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"Die Aushöhlung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat bedrohliche Ausmaße angenommen"
Amnesty-Aktion zum Internationalen Tag der Menschenrechte mit Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion, und Júlia Iván, Direktorin der ungarischen Amnesty-Sektion, am 09. Dezember 2017 auf dem Bebelplatz in Berlin
© Hans-Christian Plambeck
Amnesty International hat am 9. Dezember auf dem Bebelplatz in Berlin mit einer Aktion auf die zunehmend schwierige Lage von Menschenrechtsverteidigern aufmerksam gemacht. An der Aktion nahm u.a. auch der Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion, Markus N. Beeko, teil. Lies hier sein Statement:
Wir stehen hier auf dem Bebel-Platz, einem historischen Ort in Berlin. Dieser Platz ist aber auch Symbol für den Fall in die Barbarei und die völlige Abkehr von humanistischen Idealen: Er ist der Ort der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten – die zuerst das Gedankengut der Aufklärung angriffen und dann Millionen von Menschen auf grausamste Weise ermordeten.
Die Erfahrung des Nationalsozialismus trug dazu bei, dass die Staatengemeinschaft eine große Errungenschaft unserer Zeit auf den Weg brachte: Auch als Konsequenz aus dem Menschheitsverbrechen verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren Verabschiedung sich im kommenden Jahr zum 70. Mal jährt.
30 Artikel, in denen die Rechte eines jeden Menschen garantiert werden. Diese Erklärung vom 10. Dezember 1948 ist die Grundlage für Freiheit und Gerechtigkeit für jede Frau, jedermann, jedes Kind. Sie ist die Grundlage der meisten Verfassungen von Staaten. Für Amnesty International bildet sie die Grundlage unseres weltweiten Einsatzes. "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Dieser erste Satz der Allgemeinen Erklärung sichert jedem Menschen – weltweit, unabhängig von Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sozialer Anschauung, ethnischer und sozialer Herkunft – gleiche Rechte und Freiheiten zu. Menschenrechte sind angeboren, unveräußerlich, universell und unteilbar. Sie sind zu jeder Zeit – und für alle Menschen gültig.
Seit 1949 haben wir viele Fortschritte für die Menschenrechte erringen können. Wir haben wichtige internationale Konventionen und Abkommen verabschiedet, die zur völkerrechtlichen Verbindlichkeit und Durchsetzung der Menschrechte beigetragen haben. Ob der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1976, die Anti-Folterkonvention, die 1987 in Kraft getreten ist, oder das internationale Waffenhandelsabkommen, dass erst in diesem Jahrzehnt von der UN-Generalversammlung angenommen wurde. Heute jedoch beobachten wir, dass politische Akteure und Regierungen auf den Plan treten, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen! Die das Gleichheitsprinzip der AEMR offen und unverhohlen angreifen und diese fundamentalen Rechte nicht mehr allen Menschen gleichermaßen zugestehen wollen. Ihr Ziel ist es, einzelne gesellschaftliche Gruppen auszugrenzen, systematisch Gegnern, Kritikern oder "unliebsamen" Menschen, ihre Rechte abzusprechen.
Aber: Zu jeder Zeit und an vielen Orten der Welt kämpften genauso Menschen mutig und entschlossen für ihre Rechte und die Rechte anderer. Wir nennen sie Menschenrechtsverteidiger. Viele von ihnen riskieren dafür viel und bezahlen dies mit Einschüchterung, Haft, Folter oder allzu oft mit ihrem Leben. Mindestens 3.500 Menschenrechtsverteidigerinnen und –verteidiger sind seit 1998 ermordet worden – dem Jahr in der UN-Erklärung zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen verabschiedet wurde, die eigentlich alle Staaten zu ihrem Schutz verpflichtet. Mit den aktuellen, unverhohlenen Angriffen auf die Idee der Menschenrechte nehmen auch die Angriffe auf diejenigen zu, die für die Menschenrechte eintreten. Über 200 wurden 2016 gezielt getötet, es ist zu befürchten, dass es bis Ende diesen Jahres rund 300 Opfer gezielter Tötungen weltweit geworden sein werden. Und so wie die einzelnen zur Zielscheibe werden, nehmen die Gegner der Idee der Menschenrechte auch zivilgesellschaftliche Organisationen, Initiativen und Zusammenschlüsse ins Visier. Über 60 Staaten haben in den letzten Jahren die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit friedlicher Bürgerinnen und Bürger eingeschränkt, oftmals mit "sogenannten Agentengesetzen". Wir müssen nicht nach Ägypten schauen, wo unter der Regierung von Präsident al-Sisi Zivilgesellschaft und Medien unter der staatlichen Repression leiden, die zumeist unter dem Vorwand des so genannten Kampfes gegen den Terrorismus stattfindet. Zehntausende sitzen wegen ihrer abweichenden Meinung im Gefängnis. Folter ist bei den staatlichen Sicherheitsbehörden weit verbreitet und wird nicht geahndet.
Wir müssen nicht bis in die Türkei schauen, wo nicht nur Zehntausende in Untersuchungshaft sitzen, sondern auch hunderte NGOs verboten wurden, ihre Büros geschlossen. Wo die Regierung nicht davor zurückgeschreckt ist, mit zwei führenden Amnesty-Vertretern, Repräsentanten einer unabhängigen internationalen Organisation zu inhaftieren. Während İdil Eser, die Direktorin der türkischen Amnesty-Sektion, mittlerweile aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, sitzt Taner Kılıç, der Vorstandsvorsitzende von Amnesty in der Türkei seit über 180 Tagen im Gefängnis.
Die zunehmende Aushöhlung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat längst auch mitten in Europa, in unserer Nachbarschaft, bedrohliche Ausmaße angenommen. Nachahmer lauern, um zu sehen, inwieweit die internationale Staatengemeinschaft diese Menschenrechtsverletzungen deutlich benennen und konsequent Abstellung fordern. So hat der ungarische Ministerpräsident Victor Orban sich explizit das Vorgehen der türkischen Regierung zum Vorbild genommen. Ich möchte an dieser Stelle die Direktorin der ungarischen Amnesty-Sektion, Júlia Iván, herzlich willkommen heißen. Sie wird berichten, wie die ungarische Regierung gegen abweichende Meinungen und die kritische Zivilgesellschaft vorgeht. (…) Vielen Dank, Julia.
Wie in Ungarn so dürfen wir auch in allen anderen Teilen der Welt in unseren Kampf für die Menschenrechte nicht nachlassen. Nicht denen das Feld überlassen, die die Idee der Menschenrechte systematisch schwächen wollen. Und nicht diejenigen alleine lassen, die mutig für die Menschenrechte eintreten. Der Schutz von Menschenrechtsverteidigern weltweit wird deshalb einer der Schwerpunkte Amnestys Aktivitäten im kommenden Jahr sein. Es wird die Unterstützung jedes Einzelnen, jeder Einzelnen in den nächsten Jahrzehnten brauchen, wenn wir unser Gemeinwesen einer rechtstaatlichen Demokratie mit Grund- und Freiheitsrechten, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz und Menschenrechten für unsere Kinder bewahren wollen.
Dies kann auf ganz unterschiedliche Weise passieren: In diesen Tagen, wie jedes Jahr, rund um den Tag der Menschenrechte, nehmen Hundertausende weltweit beispielsweise am Amnesty-Briefmarathon teil. Jung und Alt haben sich in vielen Briefen und E-Mails für die Rechte anderer eingesetzt. Für Menschen, denen ihre Rechte abgesprochen wurden, die staatlicher Willkür ausgesetzt sind. Diese erfahren ganz persönlich die unmittelbare Kraft und Solidarität, die entsteht, wenn sich viele Einzelne für sie zusammenschließen. Und so konnte der Briefmarathon in den letzten Jahren in vielen Fällen konkrete, positive Veränderungen bewirken.
Im 70. Jubiläumsjahrs der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird es darauf ankommen, weltweit für die Menschenrechte einzutreten, Haltung zu zeigen. Und unsere Regierungen in die Pflicht zu nehmen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde 1948 von Regierungen, von Volkvertretern aus der ganzen Welt verabschiedet. Regierungen weltweit haben sich den zahlreichen völkerrechtlichen Normen verpflichtet. Unsere Regierungen und Volksvertreter und Volksvertreterinnen stehen nicht nur in der Verantwortung, sie haben Pflicht und Auftrag, diese unsere historische Errungenschaft zu schützen. Auch hieran werden wir sie im kommenden Jahr immer wieder erinnern. Und ich lade Sie ein, dies mit uns zu tun! Vielen Dank.
Weitere Informationen zum Internationalen Tag der Menschenrechte 2017 gibt es hier