Aktuell Deutschland 17. April 2025

Deutschland: Koalitionsvertrag ist ein menschenrechtliches Armutszeugnis voller Doppelstandards

Das Bild zeigt Julia Duchrow auf einer Brücke, im Hintergrund steht der Reichstag. Sie hält ein Plakat vor sich, auf dem steht: "Menschenrechte in den Koalitionsvertrag".

Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, bei einer Amnesty-Protestaktion anlässlich der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD in Berlin (18. März 2025).

Mit ihrem Koalitionsvertrag wollen Union und SPD offensichtlich Angst schüren und die Gesellschaft spalten, um den Abbau von Rechtsstaatlichkeit zu rechtfertigen. Amnesty International hat den Vertrag analysiert und zahlreiche Vorhaben identifiziert, die nicht im Einklang mit dem Schutz der Menschenrechte stehen. 

"Deutschland ist ein weltoffenes Land und wird es auch bleiben", "Wir stehen zu unserer humanitären Verantwortung", "Wir stärken den sozialen Zusammenhalt", "Das Grundrecht auf Asyl bleibt unangetastet": CDU, CSU und SPD geizen in ihrem Koalitionsvertrag nicht an vollmundigen Versprechen, die mit zahlreichen Vorhaben des Koalitionsvertrages nicht vereinbar sind. Das sind einige unserer menschenrechtlichen Kritikpunkte im Überblick: 

Abschiebungen

Sie sind nicht per se menschenrechtswidrig, gehen aber häufig mit Menschenrechtsverletzungen einher. Menschen, denen Abschiebungen drohen, den bislang obligatorischen Rechtsbeistand zu entziehen, ist deshalb unverantwortlich. Mit jeder Abschiebung nach Afghanistan verletzt die Bundesregierung aktuell das Völkerrecht, denn die Menschenrechtslage ist katastrophal. Dies gilt auch für Abschiebungen nach Syrien, solange die Menschenrechtslage dort unübersichtlich ist.  

Inhaftierung von Migrant*innen

Eine zeitlich unbegrenzte Inhaftierung ist immer rechtswidrig. Die Freiheit der Person ist grundlegendes Menschenrecht. Der Freiheitsentzug ist die schärfste Maßnahme eines Staates gegenüber den Menschen auf seinem Staatsgebiet. Der geplante zeitlich unbefristete Ausreisearrest im Anschluss an eine Strafhaft ist unverhältnismäßig. 

Familiennachzug

Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der europäischen Grundrechte-Charta, der UN-Kinderrechtskonvention und mehr. Die geplante Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte ist ein schwerwiegender Eingriff in dieses Recht und widerspricht Europa- und Völkerrecht sowie dem Kindeswohlvorrang. Der Staat soll nicht nur Eingriffe in das Privat- und Familienleben unterlassen, sondern diese Rechte auch aktiv sicherstellen.  

Zurückweisungen

Wenn ein Mensch an der deutschen Grenze Schutz beantragt, ist dessen Zurückweisung in den EU-Nachbarstaat nicht erlaubt. Stattdessen ist ein Asylverfahren einzuleiten oder die Person nach der Dublin-Verordnung in einen anderen EU-Mitgliedstaat zu überstellen. Die vorgeschlagenen Zurückweisungen sind brandgefährlich und könnten Kettenabschiebungen durch ganz Europa an die Außengrenzen auslösen.    

Sichere Herkunftsstaaten

Amnesty lehnt das Konzept "sicherer Herkunftsstaaten" grundsätzlich ab. Jeder Asylantrag muss einzeln in einem fairen und effektiven Verfahren geprüft werden, so wie es die Genfer Flüchtlingskonvention vorsieht: Dieser völkerrechtlichen Anforderung steht das Konzept der "sicheren Herkunftsstaaten" insgesamt entgegen.   

Amtsermittlungsgrundsatz

Dieser Grundsatz stellt bislang sicher, dass Behörden in Asylverfahren relevante Herkunftslandinformationen sammeln und für Gerichte Beweise für die Schutzbedürftigkeit suchen: Das führt zu schnelleren, effizienteren und rechtlich zutreffenderen Verfahren, was langfristig die Verwaltungsgerichte entlastet. Der jetzt vorgeschlagene Beibringungsgrundsatz soll die Beweisflicht den Asylsuchenden überhelfen, behördlichen Aufwand steigern, wäre mit EU-Recht nicht vereinbar und ein weiterer Abbau des Rechtsstaats.  

Bundesaufnahmeprogramme

Die Einstellung aller humanitären Aufnahmeprogramme – ob aus Afghanistan oder jedem anderen Land in der Welt – ist unvereinbar mit dem angeblichen Bekenntnis zu Menschenrechten und der humanitären Verantwortung der Bundesregierung. 

Rüstungsexporte

Nicht an wirtschafts- und außenpolitischen Interessen müssen Rüstungsexporte ausgerichtet werden, sondern an den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht. Hierzu braucht es ein restriktives Rüstungsexportkontrollgesetz, welches Rechtsverbindlichkeit, Transparenz und die Kontrolle von Regierungshandeln regelt. Wir fordern ein Ende von Rüstungsexporten, mit denen Menschenrechte oder das humanitäre Völkerrecht verletzt werden. Dies betrifft aktuell insbesondere Waffenlieferungen nach Israel. 

Völkerrecht

Amnesty begrüßt das Bekenntnis zu Multilateralismus und den Vereinten Nationen als Rückgrat der regelbasierten Ordnung. An der Sicherheit Israels als Staatsräson festzuhalten, ist mit dem Völkerrecht allerdings nicht zu vereinen.  

Klima

Das Bekenntnis zum Pariser Klimaschutzabkommen ist begrüßenswert. Es fehlen jedoch konkrete Strategien und Maßnahmen, um die globalen Klimaschutzziele zu erreichen. Zudem braucht es eine klare Nennung von Deutschlands globaler und historischer Verantwortung in der Klimakrise, um eine Verpflichtung zu global gerechter Klimapolitik abzuleiten. Grundsätzlich ist entscheidend, dass Klimaschutzmaßnahmen sozial gerecht gestaltet werden.  

Vorratsdatenspeicherung

Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung sowie der biometrische Abgleich von Bildern mit öffentlichen Fotos im Internet durch Sicherheitsbehörden stellen tiefgreifende und unverhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte dar. 

Lieferkettengesetz

Dessen Abschaffung ist ein gravierender Rückschlag für die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmenstätigkeit. Das nationale Lieferkettengesetz durch die Umsetzung der verwässerten EU-Lieferkettenrichtlinie zu ersetzen, ist keine adäquate Lösung. Dass die Berichtspflichten abgeschafft und Verstöße gegen Sorgfaltspflichten nur noch bei massiven Menschenrechtsverletzungen sanktioniert werden sollen, ist unverantwortlich. Das Vorgehen schafft das Gegenteil von Rechts- und Planungssicherheit für Unternehmen.   

Bundespolizei

Grundsätzlich begrüßen wir eine Reform des Bundespolizeigesetzes: Diese droht aber in die falsche Richtung zu gehen. Der gefährliche Bezug auf "Vertrauen" in die Polizei legt nahe, dass Maßnahmen für mehr polizeiliche Transparenz und Rechenschaftsablegung unangebracht seien. Richtig aber ist: Auch die Polizei muss kontrolliert werden – entsprechende Maßnahmen plant die Koalition nicht. Anlasslose Kontrollmöglichkeiten als Einfallstor für Racial Profiling gehören zudem längst abgeschafft: Diese Problematik erwähnt der Koalitionsvertrag nicht mal. Stattdessen droht die Ausweitung von Befugnissen. 

"Clankriminalität"

Die Bekämpfung sogenannter "Clankriminalität" ist ein Konstrukt ohne wissenschaftliche Grundlage und schürt rassistische Vorurteile. In diesem Zusammenhang ist die "vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen unklarer Herkunft" problematisch, da es sich um ein vages Konzept handelt und eine übermäßige Belastung der Betroffenen droht. Eine fällige kritische Auseinandersetzung mit Rassismus und anderen strukturellen Diskriminierungen in der Polizei sieht der Koalitionsvertrag indes nicht vor.   

Antisemitismus

Amnesty begrüßt ausdrücklich das Ziel, Maßnahmen zur Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus und zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland auf den Weg zu bringen. Eine Antisemitismus-Klausel im Förderrecht ist jedoch im Lichte der Meinungsfreiheit grundrechtlich bedenklich. Auch eine Regelausweisung bei "antisemitisch motivierten Straftaten" ist aus menschen- und verfassungsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig, zumal ein solcher Straftatbestand bislang nicht existiert. Diese Vorhaben ebnen politischen Missbrauch, um legitime Kritik an Israels Politik zu unterbinden. 

Gewaltkriminalität & Gewaltschutzstrategie

Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen und schutzbedürftige Personen sowie die Stärkung von Frauenrechten ist richtig und wichtig. Als übermäßig Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt müssen aber auch lesbische, schwule, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche Menschen begriffen werden. Um die Istanbul-Konvention endlich umzusetzen, fordern wir weiterhin die Reform der Vergewaltigungsgesetzgebung (Ja-heißt-Ja-Prinzip) sowie die Garantie des Schutzes von migrierten bzw. geflüchteten Frauen, deren Aufenthaltsstatus vom gewalttätigen Ehepartner abhängt – beides nennt der Vertrag nicht.  

Gemeinnützigkeitsrecht

Dessen Reform ist dringend erforderlich. Der Koalitionsvertrag bleibt jedoch vage, was diese Reform umfassen soll. Beispielsweise muss die Förderung von Menschenrechten explizit als gemeinnütziger Zweck anerkannt werden. Dabei steht zivilgesellschaftliches Engagement aktuell stark unter Druck, unter anderem durch Einschüchterungsversuche und Angriffe auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die Kommentierung von tagespolitischen Äußerungen muss für die Gemeinnützigkeit unschädlich sein.    

Schwangerschaftsabbrüche

Die Verbesserung der wohnortnahen Versorgungslage ist ein wichtiges Ziel. Was wiederum fehlt, ist die von UN-Menschenrechtsorganen geforderte Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen: §218 StGB muss endlich gestrichen werden. 

Rassismus

Die überfällige Neuauflage des Nationalen Aktionsplans gegen Rassismus ist richtig und wichtig. Nicht anerkannt wird hingegen struktureller und institutioneller Rassismus, auch nicht bezüglich völkerrechtlicher Verpflichtungen Deutschlands. Wir erwarten, dass die Stelle der Antirassismus-Beauftragten beibehalten wird und es sich bei der angesprochenen Rassismusdefinition um jene des Expert*innenrats Antirassismus handelt. 

Queeres Leben

Die Selbstverpflichtung, queeres Leben vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen, ist wichtig und menschenrechtlich geboten. Auch wenn im Vertrag das Stichwort "geschlechtliche Vielfalt" fällt, wird nur sexuelle Orientierung genannt – nicht aber Geschlechtsidentität, was trans, nicht-binäre und intergeschlechtliche Menschen ausschließen würde. Die Stelle des*der Queerbeauftragten sowie die Umsetzung des Aktionsplans "Queer leben" müssen beibehalten werden.

Weitere Informationen zur Bundestagswahl 2025 und unseren Forderungen an die neue Bundesregierung gibt es auf amnesty.de/bundestagswahl-2025

Das Bild zeigt mehrere Menschen mit Protestplakaten

Amnesty International protestierte anlässlich der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD in Berlin für die Wahrung der Menschenrechte (18. März 2025).