Nach politischer Haft in Russland: Bloß nicht schweigen!
Will seine Erinnerungen in einem Buch festhalten: Kevin Lick saß in Russland im Gefängnis (Deutschland, September 2025)
© Tigran Petrosyan
Er hat zwei Jahre lang in russischer Haft Demütigungen und Folter erlebt. Nun lebt Kevin Lick in Deutschland, verarbeitet seine Erfahrungen und möchte ein Buch daraus machen.
Von Tigran Petrosyan
Sein mittellanges, leicht gewelltes Haar hat wieder zu alter Form zurückgefunden, als habe ihm die Zeit im Gefängnis nichts anhaben können. Es ist gut ein Jahr vergangen, seit Kevin Lick aus russischer Haft freigelassen wurde und nach Deutschland ausreisen konnte. Er war einer der 26 politischen Gefangenen, die im Zuge eines internationalen Gefangenenaustauschs im August 2024 freikamen. "Mein Körper ist frei, aber meine Seele fühlt sich immer noch wie in Gefangenschaft", sagte Lick in einem seiner ersten Interviews.
Lick war 17 Jahre alt und noch Schüler, als er festgenommen wurde. Er war einer der jüngsten Angeklagten, die in Russland wegen Hochverrats verurteilt wurden. Heute ist er 20 Jahre alt, wohnt in Würzburg und geht dort auf ein Gymnasium. Er findet langsam wieder Zugang zur deutschen Sprache. "Ich habe sieben Jahre in Russland gelebt und dort mit niemandem Deutsch gesprochen", sagt er. Lick wurde in einem kleinen Ort in Rheinland-Pfalz geboren. Seine Mutter ist Russin, sein Vater Russlanddeutscher. Im Alter von zwölf Jahren zog er mit seiner Mutter in die Stadt Maikop im Nordkaukasus, also nach Russland.
Mit seinen fast zwei Metern Größe ragt er aus der Menge seiner Altersgenoss*innen hinaus. Er wirkt zugleich still und stark. Sein Blick durch die runden Brillengläser bleibt kühl – egal, ob er sich aufregt, lächelt oder nachdenkt. "Ich war für Putin", sagt er. Das war, als er noch in Deutschland lebte. "Beeinflusst von der Propaganda glaubte ich an ein Russland, das ich nicht kannte. Wir reisten alle zwei Jahre hin und hielten an einem idealisierten Bild fest, das sich mit der Realität kaum deckte."
2018, da lebte er schon in Russland, änderte sich das. "Meine felsenfesten Überzeugungen begannen zu bröckeln. Ich stieß auf Recherchen von Alexei Nawalny. Sie waren ein Augenöffner", sagt er. Als Nawalny noch lebte und sich mit der Regierung anlegte, wollte Lick in Maikop etwas ändern. Er tauschte in der Schule das Porträt von Präsident Putin gegen ein Bild Nawalnys aus. Er fotografierte auch Schäden am Schulgebäude und schickte die Bilder an einen lokalen Blogger.
Bereits Ende 2021 gab es Gerüchte über einen Angriff auf die Ukraine. "In der Nähe unseres Wohnviertels gab es eine russische Militärbasis. Wir konnten sehen, wie Militärtechnik und LKWs bewegt wurden", erzählt Lick. Er fing an, all das zu dokumentieren. "Ich dachte, dass ich mit Fotos und Informationen dazu beitragen könnte, Kriegsverbrechen zu verhindern". Er habe sich an die deutsche Botschaft in Moskau gewandt, dort jedoch eine Absage erhalten. Einen Monat später habe ihm jemand im Online-Netzwerk Telegram eine Nachricht geschickt – angeblich die deutsche Botschaft. In Wahrheit sei es ein russischer Geheimdienst gewesen.
Im Februar 2022 griff Russland die Ukraine an, im Sommer entschied seine Mutter, mit ihrem Sohn wieder nach Deutschland zu ziehen. Auf dem Flughafen wurden sie festgehalten, die Mutter kam frei, er musste in Untersuchungshaft. Lick sei ein Landesverräter, hieß es nun. Er habe "einen ausländischen Staat – Deutschland – bei Aktivitäten unterstützt, die sich gegen die Sicherheit der Russischen Föderation richten". So steht es im Gerichtsurteil. Lick sollte für vier Jahre ins Gefängnis. Dort sei er in der Hölle gewesen, Demütigungen und Folter Tag und Nacht. Seine Mitgefangenen, allesamt Männer über 30 und 40, hätten ihm die Hände gefesselt und Zigaretten auf seiner Haut ausgedrückt. "Dieses System zerstört Menschen", sagt Lick.
Er will nicht schweigen. Er erzählt seine Geschichte, wo auch immer er hinkommt – mal auf einer Veranstaltung in Würzburg, mal im Bundestag oder im Europarlament. Seine Häftlingskleidung hat er dem Archiv der Menschenrechtsorganisation Memorial übergeben. "Ich schreibe gerade meine Erinnerungen auf. Ich will sie in einem Buch festhalten."
Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.