Facebook, YouTube und Twitter gepostet wurden. 

Mit Hilfe von Open-Source-Untersuchungsmethoden hat die Organisation fast 500 Videos ausgewertet und konnte dabei für fast 80 Ereignisse in 22 Ländern und Gebieten, bei denen Tränengas missbraucht wurde, den Ort, das Datum und die Authentizität nachweisen. Durchgeführt wurde die Analyse vom Digital Verification Corps von Amnesty International – einem Netzwerk aus Studierenden an sechs Universitäten auf vier Kontinenten, die in der Beschaffung und Überprüfung von Inhalten aus sozialen Medien geschult sind. 

Neben Interviews mit betroffenen Demonstrierenden zeigt die Analyse einen beunruhigenden weltweiten Trend zum weiträumigen, rechtswidrigen Einsatz von Tränengas.

Auf der Webseite befindet sich auch ein in Zusammenarbeit mit SITU Research entstandenes Video, in dem die Wirkung von Tränengas analysiert, das Innenleben der Munition erläutert und gezeigt wird, dass eine missbräuchliche Verwendung zu Verstümmelung und zum Tod führen kann.

Missbrauch von Tränengas

Amnesty International hat den vielfältigen Missbrauch von Tränengas durch die Polizei dokumentiert. Dazu gehören der Einsatz in engen Räumen, der direkte Beschuss von Personen, die Verwendung übermäßiger Mengen an Tränengas, der Beschuss friedlicher Proteste sowie der Beschuss von Gruppen, die möglicherweise nicht gut fliehen können oder anfälliger für die Auswirkungen von Tränengas sind. Dazu gehören zum Beispiel Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen.

Tränengas wurde durch die Windschutzscheibe eines PKWs, im Inneren eines Schulbusses, bei einem Trauerzug, in Krankenhäusern, Wohnhäusern, U-Bahnen, Einkaufszentren und selbst in nahezu leeren Straßen abgefeuert. 

Sicherheitskräfte haben Tränengaskanister auch direkt auf Personen abgefeuert, was zu Todesopfern führte, sowie aus mit hoher Geschwindigkeit vorbeirasenden Lastwagen und Jeeps und über Drohnen. Zu den Betroffenen gehörten Klimaprotestler_innen, Schüler_innen, medizinisches Personal, Medienschaffende, Migrant_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen, darunter Mitglieder der Bewegung "Bring Back Our Girls in Nigeria".

Inmitten einer Trängengaswolke sieht man die Silhouette einer Person mit Regenschirm

 

In einem Video ist zu sehen, wie die Polizei in der US-amerikanischen Stadt Philadelphia am 1. Juni 2020 wiederholt Tränengassalven auf Dutzende Demonstrierende abfeuerte, die auf einer steilen Straßenböschung ohne sicheren Fluchtweg eingeschlossen waren.

Ärzt_innen in Omdurman vor den Toren der sudanesischen Hauptstadt Khartum berichteten Amnesty International, dass Sicherheitskräfte und Soldat_innen im vergangenen Jahr die Intensivstation eines Krankenhauses mit gesundheitsschädlichem Gas gestürmt hätten. Dabei wurden zehn Patient_innen verletzt. In einem Bericht hieß es: "Die Soldat_innen schossen mit Tränengas und scharfer Munition im Krankenhaus. Einige von ihnen kamen auf die Intensivstation und feuerten Tränengaskanister ab, von denen glücklicherweise nur einer explodierte." Ein Tränengaskanister wurde unter das Bett eines 70-jährigen Mannes geworfen, der wegen eines Herzstillstandes in Behandlung war. Er starb zehn Minuten später.

Ein Teil des Problems mit Tränengas besteht darin, dass einige Polizeikräfte nicht genau wissen, wie und wann es rechtmäßig eingesetzt wird. Andere entscheiden sich dafür, solche Vorgaben zu ignorieren, und wieder andere setzen Tränengas als Waffe ein.

Patrick
Wilcken
Researcher für Waffenhandel, Sicherheit und Menschenrechte bei Amnesty International

Ein Video aus Venezuela zeigt, wie ein Tränengaskanister ein Loch in ein provisorisches Holzschild schlägt, mit dem sich ein Protestierender in Caracas gegen den Einsatz dieser Waffe durch die Polizei verteidigt. Der Mann hatte Glück: Nur wenige Zentimeter daneben hätte es zu einer lebensbedrohlichen Verletzung kommen können. 

Auf der Webseite finden sich auch Videointerviews mit einer Reihe externer Fachleute – von medizinischem Personal bis hin zu Sachverständigen der Polizei, Wirtschaft und Menschenrechte. Sie bezeugen, warum Tränengas bei falscher Anwendung so schädlich ist. In Übereinstimmung mit dem UN-Sonderberichterstatter über Folter betrachtet auch Amnesty International den Einsatz von Tränengas in bestimmten Situationen als Folter oder andere Form der Misshandlung.

Unzureichend regulierter Handel 

Trotz seines weit verbreiteten Missbrauchs gibt es keine klaren internationalen Regelungen für den Handel mit Tränengas und anderen Mitteln zur Bekämpfung von Unruhen. Nur wenige Staaten informieren die Öffentlichkeit über die Menge und den Bestimmungsort von Tränengasexporten, was eine unabhängige Aufsicht erschwert.

 

Tränengaskartusche, daneben ein Lineal: Die Kartusche ist mehr als 12cm lang

Tränengaskartusche, wie sie von der Polizei in Istanbul bei Protesten eingesetzt wird (Archivbild, Juni 2013)

 

Amnesty International und die Omega Research Foundation setzen sich seit mehr als zwanzig Jahren für eine stärkere Kontrolle der Produktion und des Einsatzes von Tränengas sowie des Handels mit dieser und anderen weniger tödlichen Waffen ein. Infolgedessen haben die UN und regionale Gremien wie die EU und der Europarat die Notwendigkeit erkannt, den Export von weniger tödlichen Waffen zu regulieren.

Nach diplomatischer Fürsprache auf höchster Ebene durch die mehr als 60 Staaten der Allianz für folterfreien Handel mit Unterstützung von Amnesty International und Omega prüfen die UN nun die mögliche Einsetzung internationaler Handelskontrollen für weniger tödliche Waffen und andere Güter, um deren Einsatz bei Folter, anderen Formen der Misshandlung und der Todesstrafe zu verhindern. Amnesty International und Omega drängen jetzt darauf, Tränengas und andere Mittel zur Bekämpfung von Unruhen in diese Maßnahmen einzubeziehen.

"Ein Teil des Problems mit Tränengas besteht darin, dass einige Polizeikräfte nicht genau wissen, wie und wann es rechtmäßig eingesetzt wird. Andere entscheiden sich dafür, solche Vorgaben zu ignorieren, und wieder andere setzen Tränengas als Waffe ein", sagt Patrick Wilcken, Researcher für Waffenhandel, Sicherheit und Menschenrechte bei Amnesty International. 

"Teil der Lösung muss aber auch sein, den unzureichend regulierten Welthandel mit Tränengas und anderen Mitteln zur Bekämpfung von Unruhen genauer unter die Lupe zu nehmen. Tränengas sollte durch die internationalen Kontrollen und Beschränkungen für weniger tödliche Waffen abgedeckt werden, die derzeit bei den UN diskutiert werden."

Hintergrund

Länder und Regionen, über die auf der Website berichtet wird:

Bolivien, Chile, Demokratische Republik Kongo, Frankreich, Guinea, Hongkong, Honduras, Haiti, Indien (und das von Indien verwaltete Kaschmir), Irak, Iran, Kenia, Libanon, Nigeria, Israel und palästinensische Autonomiegebiete, Sudan, Türkei, USA inklusive Grenzgebiet USA/Mexiko, Venezuela, Simbabwe

Hersteller von Tränengas und Tränengaswerfern, über die auf der Website berichtet wird::

Cavim, Condor Non-Lethal Technologies, DJI (produziert kommerzielle Drohnen, die zum Abschuss von Tränengas in Gaza eingesetzt wurden), Falken, PepperBall, The Safariland Group und Tippmann Sports LLC. Amnesty International hat alle sieben Unternehmen um eine Stellungnahme gebeten.

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