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Vorwort zum Amnesty International Report 2023/24
Frauen demonstrieren am 29. April 2023 in der afghanischen Hauptstadt Kabul für ihre Rechte und gegen die Unterdrückung durch die Taliban.
© AFP via Getty Images
Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich einmal bei der Betrachtung der Lage der Menschenrechte an den Science-Fiction-Film Zurück in die Zukunft aus den 1980er-Jahren erinnert fühlen würde. Doch nun ist es so weit: Ähnlich wie in diesem Film hat die Welt eine Zeitreise gemacht. Es fühlt sich so an, als wären wir in einer Zeit vor 1948, einer Zeit also, in der es noch keine allgemeingültig verbrieften Menschenrechte gab. Gleichzeitig bewegen wir uns immer schneller auf eine Zukunft hin, die von Tech-Giganten und unregulierter künstlicher Intelligenz (KI) beherrscht wird.
Autoritäre Praktiken auf dem Vormarsch
Im Jahr 2023 stellte das politikwissenschaftliche Forschungsinstitut V-Dem fest, dass die Zahl der Menschen, die in Demokratien leben (hier definiert als Länder, in denen Rechtsstaatlichkeit herrscht, die Exekutive von Legislative und Judikative begrenzt wird und die bürgerlichen Freiheiten geachtet werden), auf den Stand von 1985 gesunken ist. Das ist die Zeit vor der Entlassung Nelson Mandelas aus dem Gefängnis, vor dem Fall der Berliner Mauer, vor dem Ende des Kalten Krieges und vor all den damit verbundenen Hoffnungen auf eine neue Ära für die Menschheit.
Diese neue Ära war flüchtig. Im Jahr 2023 häuften sich andere, entgegengesetzte Anzeichen. Autoritäres Denken und Handeln griffen auf Regierungs- und Gesellschaftsebene um sich. In zahlreichen Ländern des Nordens, Südens, Ostens und Westens untergruben autoritäre Maßnahmen die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, die Geschlechtergleichstellung und die sexuellen und reproduktiven Rechte.
Den Begleitton lieferte dabei ein öffentlicher Diskurs, der Hass und Angst schürte und dazu führte, dass der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft eingeschränkt wurde. Sowohl Einzelpersonen als auch ganze Bevölkerungsgruppen am Rande der Gesellschaft wurden dämonisiert. Flüchtlinge, Migrant*innen und rassifizierte Gruppen waren besonders betroffen.
Die Rechte von Frauen kamen im Jahr 2023 immer stärker unter Beschuss. Bemühungen zur Geschlechtergleichstellung blieben vielerorts ohne Erfolg. Viele der Fortschritte der vergangenen 20 Jahre drohten zunichte gemacht zu werden.
In Afghanistan ist es derzeit eine Strafe, eine Frau oder ein Mädchen zu sein. Im Jahr 2023 erließen die Taliban zahlreiche Gesetze, die darauf abzielten, Frauen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Im Iran führten die Behörden ihre brutale Unterdrückung der Bewegung "Frau, Leben, Freiheit" fort und gaben offizielle Stellungnahmen ab, in denen sie die Nichtverschleierung von Frauen hasserfüllt als "Virus", "gesellschaftliche Krankheit" und "Störung" bezeichneten.
Protest in Tallahassee im US-Bundesstaat Florida gegen das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen (3.April 2023)
© Octavio Jones via Getty images
In den USA verboten 15 Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche ganz oder ließen sie nur in absoluten Ausnahmefällen zu. Schwarze und andere rassifizierte Personengruppen waren davon unverhältnismäßig stark betroffen. In Polen starb mindestens eine Frau, weil sie aufgrund der Gesetzeslage keinen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen konnte. Uganda verabschiedete ein strenges homofeindliches Gesetz, während in den USA einflussreiche Personen aus Gesellschaft und Politik transfeindliche Diskurse anheizten oder entsprechende Maßnahmen und Regelungen beschlossen.
Obwohl die Welt noch nie so reich war wie heute, gilt 2023 in den Worten der Weltbank als "das Jahr der Ungleichheit". In unterschiedlichen Ländern wie Großbritannien, Ungarn und Indien wurden Menschen, die sich für wirtschaftliche und soziale Rechte einsetzten, unverhältnismäßig stark ins Visier genommen. Klimaschützer*innen wurden als "Terrorist*innen" gebrandmarkt, wenn sie Regierungsmaßnahmen zum Ausbau fossiler Brennstoffe kritisierten. Im Nahen Osten gingen Regierungen gegen Kritiker*innen der Wirtschaftspolitik vor und nahmen sie willkürlich in Gewahrsam; dasselbe Schicksal ereilte Gewerkschaftsmitglieder im asiatisch-pazifischen Raum ebenso wie jene, die in Westafrika gegen Korruption kämpften.
Zurück in die Zeit vor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte?
Unsere metaphorische Zeitmaschine brachte uns allerdings nicht nur ins Jahr 1985. Sie versetzte uns auch zurück in eine Hölle, deren Tore 1948 verriegelt worden waren. "Nie wieder" schwor sich die Welt nach einem Weltkrieg mit rund 55 Millionen zivilen Todesopfern und den Gräueln des Holocaust, bei dem sechs Millionen Jüd*innen und Millionen andere Menschen ausgelöscht worden waren.
Und dennoch wurden die ethischen und rechtlichen Grundfesten des "Nie wieder" im Jahr 2023 erschüttert. Am 7. Oktober 2023 beging die Hamas schreckliche Verbrechen, bei denen mehr als 1.000 Menschen, zumeist israelische Zivilpersonen, getötet, Tausende verwundet und etwa 245 Menschen als Geiseln oder Gefangene genommen wurden. Anschließend antwortete Israel mit Vergeltungsmaßnahmen, die einer Kollektivbestrafung gleichkamen. Zivilpersonen und zivile Infrastruktur wurden vorsätzlich und unterschiedslos beschossen, humanitäre Hilfe verweigert. Die folgende Hungersnot war vorhersehbar.
Bis Ende 2023 hatte der unaufhörliche Beschuss des Gazastreifens zum Tod von mehr als 21.600 Palästinenser*innen geführt, die meisten von ihnen Zivilpersonen. Tausende Menschen wurden vermisst und man geht davon aus, dass sie unter den Trümmern begraben liegen. Ein Großteil der zivilen Infrastruktur wurde dem Erdboden gleichgemacht, während fast 1,9 Millionen Palästinenser*innen als Binnenvertriebene keinen Zugang zu ausreichend Nahrung, Wasser, Unterkünften, sanitären Einrichtungen und Gesundheitsversorgung hatten.
Für Palästinenser*innen im Gazastreifen ist die Situation heute sogar schlimmer als die "Nakba" im Jahr 1948. Damals wurden mindestens 750.000 Palästinenser*innen aus ihrer Heimat vertrieben.
Für Menschen auf der ganzen Welt symbolisieren die Ereignisse im Gazastreifen ein Versagen der Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Einhaltung des Universalitätsprinzips und die Achtung unserer gemeinsamen Menschlichkeit sorgen und das Versprechen "Nie wieder" durchsetzen sollten. Stattdessen werden die in der UN-Charta, den Genfer Abkommen, der Völkermordkonvention und den internationalen Menschenrechtsnormen verankerten Grundsätze nun mit Füßen getreten. Am deutlichsten wurde das zuletzt im Fall der israelischen Behörden. Doch auch die USA spielten eine führende Rolle, außerdem einige europäische Staats- und Regierungschef*innen und die Führungsriege der EU. Und ebenso jene, die weiterhin Waffen an Israel liefern, die Israels fortdauernde Menschenrechtsverletzungen nicht verurteilen, und die Forderungen nach einem Waffenstillstand ablehnen.
Ihr Verhalten verdeutlicht eine Doppelmoral, die Amnesty International seit vielen Jahren anprangert. Nun sind mächtige Akteure noch weiter gegangen und haben gezeigt, dass sie die gesamte regelbasierte internationale Ordnung von 1948 in Frage stellen. Denn sie haben die Grundprinzipien der gemeinsamen Menschlichkeit und Universalität ausgehöhlt und damit unsere globale Fähigkeit zunichte gemacht, das Schlimmste zu verhindern.
Hinzu kommt die groß angelegte Militärinvasion Russlands in die Ukraine. Sie verstößt gegen die UN-Charta und untergräbt die internationale Rechtsordnung. Russische Truppen greifen gezielt die ukrainische Zivilbevölkerung an. Dabei haben sie bereits Tausende Menschen getötet und die zivile Infrastruktur weitgehend zerstört, darunter auch Getreidespeicher und -exportanlagen.
Auch China, ein weiteres ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, verstößt gegen das Völkerrecht. China unterstützt das myanmarische Militär und dessen rechtswidrige Luftangriffe. Im eigenen Land nimmt die chinesische Regierung Menschen fest und foltert sie. Außerdem entzieht sich das Land der internationalen Kontrolle, wenn es um seine anhaltenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, beispielsweise gegen die uigurische Minderheit.
Die Zukunft, die wir nicht wollen
Im Jahr 2023 katapultierten uns außerdem ChatGPT-4 und andere generative KI-Technologien, die früher als erwartet eingeführt wurden, mit Überschallgeschwindigkeit in die Zukunft. Die im vergangenen Jahr begangenen Verstöße durch Tech-Giganten lassen auch für kommende Zeiten nichts Gutes erahnen.
Bestimmte Technologien höhlen unsere Rechte aus, indem sie rassistischer Politik Vorschub leisten, die Verbreitung von Falschinformationen ermöglichen oder die Meinungsfreiheit beschneiden. Große Technologiekonzerne haben diese Gefahren bislang ignoriert oder heruntergespielt, selbst wenn sie im Kontext bewaffneter Konflikte auftraten wie in Äthiopien, Myanmar, Sudan, Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Die alarmierende Verbreitung von Hetze im Internet und anderen schädlichen Inhalten gegen palästinensische und jüdische Gemeinschaften führte auch in Europa und den USA zu einem deutlichen Anstieg muslimfeindlicher und antisemitischer Hassverbrechen.
Zahlreiche Staaten setzten 2023 im Bereich der Polizeiarbeit vermehrt auf Gesichtserkennungstechnologien. Diese kamen zum Einsatz auf öffentlichen Protestkundgebungen, bei Sportveranstaltungen oder gegen ausgegrenzte Gemeinschaften, insbesondere Migrant*innen und Flüchtlinge. Zur Durchsetzung von Migrationspolitik und Grenzkontrolle wurden vielerorts Technologien eingesetzt, die große Risiken für die Menschenrechte bargen, wie Anwendungen zur Überwachung der Grenzen, Software zur Datenanalyse, Biometrie-Tools und algorithmische Entscheidungssysteme.
Spionagesoftware war nach wie vor nicht wirksam reguliert, obwohl seit vielen Jahren damit belegbare Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Im Jahr 2023 dokumentierte Amnesty International den Einsatz der Spionagesoftware Pegasus gegen Journalist*innen und Personen der Zivilgesellschaft in Armenien, Indien, Serbien und der Dominikanischen Republik. Gleichzeitig wurde Spionagesoftware aus der EU in die ganze Welt verkauft. Als Reaktion darauf nahm das Europäische Parlament im November 2023 eine Resolution an, in der unzureichende Bemühungen zur Unterbindung von Menschenrechtsverstößen durch die Spyware-Industrie kritisiert wurden.
Dennoch ist im Wahljahr 2024 mit zunehmenden Menschenrechtsverstößen durch die Tech-Giganten und ihre unregulierten Technologien zu rechnen. Es wird bei Weitem nicht genug unternommen, um deren Wildwest-Mentalität in die Schranken zu weisen. Unsere digitale Zukunft wirft somit bereits Schatten voraus.
Globale Solidarität
Die Rückschritte bei den Menschenrechten blieben im Jahr 2023 allerdings nicht unbemerkt – im Gegenteil. Menschen auf der ganzen Welt haben diese Rückschritte lautstark angeprangert und damit globale Solidarität im großen Stil bewiesen.
Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas führte rund um den Globus zu Hunderten von Protestveranstaltungen, auf denen Millionen Menschen gegen die Tötung von Zivilpersonen demonstrierten und die Freilassung der Geiseln sowie einen Waffenstillstand forderten. Der UN-Generalsekretär, führende Vertreter*innen von UN-Agenturen sowie humanitäre Organisationen sprachen sich sehr deutlich gegen Kriegsverbrechen im Süden Israels und im Gazastreifen aus; und sie forderten Israel auf, das Völkerrecht zu respektieren.
Als die UN-Generalversammlung Ende 2023 über Resolutionen für einen Waffenstillstand abstimmte, wurden diese mit großer Mehrheit angenommen. Südafrika zog vor den Internationalen Gerichtshof, um auf die Einhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung zu pochen und Israel wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Völkermordkonvention von 1948 zur Rechenschaft zu ziehen.
Auch die Bewegung für eine gerechtere globale Besteuerung nahm 2023 an Fahrt auf. Ihr Ziel ist es, Steuerhinterziehung und -vermeidung zu beenden und Ressourcen für einkommensschwächere Länder zu erzeugen. Im November nahm die UN-Generalversammlung gegen den Widerstand der reicheren Länder eine Resolution an, die von der Gruppe der Afrikanischen Staaten eingebracht worden war. Auf dieser Grundlage wurde ein internationaler Ausschuss eingerichtet, um bis Juni 2025 eine UN-Steuerkonvention auszuarbeiten.
Es gab im Jahr 2023 zahlreiche Menschen, die sich all jenen entgegenstellten, die das Rad der Zeit auf 1985 oder gar vor 1948 zurückdrehen wollten. Menschen, die auf die Straße gingen und gegen eine Zukunft demonstrierten, die wir uns so nicht wünschen. Trotz aller Widrigkeiten haben auch sie das Jahr 2023 mitgestaltet.
Meine Hoffnung ist, dass Diplomat*innen und Aktivist*innen im Jahr 2048 – oder gar 3048 – auf 2023 zurückblicken und zu einem Schluss kommen werden: Dass es damals unzählige Menschen auf der ganzen Welt gab, die alles daran gesetzt haben, sich gegen das Unrecht zu stellen und für unsere gemeinsame Menschlichkeit und die Menschenrechte einzustehen.
Demonstration mehrerer Nichtregierungsorganisationen in Paris für einen Waffenstillstand im Israel/Palästina-Konflikt (18. Dezember 2023)
© Benjamin Girette