Amnesty Report 24. April 2024

Amnesty-Jahresbericht 2023/24: Gewalt, Hass und Doppelstandards bedrohen die Menschenrechte

Das Foto zeigt dutzende Polizeikräfte mit Helmen und Schilden, die eng aneinander stehen. Aus der vorderen Reihe wird Tränengas auf einen Demonstranten gesprüht, der wegläuft. Das Foto entstand nachts.

Polizeikräfte setzen in der georgischen Hauptstadt Tiflis Tränengas ein gegen Demonstrierende, die gegen die Einführung eines Gesetzes demonstrieren, das unter anderem die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen erschweren würde (7. März 2023).

Ob in bewaffneten Konflikten oder bei der Unterdrückung unliebsamer Stimmen – eine weit verbreitete Missachtung der universellen Menschenrechte setzt die Zivilgesellschaft und die internationale Rechtsordnung unter Druck. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International im neuen Jahresbericht zur Lage der Menschenrechte weltweit.

Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind weltweit so bedroht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Zahlreiche Regierungen beschädigen mit Verstößen gegen das Völkerrecht und durch die Missachtung grundlegender Rechte die internationale Ordnung. Sie stellen die Universalität der Menschenrechte infrage, während Kriege und Konflikte, wachsende soziale Ungleichheit und die sich zuspitzende Klimakrise den Schutz der Rechte aller Menschen erfordern. Zu diesem Schluss kommt Amnesty International im neuen Jahresbericht 2023/24 zur weltweiten Lage der Menschenrechte. Dieser dokumentiert die Menschenrechtslage in 155 Ländern.

Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, sagt: "Wir verurteilen, dass weltweit nationalistische, rassistische und frauenfeindliche Kräfte an Zuspruch gewinnen, denn sie greifen die Idee gleicher Würde und gleicher Rechte aller Menschen in Wort und Tat an. Im Umgang mit bewaffneten Konflikten dominieren Doppelstandards. Das beschädigt die internationalen Menschenrechtsstandards, die die Staaten nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges errichtet hatten. Dafür trägt auch die Bundesregierung eine Mitverantwortung."

Zivilist*innen sind in vielen Konflikten ohne Schutz

Der Amnesty Report dokumentiert diese Entwicklungen in verschiedenen Bereichen. So sind Zivilist*innen bewaffneten Konflikten zunehmend schutzlos ausgeliefert, weil Regierungen, Sicherheitskräfte und bewaffnete Gruppen das Völkerrecht mit Füßen treten. Das zeigte sich auch 2023 im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Russische Streitkräfte griffen dicht besiedelte zivile Gebiete und die Infrastruktur für Energiegewinnung und Getreideexport an. Amnesty dokumentiert zudem den Einsatz von Folter und anderen Misshandlungen gegen Kriegsgefangene.

Das Bild zeigt zwei Menschen inmitten von Schutt, vor ihnen steht ein komplett zerstörtes Auto

Zwei Menschen verlassen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew mit wenigen Habseligkeiten ein Wohngebäude, das durch einen russischen Raketenangriff zerstört wurde (Archivaufnahme vom 2. Januar 2023).

Im Sudan stellt Amnesty fest, dass beide Konfliktparteien 2023 gezielte und wahllose Angriffe verübten, die zahlreiche Zivilpersonen verletzten und töteten. Heute gibt es im Sudan mehr als acht Millionen Binnenvertriebene – so viele wie in keinem anderen Land der Welt.

Ein weiteres Beispiel ist der bewaffnete Konflikt zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen. Die Hamas und andere bewaffnete Gruppen haben mit ihrem brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 Kriegsverbrechen begangen. Der danach begonnene Militäreinsatz der israelischen Streitkräfte geht ebenfalls mit zahlreichen Kriegsverbrechen und Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht einher, wie Amnesty in einer Reihe untersuchter Fälle dokumentiert hat. Amnesty International fordert daher alle Staaten, darunter auch die Bundesregierung, dazu auf, keine Waffen an Israel oder andere Beteiligte in dem Konflikt zu liefern, bei denen die Gefahr besteht, dass damit Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Sie müsssen sich für die Freilassung der Geiseln und einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand einsetzen.

Duchrow sagt: "Angesichts der düsteren globalen Lage müssen Regierungen die internationalen Institutionen, die zum Schutz der Menschenrechte errichtet wurden, stärken und erneuern. Eine Reform des UN-Sicherheitsrats ist überfällig. Die ständigen Mitglieder dürfen ihr Vetorecht nicht dazu einsetzen, den Schutz von Zivilpersonen zu verhindern."

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Geschlechtergerechtigkeit umkämpft, Aktivist*innen verfolgt

In vielen Staaten gab es 2023 Rückschläge im Kampf für Geschlechtergerechtigkeit. In den USA haben es Frauen immer schwerer, eine Schwangerschaft abzubrechen. In Afghanistan wurde für Mädchen der Schulbesuch weiter eingeschränkt. Im Iran gehen die Behörden mit zunehmender Härte gegen Frauen vor, die sich der Zwangsverschleierung widersetzen.

Zahlreiche Regierungen schränkten außerdem die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) ein. So wurde in Uganda die Todesstrafe für den neuen Straftatbestand der "schweren Homosexualität" eingeführt. In 62 Ländern gibt es weiterhin Gesetze, die gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen kriminalisieren.

Auch Menschenrechtsverteidiger*innen sind weltweit Angriffen ausgesetzt. Betroffen sind insbesondere Gewerkschafter*innen, Umweltaktivist*innen und indigene Gruppen. Dazu zählt etwa die kolumbianische Organisation Umweltschutzorganisation FEDEPESAN, die Amnesty International in Deutschland in diesem Jahr mit dem Menschenrechtspreis auszeichnet.

Das Bild zeigt mehrere Menschen, die am Ufer eines Flusses stehen

Gemeinsam für mehr Umweltschutz in Kolumbien: Yuly Velásquez, Präsidentin des Fischereiverbandes FEDEPESAN (Mitte unten), sowie weitere Mitglieder von FEDEPESAN und anderen Menschenrechtsorganisationen.

Unregulierte Technologien schüren Hass und Diskriminierung

Der Jahresbericht weist auch darauf hin, dass der Einsatz von Überwachungstechnologien mit Diskriminierung und Unterdrückung einhergeht. Staaten wie Argentinien, Brasilien, Indien und Großbritannien setzen zunehmend auf Gesichtserkennung, um öffentliche Proteste und Sportveranstaltungen zu überwachen. Sie gehen damit außerdem auf diskriminierende Weise gegen marginalisierte Gruppen – insbesondere Migrant*innen und Flüchtlinge – vor.

Lena Rohrbach, Expertin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter bei Amnesty International in Deutschland, sagt: "Diese Technologien leisten Diskriminierung, Rassismus und der unverhältnismäßigen und damit rechtswidrigen Überwachung Vorschub. Gleichzeitig bleibt Spionagesoftware weltweit weitgehend unreguliert, obwohl es seit Langem Beweise für die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen gibt."

Im Jahr 2023 dokumentierte Amnesty International den Einsatz der Spionagesoftware Pegasus gegen Journalist*innen und zivilgesellschaftlich engagierte Personen in Armenien, Indien, Serbien und der Dominikanischen Republik. Gleichzeitig wurde die europäische Spionagesoftware Predator in die ganze Welt verkauft und auch gegen Ziele in Deutschland eingesetzt, wie die "Predator Files" belegen.

Auch die Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI) bleibt weit hinter dem rasanten Fortschritt dieser Technologien zurück. Die im Februar 2024 in Kraft getretene KI-Verordnung der EU weist Lücken auf. Rohrbach sagt: "Regierungen müssen die durch KI-Technologien verursachten Risiken gesetzlich eindämmen und Tech-Giganten in ihre Schranken weisen. In einem Superwahljahr wie diesem drohen diese Technologien Diskriminierung und gesellschaftliche Spaltung zu verschärfen." 

Das Bild zeigt die Illustration eines Smartphones auf blauem Hintergrund, davor ein Logo mit dem Aufschrift "Predator Files"

Mit der Überwachungssoftware Predator wurden Journalist*innen, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Vertreter*innen von internationalen Institutionen überwacht.

Negativ-Entwicklungen auch in Deutschland

Auch in Deutschland verzeichnet Amnesty menschenrechtsfeindliche Entwicklungen für 2023. Übergriffe und politisch motivierte Straftaten, darunter insbesondere Gewaltdelikte, Beleidigungen und Angriffe auf Schutzsuchende und Flüchtlingsunterkünfte, nahmen 2023 weiter zu. Verschiedene Organisationen berichteten von einem starken Anstieg antisemitischer und rassistischer Gewalt. Duchrow sagt: "Deutschland erkennt strukturellen Rassismus nicht ausreichend an und tut zu wenig, um Menschen vor Hasskriminalität zu schützen."

Polizei und Behörden haben außerdem 2023 friedliche Proteste eingeschränkt und verboten. So wurden Aktivist*innen der Letzten Generation mit Hausdurchsuchungen, mehrwöchigem Präventivgewahrsam und Ermittlungen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung überzogen. Pauschale Verbote ergingen für Versammlungen, die sich solidarisch mit Palästinenser*innen zeigen wollten. "Dieses Vorgehen stellt einen Angriff auf das Recht auf friedlichen Protest und die Zivilgesellschaft dar", so Duchrow. 

Das Bild zeigt ein Protestschild auf dem steht: "Klimaschutz ist kein Verbrechen"

Demonstration am 25. Mai 2023 in München gegen die Kriminalisierung von Klimaaktivist*innen der Letzten Generation

Handlungsauftrag für Menschenrechtsschutz

Amnesty International fordert angesichts der weltweiten Rückschritte beim Menschenrechtsschutz den Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft. Zivilist*innen in Konflikten müssen besser geschützt werden. Schutzsuchende müssen Zuflucht erhalten, Gewalt gegen Frauen, LGBTI+ und andere marginalisierte Gruppen muss bekämpft werden. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gilt es zu stärken sowie Menschenrechtsverteidiger*innen zu schützen und dem Einsatz von Überwachungstechnologien enge Grenzen zu setzen.

Posting von Amnesty-Generalsekretärin Julia Duchrow auf X (ehemals Twitter):

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