Aktuell 10. Mai 2021

Istanbul-Konvention: Wer austritt, gefährdet Frauen und Mädchen

Das Bild zeigt eine viele protestierende Frauen mit einem lila Banner und Flaggen

"Wir geben die Istanbul-Konvention nicht auf!": Proteste in der türkischen Stadt Istanbul am 20. März 2021 gegen den Austritt aus der Istanbul-Konvention.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat im März den Austritt aus der Istanbul-Konvention beschlossen, die Frauen in der Türkei vor sexualisierter und häuslicher Gewalt schützt. Auch Polen denkt über einen Austritt nach, andere europäische Länder zögern bei der Ratifizierung. Zum 10. Jahrestag der Konvention ist dies für den Schutz von Frauen und Mädchen ein fatales Signal.

Die ehemalige stellvertretende Direktorin der UN-Frauen, Lakshmi Puri, hatte die Istanbul-Konvention einst als "Goldstandard" für den Frauenrechtsschutz bezeichnet.  Der türkische Präsident Erdoğan sieht in ihr stattdessen einen Verstoß gegen "traditionelle Werte" und den Versuch "Homosexualität zu normalisieren".

Das "Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt", kurz Istanbul-Konvention, hat vor allem ein Ziel: Konsequent gegen Gewalt an Frauen und Mädchen vorzugehen. 

Die Konvention wurde am 11. Mai 2011 zur Unterzeichnung aufgelegt, 2014 trat sie in Kraft. Sie ist auf europäischer Ebene das erste juristisch bindende Instrument zum Schutz von Frauen und Mädchen gegen jede Form der Gewalt. Wegweisend ist sie unter anderem, weil sie Femizide, sexualisierte und häusliche Gewalt gegen Frauen als strukturelles, gesellschaftliches Problem betrachtet.

In der Türkei gab es bereits einen Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt. In einer Zeit, in der Frauen am dringendsten Schutz brauchten, unternimmt die Regierung genau das Gegenteil.

Elif
Şafak
Schriftstellerin

Die Türkei gehörte mit Österreich, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland und anderen Staaten zu den ersten, die den Vertrag 2011 unterzeichneten. Insgesamt 34 Staaten haben ihn inzwischen ratifiziert, so dass dessen Bestimmungen in nationale Gesetze und Strategien zum Schutz von Frauen umgesetzt werden können.

Dazu gehören beispielsweise bessere Beratungs- und Hilfsangebote, Schulungen und Weiterbildungen für Fachkräfte in sozialen Einrichtungen, für Richter_innen und Staatsanwält_innen sowie die Anpassung von Gesetzen und Definition, um zum Beispiel Fälle von sexueller Belästigung oder Stalking besser zu erfassen.

Dass die Türkei das Abkommen nun wieder verlässt, hat drastische Konsequenzen für den Schutz von Frauen und Mädchen im Land. Zahlreiche Frauenrechtsorganisation in der Türkei machen gegen den Austritt mobil.

 

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Die türkische Schriftstellerin Elif Şafak sprach im April in einem Interview des TIME-Magazin von einem großen Rückschlag für die Frauenrechte im Land: "Es bricht mir das Herz, weil es in einem Moment passiert, in dem die Femizide zunehmen. In der Türkei gab es bereits einen Anstieg der Fälle von häuslicher Gewalt. In einer Zeit, in der Frauen am dringendsten Schutz brauchten, unternimmt die Regierung genau das Gegenteil." 

Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden 2020 insgesamt 266 Frauen durch geschlechtsspezifische Gewalt getötet. Frauenorganisationen gehen jedoch von weitaus höheren Zahlen aus.

Abwehrreflexe gegenüber der Konvention, welche angebliche "Gender-Ideologie" verbreite, zeigt nicht nur die türkische Regierung. Auch in anderen europäischen Staaten wie in Polen, Ungarn oder der Ukraine deuten Regierungen die Konvention als Angriff auf das "traditionelle Familienbild" um. Oftmals bemühen sie dabei LGBTI-feindliche Argumente, um einen Austritt aus der Konvention zu rechtfertigen.

 

Das Foto zeigt junge Demonstrant_innen, die Schilder mit polnischen Aufschriften in die Höhe halten.

Demonstration für LGBTI-Rechte und gegen Trans- und Homofeindlichkeit in der polnischen Hauptstadt Warschau im August 2020

So will sich auch das polnische Parlament in Kürze mit einem möglichen Rücktritt aus der Istanbul-Konvention befassen. Die Regierung hat zudem das Verfassungsgericht gebeten, zu überprüfen, ob die Konvention mit der polnischen Verfassung in Übereinstimmung zu bringen sei. 

Diese Entwicklung wird befeuert durch eine systematische LGBTI-feindliche Politik und Sprache polnischer Politiker_innen, die nicht ohne Folgen bleiben: Nach Angaben der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte haben in Polen 15 Prozent der LGBTI-Menschen in den vergangenen fünf Jahren einen tätlichen Übergriff oder sexualisierte Gewalt erfahren. Dies ist der höchste Prozentsatz in der Europäischen Union.  

In anderen Ländern wie Bulgarien, der Slowakei und jüngst auch in Ungarn haben die Parlamente die Istanbul-Konvention wegen eines falschen Verständnisses des Begriffs "Gender", der in der Konvention verwendet wird, nicht ratifiziert. Ähnliche Fehlvorstellungen blockieren die Ratifizierung in der Ukraine. In diesen Ländern sind bestehende Gesetze zur Bekämpfung häuslicher Gewalt oft mangelhaft umgesetzt. 

 

Amnesty-Tweet zum 10. Geburtstag der Istanbul-Konvention:

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Dass die Konvention für den Schutz von Frauen und Mädchen überlebenswichtig ist, hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt. Im Lockdown gehörten sie zu den gesellschaftlichen Gruppen, die vermehrt Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt waren. In Deutschland gingen beim bundesweiten "Hilfetelefon" zur Zeit des ersten Lockdowns im April 2020 20 Prozent mehr Anrufe ein. Seitdem ist die Zahl auf diesem erhöhten Niveau geblieben. Und auch in Österreich sorgt die aktuell hohe Zahl von Femiziden für Schlagzeilen . 

Die Istanbul-Konvention ist zehn Jahre nach ihrer Erstunterzeichnung weiterhin einer der effektivsten Mechanismen, um Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Die Konvention rettet Leben – aber nur wenn die Regierungen es zulassen.

Amnesty International ruft für den 11. Mai deshalb zu einem internationalen Aktionstag mit dem Slogan "Die Istanbul-Konvention rettet Leben" auf. Zudem wird Amnesty International, vertreten durch Nils Muižnieks, Direktor Direktor für Europa bei Amnesty International, an einer Veranstaltung des Europarats zum Jubiläum der Istanbul-Konvention teilnehmen. Weitere Informationen dazu gibt es auf der Aktionsseite der Amnesty-Koordinationsgruppe Menschenrechtsverletzungen an Frauen

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