Amnesty Report Algerien 24. April 2024

Algerien 2023

Das Foto zeigt Ihsane El Kadi, der einen Anzug mit Krawatte trägt und eine Sonnenbrille. Er steht umgeben von mehreren Personen vor einem Gebäude und blickt in die Kamera.

Der algerische Journalist Ihsane El Kadi (undatiertes Foto)

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die Behörden verschärften die Verengung des zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraums, indem sie mindestens einen Aktivisten, fünf Journalisten und einen Wissenschaftler vor Gericht stellten, nur weil sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hatten. Mindestens zwei Online-Nachrichtenportale wurden geschlossen, und zwei mit der algerischen Menschenrechtsliga LADDH verbundene Einrichtungen mussten ebenfalls schließen. Zudem ordneten die Behörden die Auflösung von zwei Menschenrechtsorganisationen an und suspendierten mindestens eine politische Partei. Die Justizbehörden schlossen darüber hinaus mindestens zwei Kirchen. Es wurden mindestens 36 Femizide gemeldet. Die Zahl der im Jahr 2023 summarisch aus Algerien abgeschobenen Migrant*innen belief sich auf mindestens 18.302.

Hintergrund

Im Februar 2023 rief Algerien aus Verärgerung darüber, dass die algerische Aktivistin Amira Bouraoui nach Frankreich geflohen war, seinen Botschafter aus Paris zurück. Die algerischen Behörden leiten daraufhin gegen sechs Personen, darunter Amira Bouraoui und ihre Mutter, strafrechtliche Verfahren aufgrund konstruierter Anklagen ein, darunter "Schleusung von Migrant*innen" und Bildung einer "Vereinigung von Übeltäter*innen".

Im März 2023 schloss der UN-Menschenrechtsrat die Allgemeine Regelmäßige Überprüfung Algeriens (UPR-Prozess) ab. Die Regierung akzeptierte Empfehlungen zur Reform des repressiven Versammlungs- und Demonstrationsgesetzes sowie zur Abänderung einer Gesetzesbestimmung, die es Vergewaltigern erlaubte, ihre Opfer zu heiraten und dadurch straflos auszugehen. Abgelehnt wurde jedoch die Empfehlung, übermäßig weit gefasste Bestimmungen im Strafgesetzbuch abzuändern, nach denen Personen kriminalisiert werden, die friedlich ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen.

Im September 2023 besuchte der UN-Sonderberichterstatter für Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Algerien, um sich ein Bild von der Lage im Land zu machen, und im Dezember stattete die UN-Sonderberichterstatterin zur Lage von Menschenrechtsverteidiger*innen dem Land einen Besuch ab.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Mehrere Journalist*innen, ein Wissenschaftler und mindestens ein Aktivist wurden von den Behörden wegen kritischer Äußerungen, vornehmlich im Internet, strafrechtlich verfolgt und schuldig gesprochen. Im April 2023 nahmen die Behörden mindestens zwei Online-Zeitungen und -Radiosender aus dem Netz. 

Am 2. April 2023 ordnete ein Gericht in Algier die Auflösung des Medienunternehmens Interface Media und seiner beiden Nachrichtensender Radio M und Maghreb Emergent an, die von dem Journalisten Ihsane El Kadi geleitet wurden. Zudem verurteilte das Gericht das Unternehmen zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 10 Mio. Algerischen Dinar (etwa 68.000 Euro) an die Aufsichtsbehörde für audiovisuelle Medien. Im Juni 2023 verurteilte ein Berufungsgericht Ihsane El Kadi wegen seiner journalistischen Tätigkeit, u. a. im Zusammenhang mit Berichten für die französische Zeitung La Croix, zu sieben Jahren Haft, von denen zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Am 4. Juli 2023 verurteilte ein Gericht in Algier den Amazigh-Aktivisten Slimane Bouhafs aufgrund konstruierter Anklagen zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe, weil er durch Onlinebeiträge "die Integrität des Staatsgebiets untergraben" haben soll. 

Am 13. August 2023 berichteten die Medien, dass der Kinofilm Barbie wegen "Sittenwidrigkeit" fortan nicht mehr in algerischen Kinos gezeigt werden dürfe.

Im August 2023 verkündeten die Behörden das Informationsgesetz 23-14, das unangemessene Lizenz- und Inhaberschaftsbestimmungen enthielt und beispielsweise vorschrieb, dass Medienunternehmen ausschließlich algerischen Staatsbürger*innen gehören dürften. Es enthält vage und weit gefasste Vorschriften, die es Journalist*innen u. a. verbieten, "falsche Informationen" zu veröffentlichen bzw. Informationen, die "den Kolonialismus befürworten, die nationale Erinnerung und die Symbole des nationalen Befreiungskrieges untergraben". Zudem sieht das Gesetz hohe Geldstrafen und die Beschlagnahme von Eigentum vor, wenn Medienhäuser Gelder aus dem Ausland erhalten, die nicht für Abonnements oder Werbung bestimmt sind.

Am 26. Oktober 2023 verurteilte ein Berufungsgericht in der Stadt Constantine im Nordosten des Landes den Journalisten Mustapha Bendjama zu 20 Monaten Haft, von denen zwölf Monate zur Bewährung ausgesetzt wurden. Im Zusammenhang mit seiner journalistischen Tätigkeit soll er ausländische Gelder erhalten haben, die "der Staatssicherheit schaden könnten". Außerdem soll er "geheime Informationen oder Dokumente in einem elektronischen Netzwerk veröffentlicht haben". Im selben Fall erhielt der kanadisch-algerische Wissenschaftler Raouf Farrah dieselbe Strafe, weil er Geld für inhaftierte Personen und für seine Arbeit als Forscher erhalten hatte.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Die Behörden gingen 2023 noch härter als bisher gegen unabhängige Gruppen vor. Sie ordneten die Auflösung von zwei Menschenrechtsorganisationen an und suspendierten mindestens eine politische Partei. 

Am 23. Januar 2023 riegelten die Behörden in der nordalgerischen Stadt Bejaia das Zentrum für die Dokumentation der Menschenrechte der algerischen Menschenrechtsliga LADDH ab und beriefen sich dabei auf ein Urteil aus dem Vorjahr, mit dem die LADDH aufgelöst worden war. Die Verantwortlichen bei der LADDH erfuhren damit erstmals von dem Urteil, das bereits im Juni 2022 auf eine Anzeige des Innenministeriums hin ergangen war.

Am 30. Januar 2023 riegelten die Behörden in Tizi Ouzou das Haus für Menschen- und Bürgerrechte ab, das seit 1990 der LADDH angeschlossen war und eine Bibliothek und ein Dokumentationszentrum betrieb. 

Im Februar 2023 trat der im Gefängnis von El-Harrach inhaftierte Abderrahmane Zitout  zum dritten Mal in den Hungerstreik, um gegen seine verlängerte Untersuchungshaft zu protestieren. Diese hing mit dem politischen Aktivismus seines Bruders Larbi zusammen, der zu Rachad gehörte, einer Gruppe, die von den Behörden im Februar 2022 willkürlich als "terroristisch" eingestuft worden war.

Am 23. Februar 2023 suspendierte der Staatsrat, das oberste Verwaltungsorgan Algeriens, die politische Partei Mouvement Démocratique et Social und ordnete die Schließung ihres Hauptquartiers an.

Im September 2023 hinderten die Behörden die Partei Rassemblement pour la Culture et la Démocratie das zweite Jahr in Folge willkürlich daran, ihr für den 28. September bis 1. Oktober in der Stadt Batna geplantes Sommerlager abzuhalten.

Recht auf friedliche Versammlung

Die Behörden schränkten das Recht auf friedliche Versammlung weiterhin unangemessen ein, u. a. indem sie Menschen im Vorfeld geplanter Protestaktionen festnahmen.

Am 20. August 2023 wurden nach Angaben des Nationalen Komitees für die Befreiung von Gefangenen mindestens 40 Aktivist*innen festgenommen. Damit sollte eine friedliche Versammlung in der nordalgerischen Stadt Ifri zum Gedenken an den Soummam-Kongress von 1956 verhindert werden, einem historischen Ereignis im Unabhängigkeitskampf des Landes. Zu den Festgenommenen zählten Soheib Debbaghi, Mohamed Tadjadit und der Anwalt Sofiane Ouali. Alle 40 wurden noch am selben Tag wieder freigelassen.

Am 8. September 2023 stellte ein Gericht in Amizour im Norden Algeriens den politischen Aktivisten Khaled Tazaghart unter richterliche Aufsicht, konfiszierte seinen Reisepass und verhängte gegen ihn ein Reiseverbot unter dem konstruierten Vorwurf der "Verbreitung falscher Informationen", nachdem er auf Facebook zu einer friedlichen Versammlung zum Gedenken an die Opfer der Waldbrände in Algerien aufgerufen hatte.

Folter und andere Misshandlungen

Die Justizbehörden ignorierten weiterhin vor Gericht erhobene Foltervorwürfe. 

Im Juli 2023 verurteilte ein Gericht in Algier den ehemaligen Militärangehörigen und Whistleblower Mohamed Benhlima zu sieben Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe. Mohamed Benhlima hatte 2019 in Spanien Asyl beantragt, wurde jedoch 2021 nach Algerien ausgeliefert. Bei einer Anhörung am 12. Juli 2023 sagte er vor Gericht aus, dass Ordnungskräfte ihn gefoltert hätten, indem sie ihn nackt auszogen, seine Beine und Hände fesselten und ihn mit kaltem Wasser übergossen. Er gab zudem an, sexuell genötigt, geschlagen und bedroht worden zu sein. Das Gericht ordnete keine Untersuchung dieser Vorwürfe an.

Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit

Die Behörden beriefen sich weiterhin auf Dekret 06-03, das die Ausübung anderer Religionen als des sunnitischen Islams beschneidet. Sie schlossen mindestens zwei Kirchen, womit sich die Zahl der seit 2018 geschlossenen Kirchen auf 31 erhöhte.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Behörden änderten das Gesetz 08-11 vom 25. Juni 2008 nicht ab, um Kollektivabschiebungen ausdrücklich zu verbieten. Rechtsvorschriften zur Umsetzung der UN-Flüchtlingskonvention und ihres Fakultativprotokolls wurden ebenfalls nicht verabschiedet.

Nach Angaben der Direktion für die Überwachung des Territoriums, einer offiziellen Polizeibehörde in Niger, hatte Algerien zwischen Januar und Dezember 2023 mindestens 18.302 Migrant*innen, vor allem aus Westafrika, summarisch nach Niger abgeschoben. 

Frauenrechte

Sowohl das Strafgesetzbuch als auch das Familienrecht diskriminierten Frauen weiterhin in unzulässiger Weise hinsichtlich Erbschaft, Heirat, Scheidung, Sorgerecht und Vormundschaft.

Im Mai 2023 verkündeten die Behörden das Gesetz 23-04 gegen Menschenhandel, das "Prostitution", sexuelle Ausbeutung und Zwangsheirat einschließt. Diese Straftaten konnten fortan mit bis zu 30 Jahren Gefängnis und Geldstrafen geahndet werden. In Fällen von Folter oder sexualisierter Gewalt gegen eine Person waren lebenslange Haftstrafen möglich.

Die Aktivistengruppe Féminicides Algérie dokumentierte 2023 mindestens 36 Femizide. Frauenrechtsorganisationen forderten weiterhin die Anerkennung von Femizid als eigenständigen Straftatbestand.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Das Strafgesetzbuch stellte einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen weiterhin unter Strafe und ahndete sie mit Freiheitsentzug von bis zu zwei Jahren und einer Geldstrafe.

Im Januar 2023 kündigte das Handelsministerium eine Kampagne gegen alle Produkte an, die "sittenwidrige Farben und Symbole" zeigen, und bezog sich dabei auf die Regenbogenfarben der LGBTI-Bewegung.

Am 10. August 2023 verhängte die Aufsichtsbehörde für audiovisuelle Medien ein 20-tägiges Sendeverbot gegen den privaten algerischen Fernsehsender Essalam TV, weil er einen Film ausgestrahlt hatte, in dem eine Hochzeit zwischen zwei Männern dargestellt wurde, was als "Verstoß gegen die Gebote des Islams und die Werte der algerischen Gesellschaft" angesehen wurde.

Rechte von Arbeitnehmer*innen

Im Mai 2023 verkündeten die Behörden das Gesetz 23-02, welches das Recht auf Gründung von Gewerkschaften einschränkt und es den Behörden ermöglicht, entsprechende Anträge auf der Grundlage vage formulierter Bestimmungen wie z. B. "nationale Einheit" und "nationale Werte und Richtwerte" abzulehnen. Darüber hinaus können die Behörden Gewerkschaften nun aus verschiedenen Gründen auflösen, u. a. wegen fortgesetzter "illegaler" Streikaktivitäten. Gewerkschaften, die anderen internationalen, kontinentalen oder regionalen Gewerkschaften beitreten, ohne die Behörden vorab zu informieren, riskieren eine Geldstrafe. Darüber hinaus sieht das Gesetz Strafen von bis zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe für Personen und Organisationen vor, die Spenden oder Vermächtnisse aus dem Ausland ohne vorherige Genehmigung der Behörden annehmen.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Im April 2023 wurde Algerien von einer extremen Hitzewelle heimgesucht, die laut der Klimaforschungsinitiative World Weather Attribution "ohne den Klimawandel mit großer Sicherheit so nicht stattgefunden" hätte. Im Juli breiteten sich rund 140 Waldbrände in 17 Regionen aus, bei denen mindestens 34 Menschen ums Leben kamen und 1.500 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. 

Todesstrafe

Die Gerichte verhängten weiterhin Todesurteile. Seit 1993 sind jedoch keine Hinrichtungen mehr vollzogen worden. 

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