Amnesty Journal Peru 24. November 2025

Peru: Straffreiheit wird durchgesetzt

Eine peruanische Frau mit Sonnenbrille, die Haare zusammengebunden, trägt ein getreiftes Top, hinter ihr auf einer Straße hält eine Menschenmenge eine große Stoffbahn aufgespannt.

Der Protest geht weiter: Demonstration gegen die Regierung (Lima, Mai 2025)

In Peru setzen Legislative und Exekutive die Judikative unter Druck. Unabhängige Ermittlungen zu Menschenrechtsverletzungen sollen unterbleiben. Seit März 2025 gilt außerdem ein Gesetz, das Nichtregierungsorganisationen an die Kette legt.

Aus Lima von Knut Henkel

Jemand hat die Parole "Dina Asesina" ("Dina mordet") im Zentrum von Miraflores, einem Stadtteil von Lima, hastig und in dicken Strichen an eine Hauswand geschrieben. Doch noch größerer Popularität erfreute sich seit Anfang Juli der Slogan "Dina La Corrupta" ("Dina die Korrupte"). Perus Präsidentin Dina Boluarte war in Peru seit Beginn ihrer Amtszeit extrem unpopulär. Je nach Meinungsumfrage kam sie auf vier, oft auch nur auf drei Prozent Unterstützung. Nachdem ihr Vorgänger Pedro Castillo wegen eines vermeintlichen Staatsstreichs abgesetzt worden war, gelangte sie im Dezember 2022 ins Amt. Doch ihr mar­ginaler Rückhalt schwand zusehends. Im Oktober 2025 setzte das peruanische Parlament sie ab: Die Abgeordneten votierten dafür, die 63-Jährige wegen "dauerhafter moralischer Unfähigkeit" des Amtes zu entheben.

Boluarte erklärte nach ihrer Absetzung: "Ich habe immer nur an die 34 Millionen Peruanerinnen und Peruaner gedacht, die eine korruptionsfreie Regierung verdienen". Anfang Juli 2025 hatte sich die 63-Jährige per Präsidialdekret noch eine Verdoppelung ihrer Bezüge genehmigt – von 16.000 Soles (3.800 Euro) auf 35.500 Soles (knapp 8.500 Euro). Das sei "angemessen", meinte Boluarte knapp mit Verweis auf die Bezüge anderer Politiker*innen.

Millionen ohne Mindestlohn

Das sehen viele in Peru anders. Sie verweisen auf die ökonomische Krise und darauf, dass viele Peruaner*innen mit dem Mindestlohn von 1.025 Soles (245 Euro) auskommen müssen. Millionen Menschen erhalten noch nicht einmal den Mindestlohn. Auch die Justiz beschäftigt sich mit der selbstherrlichen Ex-Präsidentin. Sie ermittelt in Fällen von Korruption, aber auch wegen des Todes von 49 Demonstrant*innen, die im Dezember 2022 und im Februar 2023 in verschiedenen Städten des Landes von Angehörigen des Militärs und der Polizei erschossen wurden. Die Staatsanwaltschaft untersucht noch immer, warum die Sicherheitskräfte zur Schusswaffe griffen, wer den Einsatz der Waffen genehmigte und warum viele der Opfer Schusswunden im Rücken aufwiesen. 

Vor allem im Süden des Landes, in Städten wie Juliaca, Ayacucho und Puno, waren die Proteste damals heftig und hielten wochenlang an. "Die Sicherheitskräfte gingen oft brutal gegen die überwiegend indigenen Demonstrant*innen vor, die Straßen blockierten", sagt Tania Pariona, die Generalsekretärin der Dachorganisation peruanischer Menschenrechtsorganisationen. "Erst detaillierte Berichte von Amnesty International, von Human Rights Watch und anderen Menschenrechtsorganisationen führten dazu, dass die Staatsanwaltschaft ermittelte", ergänzt Pariona. Sie stammt aus der Region Ayacucho, wo Sicherheitskräfte zehn Männer erschossen. Die Generalstaatsanwaltschaft reichte deshalb am 15. Mai eine Verfassungsklage gegen die Präsidentin ein. Boluarte wird für die schweren Ausschreitungen mit Toten und Verletzten bei den Massenprotesten kurz nach ihrem Amtsantritt verantwortlich gemacht. Sie habe die Gewalt der Nationalpolizei und der Streitkräfte bei den Protesten nicht verhindert, heißt es in der Klage.

Direkte Verantwortung für exzessive Gewalt

Amnesty ging in einer Analyse, die im Juli 2024 in Lima präsentiert wurde, noch einen Schritt weiter und warf Boluarte, den zuständigen Minister*innen sowie der Armee- und der Polizeiführung eine direkte Verantwortung für die exzessive Gewalt mit 49 Toten und Hunderten Verletzten vor. Exemplarisch verwies die Amnesty-Ermittlerin Madeleine Penman auf den Einsatz der Sicherheitskräfte am 15. Dezember 2022 in Ayacucho: 1.200 Kugeln seien dort abgefeuert worden, zehn Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Sie führte die Eskalation der Gewalt darauf zurück, dass Eliteeinheiten zur Ter­rorismusbekämpfung vage Befehle erhielten. Das habe den Einsatz von Schusswaffen begünstigt, sagte die ­Ermittlerin, deren Bericht von der Regierung in Lima umgehend zurückgewiesen wurde. 

Die ehemalige Koordinatorin der Dach­organisation der Menschenrechtsorganisationen, Jeannie Dador Tozzin, erklärt hingegen, der Bericht sei korrekt, und auch die Deutlichkeit der Aussagen sei zu begrüßen. "Doch leider gibt es viele Vorhaben und Gesetze, die die Arbeit der Justiz und zivilgesellschaftlicher Organisationen erschweren oder unmöglich machen", kritisiert Tozzin. Dazu zählt auch ein Gesetz, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit schneller verjähren lässt und ehemaligen Politiker*innen, die dem autoritären Ex-Präsidenten Alberto Fujimori zuarbeiteten, sowie Hunderten ranghoher Militärs und Polizisten Straffreiheit bescherte. Das Gesetz trat im August 2024 in Kraft und beendete schlagartig Hunderte Ermittlungsverfahren, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Zeit zwischen 1980 und 2000 aufklären sollten, als sich bewaffnete Organisationen wie der Leuchtende Pfad und MRTA sowie Staat und Armee gegenseitig bekämpften. 

Die internationale Kritik war groß. UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk erklärte, Peru verstoße mit dem Gesetz gegen völkerrechtliche Verpflichtungen und internationale Standards. Der ­Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hatte zuvor gewarnt, das Gesetz in Kraft zu setzen, weil es die Charta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verletze. 

Es gibt keinen Willen, verübtes Unrecht wiedergutzumachen.
 

Salomón
Lerner
Jurist

Auch der ehemalige Vorsitzende der Wahrheitskommission, Salomón Lerner Febres, übt Kritik. "In Peru gibt es keinen Willen, das verübte Unrecht wiedergutzumachen", sagt der 81-Jährige bei einem Gespräch in der Altstadt von Lima mit Blick auf das Parlament, das Justizministerium und den Präsidentenpalast. Alle drei Institutionen stünden unter Druck, weil die Balance zwischen Exekutive, Legislative und Judikative nicht mehr existiere, meint Lerner. 

Amnestiegesetz vertabschiedet

Am 9. Juli verabschiedete ein Ausschuss des Parlaments ein weiteres Amnestiegesetz, das Militärs, Polizist*innen und sogenannten Selbstverteidigungskomitees Straffreiheit für Menschenrechtsverbrechen wie Verschwindenlassen ­zusichert. "In Peru wird die Uhr zurückgedreht", sagt Carlos Rivera, Jurist und Koordinator der Organisation Instituto de Defensa Legal. Die juristische Hilfsorganisation vertritt zivilgesellschaftliche Organisationen, indigene Gemeinden und Einzelpersonen juristisch und reicht auch Klagen beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.

Das macht sie aus der Perspektive des ultrakonservativ-nationalistischen Spektrums, das im Parlament derzeit die Mehrheit hat, zu einer unbequemen ­Organisation. Es ist daher nicht überraschend, dass es seit März ein weiteres neues Gesetz gibt, das sich gegen zivil­gesellschaftliche Organisationen richtet, die sich für die Rechte der Bevölkerung einsetzen. "Es reguliert die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, die fortan keine Klagen gegen den peruanischen Staat mehr unterstützen dürfen – zum Beispiel vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte", erklärt die Menschenrechtsverteidigerin Tania Pariona. "Wir suchen derzeit nach Optionen, wie wir unsere Arbeit weiterführen können – trotz des Gesetzes und trotz des politischen Klimas", sagt Carlos Rivera, doch werde die Arbeit seiner Organisation immer schwieriger.

Knut Henkel arbeitet als freier Korrespondent in Lateinamerika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Mehr Informationen zur Menschrenchtslage in Peru findest du hier.

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