Amnesty Report Venezuela 28. März 2023

Venezuela 2022

Menschen in einer engen Gasse, in der Mitte wird ein Sarg getragen.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Die Wahrnehmung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte war in Venezuela auch 2022 auf besorgniserregende Weise eingeschränkt. Der Großteil der Bevölkerung litt unter starker Ernährungsunsicherheit und hatte keinen Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung. Viele verschiedene Bevölkerungsgruppen gingen auf die Straße, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte sowie das Recht auf Wasser einzufordern. Die Sicherheitskräfte begegneten diesen Protesten mit exzessiver Gewalt und anderen Repressalien. Außergerichtliche Hinrichtungen durch die Sicherheitskräfte blieben weiterhin straffrei. Angehörige der Geheimdienste und anderer Sicherheitsbehörden gingen auch 2022 mit willkürlichen Inhaftierungen sowie Folter und anderen Misshandlungen gegen vermeintliche Regierungsgegner*innen vor. Dabei konnten sie auf Rückendeckung durch das Justizsystem zählen. Eine UN-Ermittlungsmission fand Nachweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und forderte Untersuchungen gegen einige Regierungsbedienstete. Die Haftbedingungen waren nach wie vor sehr schlecht: Die Gefängnisse waren häufig überfüllt, und Menschen wurden in inoffiziellen Hafteinrichtungen festgehalten. Zudem hatten Inhaftierte nur unzureichenden Zugang zu Grundrechten, wie den Rechten auf Wasser und Nahrung. Zwar wurden einige Justizreformen verabschiedet, doch hatten Opfer von Menschenrechtsverletzungen weiterhin Schwierigkeiten, ihr Recht auf Wahrheit und Wiedergutmachung durchzusetzen. Zwischen 240 und 310 Menschen befanden sich nach wie vor aus politischen Gründen in Haft. Die Behörden nahmen mit repressiven Maßnahmen Journalist*innen, unabhängige Medien und Menschenrechtler*innen ins Visier. In der strategischen Entwicklungszone Arco Minero del Orinoco waren die Rechte der indigenen Bevölkerung weiterhin durch illegale Bergbauaktivitäten und Gewalt bedroht. Schwangerschaftsabbrüche waren immer noch unter fast allen Umständen verboten, und Gewalt gegen Frauen war trotz bestehender Gesetze nach wie vor an der Tagesordnung. Es gab keine Fortschritte beim Schutz der Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+). Ende 2022 waren mehr als 7,1 Millionen Menschen aus Venezuela geflohen.

Hintergrund

Justizreformen, die 2021 und 2022 umgesetzt wurden, trugen nicht zur Verbesserung der Rechtsprechung bei.

Aufgrund der Hyperinflation waren Güter des täglichen Bedarfs kaum noch erschwinglich, was für den Großteil der Bevölkerung eine schwere humanitäre Krise bedeutete, insbesondere für Menschen außerhalb der Hauptstadt Caracas.

Die Behörden gingen auch 2022 mit willkürlichen Inspektionen und Verwaltungsstrafen gegen Unternehmen und Geschäfte vor, mit dem Ziel, die Privatwirtschaft zu kontrollieren.

Die Regierung und die Opposition führten ihre Verhandlungen über künftige Wahlen fort, erzielten jedoch keine Einigung.

Venezuela nahm die diplomatischen Beziehungen mit Kolumbien wieder auf, und die beiden Länder kündigten an, die gemeinsame Grenze schrittweise wieder öffnen zu wollen.

Das Mandat der UN-Ermittlungsmission zu Venezuela wurde um weitere zwei Jahre verlängert, und die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) beantragte beim IStGH, die Ermittlungen zu möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Venezuela wieder aufzunehmen.

Unterdrückung Andersdenkender

Die Regierung setzte die Unterdrückung kritischer Stimmen auch 2022 fort. Tatsächliche und vermeintliche Regierungskritiker*innen gerieten immer wieder ins Fadenkreuz und mussten mit willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen rechnen. Mehrere Tausend Menschen waren aufgrund laufender oder vergangener politisch motivierter Gerichtsverfahren in ihrer Freiheit eingeschränkt.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Es kam 2022 zu weniger Massendemonstrationen für bürgerliche und politische Rechte als in den vergangenen Jahren. Die Behörden setzten daher auf gezieltere, jedoch nicht weniger systematische, Repressalien. So wurde beispielsweise das Justizsystem instrumentalisiert, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen und Menschenrechtler*innen zu kriminalisieren.

Nach Angaben der venezolanischen NGO Observatorio Venezolano de Conflictividad Social fanden 2022 landesweit 7.032 Protestveranstaltungen statt. Auf 77 Prozent dieser Veranstaltungen wurden wirtschaftliche und soziale Rechte eingefordert. Die Behörden reagierten auf diese Demonstrationen häufig mit unverhältnismäßiger Gewalt und willkürlichen Inhaftierungen. So wurden im Juni sechs Aktivisten willkürlich inhaftiert, als sie in Caracas an einer Gedenkveranstaltung für Neomar Lander teilnahmen, der 2017 auf einer Demonstration getötet worden war.

Die venezolanische NGO Espacio Público verzeichnete von Januar bis August 2022 insgesamt 228 Angriffe auf die Meinungsfreiheit von Journalist*innen in Form von Zensurmaßnahmen, verbalen Attacken und Einschüchterungen. Bis Dezember 2022 hatte die Regulierungsbehörde für Telekommunikation (Comisión Nacional de Telecomunicaciones) insgesamt 78 Radiosendern den Betrieb untersagt. Die Schließung der Büros wurde auch mithilfe der Polizei und des Militärs durchgesetzt.

Das Telekommunikationsunternehmen Telefónica räumte ein, auf Antrag der Regierung und ohne gerichtliche Anordnung mehrere Websites blockiert und Telefonleitungen angezapft zu haben.

Laut Angaben von Espacio Público wurde der Direktor des Lokalradiosenders Frontera 92.5 FM, José Urbina, in dem an Kolumbien grenzenden Bundesstaat Apure getötet. Für die Tat wurden bewaffnete Gruppen verantwortlich gemacht. José Urbina hatte berichtet, Morddrohungen erhalten zu haben, nachdem er auf mutmaßliche Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige der Nationalgarde (Guardia Nacional Bolivariana de Venezuela) in der Gegend aufmerksam gemacht hatte.

Außergerichtliche Hinrichtungen

Die UN-Ermittlungsmission zu Venezuela veröffentlichte im September 2022 einen Bericht, in dem angeprangert wurde, dass im Rahmen von Sicherheitseinsätzen in einkommensschwachen innerstädtischen Vierteln gemäß einem bereits gut dokumentierten Muster nach wie vor außergerichtliche Hinrichtungen durchgeführt wurden.

Laut Angaben der Menschenrechtsorganisation COFAVIC waren Sicherheitskräfte von Januar bis September 2022 für 488 mutmaßliche außergerichtliche Hinrichtungen in verschiedenen Landesteilen verantwortlich. Zur Rechenschaft gezogen wurde jedoch niemand.

Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte berichtete im Juni 2022, dass die Sondereinsatzkräfte der venezolanischen Polizei (Fuerzas de Acciones Especiales de la Policía Nacional Bolivariana – FAES) von den Behörden aufgelöst worden seien. Diese Spezialeinheit war in der Vergangenheit mit Hunderten mutmaßlichen außergerichtlichen Hinrichtungen in Verbindung gebracht worden. Die Regierung gab jedoch keine entsprechende öffentliche Stellungnahme ab, und zivilgesellschaftliche Organisationen berichteten weiterhin über FAES-Angehörige im Einsatz.

Verschwindenlassen, willkürliche Inhaftierung und Folter

Willkürliche Inhaftierungen waren auch 2022 gängige Praxis. Die Inhaftierten wurden häufig gefoltert oder anderweitig misshandelt. Zudem ließen die Behörden die Betroffenen als Teil dieses rechtswidrigen Vorgehens in einigen Fällen kurzzeitig verschwinden.

Mehrere örtliche NGOs berichteten, dass von Januar bis November 2022 zwischen 240 und 310 Personen aus politischen Gründen willkürlich inhaftiert waren.

Anfang Juli 2022 wurden die Aktivisten Néstor Astudillo, Reynaldo Cortés, Alcides Bracho, Alonso Meléndez und Emilio Negrín von der gewerkschaftsnahen Oppositionspartei Bandera Roja sowie der Aktivist Gabriel Blanco 72 Stunden lang willkürlich und unter Verletzung ihrer Verfahrensrechte in Haft gehalten. Für ihre Festnahmen lagen keine richterlichen Anordnungen vor, was einem Muster entspricht, das die UN-Ermittlungsmission zu Venezuela bereits in der Vergangenheit für derartige Menschenrechtsverletzungen in Venezuela dokumentiert hatte.

Ebenfalls im Juli nahmen Angehörige des venezolanischen Geheimdiensts SEBIN Ángel Castillo willkürlich in Haft. Er gehört der kommunistischen Partei Partido Comunista de Venezuela an, die nicht mit der Regierungspolitik einverstanden ist, und nahm zum Zeitpunkt der Festnahme an einer Protestveranstaltung für Arbeitsrechte teil. Ángel Castillo wurde noch am selben Tag wieder freigelassen.

Laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Foro Penal nahmen die Behörden von Januar bis Juli 2022 insgesamt 23 Personen willkürlich in Haft.

Im August 2022 wurde Emirlendris Benítez, die sich seit 2018 aus politischen Gründen willkürlich in Haft befand und an mehreren Erkrankungen litt, zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Urteil wurde nicht öffentlich gemacht, weshalb ihr Rechtsbeistand keine Rechtsmittel einlegen konnte. Die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen hatte zuvor ihre umgehende Freilassung gefordert.

Im September 2022 kam die UN-Ermittlungsmission zu Venezuela zu dem Ergebnis, dass der Militärgeheimdienst DGCIM und der Geheimdienst SEBIN auf die gleiche Weise wie zuvor operierten und beide Behörden weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie Folter und andere Misshandlungen nach dem Muster verübten, das bereits für die Vergangenheit dokumentiert worden war. Die Ermittlungsmission identifizierte auch eine Gruppe Geheimdienstangehöriger, die für willkürliche Inhaftierungen sowie Folter und andere Misshandlungen verantwortlich waren und aufgrund der Befehlskette direkt mit der Regierung von Nicolás Maduro in Verbindung gebracht werden konnten. Sie forderte eine Untersuchung wegen möglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Unmenschliche Haftbedingungen

Die Haftbedingungen verschlechterten sich 2022 weiter. Menschen waren in überfüllten Einrichtungen inhaftiert, wo sie keinen angemessenen Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser hatten und daher für lebenswichtige Güter auf Hilfe von ihren Verwandten angewiesen waren.

Besorgniserregend war nach wie vor die Tatsache, dass Personen über lange Zeiträume hinweg in Polizeistationen und anderen inoffiziellen Hafteinrichtungen festgehalten wurden.

Besonders bedenklich war die Situation für inhaftierte Frauen, da die Haftbedingungen und -einrichtungen nicht ausreichend auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten waren.

Straflosigkeit

Menschenrechtsverletzungen blieben nach wie vor straffrei. Aus Berichten der UN-Ermittlungsmission zu Venezuela ging hervor, dass das Justizsystem manipuliert wurde, um für Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Angehörige von Polizei und Militär zu schützen.

Venezuela beantragte bei der Anklagebehörde des IStGH im April 2022 die Aussetzung internationaler Ermittlungen und begründete dies damit, dass die innerstaatlichen Behörden bereits eine Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtlichen Verbrechen im Land eingeleitet hätten. Die Anklagebehörde des IStGH beantragte dennoch die Wiederaufnahme der Ermittlungen und argumentierte, Venezuela habe keine zusätzlichen Informationen darüber vorgelegt, inwiefern die internen Prozesse im Land den Standards des Römischen Statuts genügten. Zudem stellte der IStGH die Aufrichtigkeit der von Venezuela angeführten Maßnahmen infrage. Ende 2022 hatte die Vorverfahrenskammer des IStGH noch nicht darüber entschieden, ob die Ermittlungen wieder aufgenommen werden sollen oder nicht. Die Kammer hatte jedoch Betroffene aufgefordert, sich bis März 2023 zu den Angaben der venezolanischen Regierung über die eingeleiteten Untersuchungsmaßnahmen zu äußern.

Unfaire Gerichtsverfahren

Die UN-Ermittlungsmission zu Venezuela zeigte sich erneut besorgt darüber, dass das Justizsystem eingesetzt wurde, um Menschenrechtsverletzungen wie willkürlicher Inhaftierung und völkerrechtlichen Verbrechen wie Verfolgung Vorschub zu leisten.

Die Staatsanwaltschaft nutzte die Sozialen Medien, um informell Anschuldigungen gegen zahlreiche Personen zu erheben. Damit setzte sie sich über deren Menschenrechte hinweg und untergrub u. a. die Rechte auf ein faires Gerichtsverfahren und auf Unschuldsvermutung. Zu den Betroffenen zählten auch Kinder und Jugendliche.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Ende 2022 hatten Sonderberichterstatter*innen und Überwachungsorgane der Vereinten Nationen immer noch keine offiziellen Einladungen nach Venezuela erhalten.

Das Mandat der UN-Ermittlungsmission zu Venezuela wurde zwar verlängert, doch die venezolanischen Behörden hatten den Ermittler*innen bis Ende des Jahres noch keinen Zugang zum Land gewährt.

Trotz der 2021 angekündigten Justizreform blieben die größten Hindernisse für einen wirksamen Zugang zur Justiz bestehen, allen voran die mangelnde richterliche Unabhängigkeit und die Anstrengung politisch motivierter Gerichtsverfahren gegen vermeintliche Regierungskritiker*innen. Angeklagte hatten oft keinen Zugang zu ihren Fallakten, ihr Recht auf einen selbst gewählten Rechtsbeistand wurde willkürlich eingeschränkt, und es kam zu ungerechtfertigten Verfahrensverzögerungen.

Rechte indigener Gemeinschaften

In der Region Arco Minero del Orinoco im Bundesstaat Bolívar zogen illegale Bergbauaktivitäten schwere menschenrechtliche Folgen nach sich und beeinträchtigten insbesondere die Rechte indigener Gemeinschaften auf Selbstbestimmung und eine gesunde Umwelt. In ihrem Bericht vom September 2022 dokumentierte die UN-Ermittlungsmission zu Venezuela schwere Menschenrechtsverletzungen und -verstöße in dieser Region und wies auf Absprachen zwischen einigen Behörden und kriminellen Gruppen hin, die in den Bergbaugebieten aktiv waren und diese teils kontrollierten. Laut Angaben der Ermittlungsmission wurden nur selten Untersuchungen eingeleitet und die Verantwortlichen kaum zur Rechenschaft gezogen.

Im März 2022 kam es im Bundesstaat Amazonas in der Yanomami-Gemeinde Parima B zu einer Auseinandersetzung zwischen Militärangehörigen und der indigenen Gemeinschaft, bei der vier Indigene getötet und mindestens zwei verletzt wurden. Auch zwei Militärangehörige trugen Verletzungen davon. Die beiden verletzten Indigenen, die offenbar die Tötungen mit angesehen hatten, wurden zunächst an einen unbekannten Ort gebracht. Einige Tage später tauchten die beiden Augenzeugen wieder auf und erhielten medizinische Versorgung. Allerdings gab es Kritik bezüglich der Art und Weise, wie die Behörden sie nach Caracas brachten, da weder für eine rechtliche Betreuung gesorgt wurde noch Maßnahmen zur Vermeidung von Reviktimisierung oder zur Sicherstellung kultureller Angemessenheit ergriffen wurden.

Im Juni 2022 wurde in Puerto Ayacucho, der Hauptstadt des Bundesstaats Amazonas, der indigene Sprecher, Landrechtsverteidiger und Umweltschützer Virgilio Trujillo erschossen. In den Folgemonaten gab es keine Hinweise auf Fortschritte bei den Untersuchungen zu seinem Fall.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Die Behörden gingen immer häufiger und immer schärfer gegen die Zivilgesellschaft vor. Die Organisation Centro para los Defensores y la Justicia verzeichnete 396 Angriffe auf Menschenrechtler*innen, bei denen sie u. a. eingeschüchtert, stigmatisiert oder bedroht wurden.

Der Menschenrechtsverteidiger und Leiter der venezolanischen NGO Fundaredes Javier Tarazona befand sich nach wie vor als gewaltloser politischer Gefangener wegen terrorismusbezogener Vorwürfe willkürlich in Haft.

Im Mai 2022 erfuhren die beiden Menschenrechtler Marino Alvarado und Alfredo Infante, dass der Gouverneur des Bundesstaats Carabobo, Rafael Lacava, einen Prozess wegen Verleumdung gegen sie angestrengt hatte. Die beiden Männer waren an einem Bericht beteiligt gewesen, den die NGOs Provea und Centro Gumilla zwei Monate zuvor veröffentlicht hatten. Er deckte mutmaßliche außergerichtliche Hinrichtungen durch die Polizei von Carabobo auf und forderte Rechenschaftspflicht entlang der gesamten Befehlskette.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Ende 2022 hatten mehr als 7,1 Millionen Menschen das Land verlassen. Aus Venezuela geflüchtete Frauen waren in Aufnahmeländern wie Kolumbien, Ecuador, Peru und Trinidad und Tobago mit Schwierigkeiten beim Zugang zu internationalem Schutz konfrontiert. Dadurch waren sie stark gefährdet, Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt verschiedenster Ausprägung zu werden, u. a. sexualisierter Gewalt und Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung oder der Ausbeutung der Arbeitskraft.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Der mangelnde Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Gesundheitsversorgung gab auch 2022 Anlass zu großer Sorge.

Recht auf Gesundheit

Menschen mit chronischen Erkrankungen hatten nach wie vor nur unzureichenden Zugang zu medizinischer Behandlung und zu Gesundheitsleistungen. Die venezolanische humanitäre Organisation Acción Solidaria berichtete, dass 33 Prozent aller Menschen über 60 mit chronischen Krankheiten keine Behandlung erhielten.

Im Laufe des Jahres 2022 machten mehrere Kinderrechtsorganisationen auf die Todesfälle im Kinderkrankenhaus J.M. de los Ríos aufmerksam. Trotz der 2018 von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission erlassenen Schutzmaßnahmen für die Patient*innen dieses Krankenhauses starben dort Kinder, weil das Programm zur Organtransplantation 2017 landesweit ausgesetzt worden war.

Recht auf Nahrung

Im November 2022 erklärte die zivilgesellschaftliche Organisation CENDA, dass eine Durchschnittsfamilie in Venezuela für den monatlichen Warenkorb mit Grundnahrungsmitteln etwa 386 US-Dollar (ca. 350 Euro) aufbringen müsse. Gleichzeitig betrug der im März festgelegte monatliche Mindestlohn lediglich 13 US-Dollar (etwa 12 Euro), weshalb der Großteil der Bevölkerung unter Ernährungsunsicherheit litt. Im Dezember spitzte sich die Lage aufgrund einer starken Abwertung der Landeswährung noch weiter zu.

Laut Angaben der Weltbank wies Venezuela im August 2022 die weltweit dritthöchste Inflationsrate bei Lebensmitteln auf.

Recht auf Wasser

Offiziellen Ankündigungen zufolge sollte die landesweite Wasserversorgung bis Ende 2022 zu 95 Prozent sichergestellt sein. In Wirklichkeit jedoch sorgten nach wie vor Fahrlässigkeit und mangelnde Instandhaltung dafür, dass der Zugang zu Wasser für die Bevölkerung immer prekärer wurde. Dies führte vielerorts immer wieder zu Protesten gegen die mangelnde Verfügbarkeit von Wasser und Sanitäreinrichtungen.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Die anhaltende humanitäre Notlage im Land beeinträchtigte die sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen und erschwerte somit die Wahrnehmung der sexuellen und reproduktiven Rechte.

Laut Angaben der Interamerikanischen Menschenrechtskommission wirkte sich der eingeschränkte Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen wie Reproduktionsplanung auch negativ auf die Müttersterblichkeitsrate aus.

Im September 2022 führten Angehörige der zivilgesellschaftlichen Initiative Ruta Verde einen Protestmarsch bis zur Nationalversammlung durch, um dort ein Schriftstück vorzulegen, mit dem die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gefordert wurde. In Venezuela sind Schwangerschaftsabbrüche nur dann erlaubt, wenn eine Gefahr für das Leben der Schwangeren besteht. Es gibt allerdings für solche Fälle kein medizinisches Regelwerk, sodass die Entscheidung stets im Ermessen der Ärzt*innen liegt. Ende des Jahres gab es in dieser Hinsicht noch keine maßgeblichen Fortschritte.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

LGBTI+ wurden weiterhin diskriminiert. Mehrere Organisationen forderten die Behörden auf, das Recht von LGBTI+ auf Nichtdiskriminierung gesetzlich zu verankern. Bis Ende des Jahres war in dieser Hinsicht jedoch noch nichts geschehen.

Ein 2021 eingelegtes Rechtsmittel, mit dem die Streichung von Paragraf 565 des Militärgesetzes (Código Orgánico de Justicia Militar) gefordert wurde, war Ende 2022 noch anhängig. Laut dem Paragrafen stehen gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Militärangehörigen unter Strafe.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Anfang 2022 nahm die Nationalversammlung eine Änderung des Gesetzes zum Schutz von Frauen vor Gewalt an (Ley Orgánica sobre el Derecho de las Mujeres a una Vida Libre de Violencia). Zivilgesellschaftliche Organisationen und Frauenrechtler*innen kritisierten das geänderte Gesetz jedoch, da es ihrer Ansicht nach der Verantwortung des Staates zur Verhinderung und Bestrafung von Gewalt gegen Frauen nicht gerecht wird. Grund sei, dass das Konzept einer Gender-Perspektive (Perspectiva de género) in der öffentlichen Politik nicht verankert sei und Staatsbedienstete nicht ausreichend geschult seien, um weiblichen Überlebenden von sexualisierter bzw. geschlechtsspezifischer Gewalt unmittelbar die richtige Unterstützung zukommen zu lassen.

Laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Centro de Justicia y Paz wurden in Venezuela von Januar bis September 199 mutmaßliche Femizide gemeldet. Die Behörden erhoben und veröffentlichten jedoch keine offiziellen Zahlen zu Femiziden, was zielgerichteten Bemühungen zur Verhinderung solcher Straftaten im Wege stand.

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