Amnesty Report Jemen 07. April 2021

Jemen 2020

Eine Schulklasse sitzt auf dem Boden eines komplett zerstörten Betongebäudes.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

In dem andauernden Konflikt im Jemen begingen alle Parteien 2020 weiterhin ungestraft Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Sowohl die von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz, die die international anerkannte Regierung des Jemen unterstützte, als auch die bewaffnete Gruppe der Huthi verübten weiterhin Angriffe, bei denen Zivilpersonen getötet oder verletzt und zivile Infrastruktur zerstört wurden. Alle Konfliktparteien griffen auf rechtswidrige Praktiken wie willkürliche Inhaftierungen, Verschwindenlassen, Schikanen, Folter und andere Misshandlungen zurück. Personen, die lediglich aufgrund ihrer politischen, religiösen oder beruflichen Zugehörigkeit oder wegen ihres friedlichen Eintretens für die Menschenrechte ins Visier geraten waren, wurden in unfairen Verfahren vor Gericht gestellt. Die Konfliktparteien behinderten die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Kraftstoff und anderen Gütern, die für das Überleben der Bevölkerung unabdingbar waren, und die bewaffnete Gruppe der Huthi schränkte die Arbeit humanitärer Hilfsorganisationen weiterhin willkürlich ein. Der Ausbruch der Corona-Pandemie stellte eine zusätzliche Belastung für das ohnehin schon geschwächte Gesundheitssystem dar. Im Vergleich zum Jahr 2016 war nur noch die Hälfte der Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen in Betrieb. Die Auswirkungen der Pandemie auf den verbliebenen Rest des Gesundheitssystems waren auch deshalb so massiv, weil die internationalen Finanzmittel für humanitäre Hilfe nur noch halb so hoch waren wie im Vorjahr. Dies verschärfte auch die Nahrungsmittelknappheit und wirkte sich negativ auf die Trinkwasser-, Sanitär- und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aus. Menschen mit Behinderungen und Arbeitsmigrant_innen waren von den geballten Auswirkungen des bewaffneten Konflikts und der Pandemie unverhältnismäßig stark betroffen. Gerichte verhängten 2020 für eine Vielzahl von Straftaten Todesurteile, und es wurden Hinrichtungen vollstreckt.

Hintergrund

Im Dezember 2020 meldete die international anerkannte Regierung, dass es in den Provinzen Hadramaut, Aden, Taiz, Lahij, Abyan, Al-Mahra, Al-Dali, Marib und Shabwah insgesamt 2.078 Fälle von Corona-Infektionen gebe. Die De-facto-Behörden der Huthi meldeten hingegen nur eine Handvoll Fälle für den Nordjemen. Der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator, schätzte im Juni, dass im ganzen Land möglicherweise bis zu 1 Mio. Menschen betroffen sein könnten. Die Sterberate in Bezug auf das Virus lag bei 25 % und war damit fünfmal so hoch wie im weltweiten Durchschnitt. Die Halbierung der internationalen Hilfszahlungen hatte nach UN-Angaben gravierende Auswirkungen auf das Personal im Gesundheitswesen, auch auf diejenigen, die an vorderster Front gegen die Pandemie kämpften. Die UN rechneten außerdem damit, dass Wasser- und Abwasserprogramme für 4 Mio. Menschen beendet werden müssten, dass 5 Mio. Kinder keine Routineimpfungen mehr erhalten würden und dass für andere allgemeine Gesundheitsprojekte und Programme gegen Unterernährung für 19 Mio. Menschen kein Geld mehr zur Verfügung stünde.

Der bewaffnete Konflikt hielt das ganze Jahr 2020 über an. Dabei nahmen die Angriffe insbesondere in den Provinzen Marib, Al-Jawf, Al-Bayda, Al-Dali, Hodeida, Abyan und Shabwah zu.

Als der UN-Generalsekretär im März 2020 zu einem sofortigen weltweiten humanitären Waffenstillstand aufrief, um Feindseligkeiten zu beenden und die Corona-Pandemie zu bekämpfen, begrüßten dies alle Konfliktparteien im Jemen mit Ausnahme der Huthi-Rebellen, die sich nicht daran beteiligen wollten. Der UN-Sondergesandte für den Jemen setzte die Verhandlungen mit den Konfliktparteien fort, und im September wurde der Entwurf einer gemeinsamen Erklärung vorgelegt, die Richtlinien für einen landesweiten Waffenstillstand, humanitäre Maßnahmen und die Einbindung der Konfliktparteien in den politischen Prozess enthielt.

Im April 2020 erklärte der von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) unterstützte sezessionistische Südliche Übergangsrat (Southern Transitional Council – STC) die "Selbstverwaltung" der von ihm kontrollierten Gebiete im Süden des Landes. Zuvor hatte der STC eine politische Vereinbarung mit der international anerkannten Regierung des Jemen aufgekündigt, die 2019 unter Vermittlung Saudi-Arabiens zustande gekommen war. Anschließend wurden die Gespräche wieder aufgenommen, bei denen der STC seine Erklärung der Selbstverwaltung zurückzog.

Am 18. Dezember wurde auf Grundlage der politischen Vereinbarung von Riad eine neue Regierung unter Leitung von Maeen Abdulmalik Saeed gebildet, an der auch der STC beteiligt war.

Die VAE kündigten an, den schrittweisen militärischen Rückzug aus dem Jemen abzuschließen. Sie versorgten jedoch weiterhin Milizen illegal mit Waffen und militärischer Ausrüstung und flogen Luftangriffe.

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

Alle Konfliktparteien begingen 2020 weiterhin ungestraft schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter Angriffe mit unterschiedslos wirkenden Waffen auf dicht besiedelte Gebiete, bei denen Zivilpersonen getötet und verletzt sowie zivile Infrastruktur zerstört und beschädigt wurden.

Die bewaffnete Gruppe der Huthi setzte Waffen mit geringer Treffsicherheit in bewohnten Gebieten ein, verminte Äcker, Brunnen und Dörfer mit international geächteten Antipersonenminen und beschoss wahllos Menschen mit Granaten, was Hunderte Opfer unter der Zivilbevölkerung zur Folge hatte. Im März trafen wahllose Angriffe der Huthi die al-Thawra-Klinik, das größte öffentliche Krankenhaus in Taiz, und im April das Zentralgefängnis der Stadt. Dabei wurden fünf Frauen und ein Kind getötet und mindestens elf weitere Zivilpersonen verletzt.

Am 30. Dezember kam es auf dem Flughafen von Aden zu einer schweren Explosion, kurz nachdem ein Flugzeug aus Riad mit der neuen Regierung an Bord gelandet war. Bei dem Anschlag wurden 26 Menschen getötet, darunter auch Mitarbeiter_innen humanitärer Organisationen. Weitere 50 Personen erlitten Verletzungen, Kabinettsmitglieder kamen aber nicht zu Schaden. Die De-facto-Behörden der Huthi bekannten sich nicht zu dem Angriff.

Die von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz flog von Juni bis August mehrere Luftangriffe im Norden, bei denen mindestens 49 Zivilpersonen getötet wurden, darunter sechs Minderjährige. Die UN-Gruppe regional und international angesehener Jemen-Experten (UN Group of Eminent International and Regional Experts on Yemen) stellte fest, dass diese Vorfälle untersucht werden müssten, da die hohe Zahl der zivilen Opfer Fragen zur Verhältnismäßigkeit der Angriffe aufwerfe. Außerdem müsse geklärt werden, ob die von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz alle notwendigen Maßnahmen ergriffen habe, um die Zivilbevölkerung zu schützen und die Zahl der zivilen Opfer gering zu halten. Im August traf ein Luftschlag ein Schulgebäude, das von den Huthi-Rebellen als Haftanstalt genutzt wurde. Bei dem Angriff wurden 134 Häftlinge getötet und 40 weitere verletzt.

Im Juli genehmigte die britische Regierung erneut Waffenexporte nach Saudi-Arabien und machte damit eine Entscheidung aus dem Jahr 2019 rückgängig. Zur Begründung hieß es, es gebe keine eindeutige Gefahr, dass die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung an Saudi-Arabien mit einem schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht in Zusammenhang gebracht werden könne.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Alle Konfliktparteien unterdrückten weiterhin die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit durch willkürliche Inhaftierungen, Verschwindenlassen, Schikanen, Folter und andere Misshandlungen sowie unfaire Gerichtsverfahren. Im Oktober meldete der UN-Sondergesandte für den Jemen die Freilassung von 1.000 Gefangenen – eine sehr niedrige Zahl angesichts dessen, dass Inhaftierungen und Verschwindenlassen eine gängige Praxis darstellten, der unzählige Menschen zum Opfer gefallen waren.

Im März verkündete Mahdi al-Mashat, der Vorsitzende des von den Huthi als Exekutivorgan eingesetzten Obersten Politischen Rats in Sana’a, man werde alle politischen Baha'i-Gefangenen freilassen. Vier Monate später kamen sechs Anhänger der Religionsgemeinschaft der Baha'i frei, darunter Hamid Haydara, der seit 2013 inhaftiert war.

Im April verurteilte der unter der Kontrolle der Huthi stehende Sonderstrafgerichtshof vier Journalisten in einem grob unfairen Prozess, der auf erfundenen Anschuldigungen beruhte, zum Tode. Im selben Monat gab das Gericht die Freilassung von sechs anderen Journalisten bekannt, darunter Salah al-Qaedi, der zu drei Jahren Hausarrest verurteilt worden war. Die zehn Journalisten hatten fünf Jahre ohne Anklage oder Gerichtsverfahren im Gefängnis verbracht.

Grausame, unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung

Die Situation in den Gefängnissen und Haftanstalten war durch überfüllte Zellen, mangelnde medizinische Versorgung und schlechte sanitäre und hygienische Verhältnisse gekennzeichnet. Die Ausbreitung des Coronavirus sorgte zusätzlich dafür, dass den Inhaftierten erhebliche gesundheitliche Risiken drohten. Die Behörden ergriffen keine Maßnahmen, um die Häftlinge zu schützen und die Ausbreitung des Virus in den Gefängnissen einzudämmen, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Masken und anderen Hygieneartikeln.

Tawfiq al-Mansouri war einer von vier Journalisten, die 2020 zum Tode verurteilt wurden. Er litt bereits unter chronischen Krankheiten wie Diabetes, Nierenversagen, Herzproblemen, Prostataentzündung und Asthma, als er sich im Juni im Todestrakt mit dem Coronavirus infizierte. Trotz seines kritischen Gesundheitszustands verweigerten ihm die De-facto-Behörden der Huthi eine lebensnotwendige medizinische Behandlung.

Alle Konfliktparteien inhaftierten und folterten weiterhin Hunderte Personen allein wegen ihrer politischen, religiösen oder beruflichen Zugehörigkeit oder wegen ihres friedlichen Einsatzes für die Menschenrechte. Dazu zählten Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen, die bereits seit 2016 von den Konfliktparteien verfolgt wurden. Inhaftierte wurden in inoffiziellen Haftanstalten und unter gefährlichen Bedingungen festgehalten. So hielt der von den VAE unterstützte STC in Aden Häftlinge in einem Wellblechgebäude und einem unterirdischen Raum im Lager Al-Jala in Haft. Wie die Organisation Mwatana for Human Rights mitteilte, wurden in dem Lager zwischen Mai 2016 und April 2020 mindestens 13 Menschen in willkürlicher Haft gehalten und 17 Personen gefoltert.

Nach Ansicht der UN-Gruppe regional und international angesehener Jemen-Experten war die international anerkannte jemenitische Regierung für Misshandlungen und in einigen Fällen Folterungen von Häftlingen im Sicherheitsgefängnis von Marib verantwortlich. Die Rede war von Schlägen, Elektroschocks, Verbrennungen an den Genitalien und angedrohter Sterilisation. Häftlinge wurden außerdem gezwungen, über Glasscherben zu kriechen.

Verweigerung humanitärer Hilfe

Die Corona-Pandemie stellte eine Belastung für das ohnehin schon geschwächte Gesundheitssystem dar. Stark reduzierte internationale Finanzmittel, eine Blockade, die Behinderung von Hilfslieferungen und Kraftstoffmangel sorgten dafür, dass die Krankenhäuser der Pandemie nicht gewachsen waren. Medizinisches Personal musste entlassen und Kliniken geschlossen werden, während sich die Infektionen in der Bevölkerung weiter ausbreiteten. Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten warnte, dass in mehreren Provinzen die Bekämpfung der Corona-Pandemie und anderer Krankheiten nicht mehr möglich sei. Dies betreffe 18 Mio. Menschen, darunter 6 Mio. Minderjährige.

Alle Konfliktparteien behinderten humanitäre Hilfe. Nach Angaben der UN waren im Jahr 2020 etwa 80 % der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe und Schutz angewiesen, weil es ihnen an medizinischer Versorgung und sauberem Wasser mangelte. 20 Mio. Menschen litten unter Nahrungsmittelknappheit.

Die Konfliktparteien verschärften die bürokratischen Hürden und mischten sich in Hilfsprojekte ein, indem sie zum Beispiel Bedarfsanalysen verhinderten. Die Eskalation der Kämpfe schränkte die Bewegungsfreiheit der Menschen weiter ein und behinderte Hilfslieferungen.

Im März 2020 hielt die US-Agentur für internationale Entwicklung (United States Agency for International Development – USAID) 73 Mio. US-Dollar von insgesamt 85 Mio. US-Dollar zurück, die sie Nichtregierungsorganisationen zugesagt hatte, die Hilfsgüter in Gebiete lieferten, die von Huthi-Rebellen kontrolliert wurden.

Im Mai blockierten die Huthi Container der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Lieferungen mit persönlicher Schutzausrüstung, die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie benötigt wurden.  

Im September warnte der UN-Sondergesandte für den Jemen davor, dass der Öltanker FSO Safer, der in der Nähe des Hafens von Hodeida vor Anker lag, explodieren oder Öl verlieren könnte. Sollten die mehr als 1 Mio. Barrel Öl ins Rote Meer fließen, würde dies zu einer ökologischen, wirtschaftlichen und humanitären Katastrophe führen. Im November verständigten sich die De-facto-Behörden der Huthi und die UN darauf, dass ein Expertenteam der UN Zugang bekommen soll, um den Tanker zu untersuchen. Das Team wurde für Mitte Februar 2021 vor Ort erwartet.

Diskriminierung

Diskriminierung gegen Menschen mit Behinderungen

Menschen mit Behinderungen erfuhren 2020 weiterhin Ausgrenzung, Ungleichheit und Gewalt, weil weder die jemenitischen Behörden noch die humanitären Hilfsorganisationen und Geberstaaten in der Lage waren, die Rechte dieser Bevölkerungsgruppe zu wahren und angemessen auf deren Bedürfnisse zu reagieren.  

Der bewaffnete Konflikt sorgte dafür, dass Menschen mit Behinderungen weiter verarmten und die begrenzte soziale Absicherung, die sie zuvor erhalten hatten, komplett verloren. Zudem mangelte es ihnen an Informationen darüber, wie sie sich vor einer Corona-Infektion schützen konnten. Es wurden jedoch keine Daten erhoben, um das Ausmaß der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu erfassen.

Diskriminierung gegen Migrant_innen

Die Corona-Pandemie verschlimmerte die Situation von Migrant_innen, die bereits zuvor unter anhaltender Diskriminierung, Stigmatisierung, Abschiebungen, sexualisierter Gewalt und anderen Misshandlungen gelitten hatten.

Die Huthi-Rebellen hielten Migrant_innen unter schlechten Bedingungen in Haft und verweigerten ihnen Schutz und Zugang zu Asylverfahren. Als sich die Pandemie ausbreitete, schoben die De-facto-Behörden der Huthi Tausende äthiopische Migrant_innen nach Saudi-Arabien ab, wo sie unter lebensbedrohlichen Bedingungen festgehalten wurden, bevor man sie in ihr Herkunftsland zurückschickte.

Todesstrafe

Die Todesstrafe war 2020 weiterhin in Kraft und wurde für viele Straftaten verhängt. Die Behörden griffen nach wie vor darauf zurück, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Alle Konfliktparteien vollstreckten Exekutionen. Der von den Huthi kontrollierte Sonderstrafgerichtshof verurteilte Personen in Abwesenheit wegen Hochverrats zum Tode.

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