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Deutschland: Amnesty-Anliegen zur IMK-Frühjahrstagung 2024
© Amnesty International
Amnesty International in Deutschland äußert sich zu verschiedenen Menschenrechtsthemen, die Relevanz haben für die Frühjahrstagung 2024 der ständigen Konferenz der Innenminister*innen und -senator*innen der Länder. Sie findet vom 19. bis 21. Juni 2024 statt.
AUFNAHMEKAPAZITÄTEN STÄRKEN STATT WEITERE VERSCHÄRFUNGEN DISKUTIEREN
Die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge hat gezeigt: Deutschland kann vielen Menschen Schutz bieten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Obwohl in den letzten Monaten unzählige Verschärfungen für Geflüchtete beschlossen wurden, darunter die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das sog. "Rückführungsverbesserungsgesetz", die Erweiterung der "sicheren Herkunftsstaaten" und die Einführung einer Bezahlkarte, beobachtet Amnesty International wie die politischen Forderungen nach weiteren asylrechtlichen Verschärfungen nicht abbrechen. So werden derzeit beispielsweise Forderungen nach der Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten laut. Berichte und Analysen von Amnesty International zeigen: die Auslagerung von Asylverfahren ist weder rechtlich noch praktisch möglich und wird weder die Asylbehörden noch die Kommunen entlasten.
Stattdessen sollten Bund und Länder gemeinsam bestehende Aufnahmekapazitäten ausbauen und tatsächliche Lösungen für bestehende Herausforderungen finden. Dafür sollten Bund und Länder die Bedarfe auf lokaler Ebene anerkennen, ohne zu suggerieren, dass Lösungen in stärkerer Zuwanderungskontrolle zu finden seien. Zu menschenrechtskonformen Lösungen, die eine tatsächliche Entlastung der Behörden auf Ebene der Länder und Kommunen bewirken würden, zählen die Aufstockung der Mittel für Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte, eine Digitalisierung der Verwaltung, Verfahrensvereinfachungen zur Entlastung der Ausländerbehörden sowie eine kürzere Unterbringungsdauer von Schutzsuchenden und Ausreisepflichtigen in Erstaufnahmeeinrichtungen.[1]
Amnesty International bittet die Innenminister*innen der Länder, menschenrechtskonforme Lösungen zur tatsächlichen Entlastung der Länder und Kommunen voranzutreiben und gemeinsam mit dem Bund Aufnahmekapazitäten für Geflüchtete zu stärken.
BEZAHLKARTE: ENTWEDER NICHT EINFÜHREN ODER DISKRIMINIERUNGSFREI AUSGESTALTEN
Bei der Ministerpräsidentenkonferenz im November 2023 haben sich Bund und Länder auf die Einführung einer Bezahlkarte geeinigt. Der Bundestag hat die entsprechenden Änderungen im Asylbewerberleistungsgesetz im April 2024 beschlossen. Amnesty International erinnert Bund und Länder daran, dass mehrere UN-Ausschüsse bereits vor Einführung der Bezahlkarte mehrfach erhebliche Bedenken gegen das deutsche Asylbewerberleistungsgesetz geäußert haben, weil die Leistungshöhe für ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht ausreiche.[2] Aus Sicht von Amnesty International sollte das AsylbLG daher abgeschafft werden und Asylsuchende und abgelehnte Asylsuchende vollständig in das reguläre Sozialleistungssystem eingegliedert werden.
Mit Blick auf die Bezahlkarte ist Amnesty International besorgt, dass diese zu weiteren Einschränkungen beim Zugang zu Sozialleistungen bei Asylsuchenden führen könnte. Bei der Einführung einer solchen Bezahlkarte müssen die Landesregierungen im Dialog mit Städten und Kommunen dafür Sorge tragen, dass die Bezahlkarte diskriminierungsfrei ausgestaltet wird und nicht zu weiteren Verschlechterungen im Zusammenhang mit dem Recht auf soziale Sicherheit führt, wie bspw. zu de-facto Leistungskürzungen oder gar einen vollständigen Leistungsausschluss
Amnesty International bittet die Landesinnenminister*innen und -senator*innen, entweder von einer Einführung der Bezahlkarte abzusehen oder in Zusammenarbeit mit Städten und Kommunen sicherzustellen, dass die Einführung diskriminierungsfrei erfolgt und nicht zu weiteren Leistungskürzungen führt.
IRAN: UMFASSENDEN ABSCHIEBUNGSSTOPP BESCHLIESSEN
Verschwindenlassen, Folter und tödliche Gewalt gegen Protestierende sind im Iran weit verbreitet, ohne geahndet zu werden. Gerichte verhängen Körperstrafen, die der Folter gleichkommen, wie Auspeitschungen und Amputationen. Hinrichtungen werden als Mittel der Unterdrückung von Protest eingesetzt. 2023 wurden mindestens 853 Menschen hingerichtet, darunter Minderjährige.[3] Die Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten werden systematisch verletzt. Sicherheitskräfte setzen Vergewaltigungen und andere sexualisierte Gewalt zur Niederschlagung von Protesten ein.[4] Die fehlende Unabhängigkeit der Justiz und die grobe Willkürlichkeit bei Festnahmen und Verfahren machen es unmöglich, das Verfolgungsrisiko einer abgeschobenen Person vorab festzustellen. Amnesty International hat darüber hinaus begründete Hinweise darauf, dass Iraner*innen, die derzeit in den Iran zurückgeführt werden, einschließlich abgelehnter Asylsuchender, schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, darunter willkürlicher Verhaftung und Inhaftierung, gewaltsamen Verschwindenlassens, Folter und anderer Misshandlungen, willkürlicher Strafverfolgung und unfairer Gerichtsverfahren, sowie Verurteilungen zu Auspeitschung, Gefängnis und/oder Tod. Erkenntnissen von Amnesty International zufolge werden Iraner*innen, die im "westlichen Ausland" Zuflucht gesucht haben, allein aufgrund dessen als potenziell regierungskritisch eingestuft.
Amnesty International bedauert deshalb ausdrücklich, dass der formelle Abschiebungsstopp in den Iran bei der letzten Innenminister*innenkonferenz im November 2023 wider Erwarten nicht verlängert worden ist. Im Jahr 2023 wurden insgesamt 7 Menschen in den Iran abgeschoben.[5] Im ersten Quartal 2024 sind bereits vier Abschiebungen aus Bayern in den Iran durchgeführt worden.[6]
Amnesty International fordert die Landesinnenminister*innen und -senator*innen auf, erneut einen formellen und umfassenden Abschiebungsstopp in den Iran zu beschließen und von jeglicher Überstellung iranischer Staatsangehöriger in ein Drittland, in dem die Gefahr besteht, in den Iran zurückgeführt zu werden, abzusehen.
AFGHANISTAN: FORMELLEN ABSCHIEBUNGSSTOPP BESCHLIESSEN, HUMANITÄRE AUFNAHME FORTSETZEN UND ERWEITERN
Amnesty International begrüßt, dass angesichts der katastrophalen Menschenrechtslage[7] sowie der mutmaßlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit derzeit keine Abschiebungen nach Afghanistan stattfinden. Allerdings wäre es aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit dringend notwendig, einen formellen und umfassenden Abschiebungsstopp zu beschließen. Dieser muss angesichts der ausführlich dokumentierten Menschenrechtsverletzungen sowie der Tatsache, dass Afghan*innen allein aufgrund des Umstands, dass sie sich im Ausland befunden haben, ins Visier der Taliban geraten können[8], ohne Ausnahmen und für alle Bevölkerungsgruppen gelten.
Der Forderung unterschiedlicher politischer Akteur*innen, humanitäre Aufnahmeprogramme für Menschen aus Afghanistan einzustellen[9], stellt sich Amnesty International dezidiert entgegen. Nachdem Pakistan im Oktober 2023 mit der massenhaften Abschiebung "undokumentierter" Afghan*innen begann, kündigte die neu gewählte Regierung im April nun eine "Phase 2" der Abschiebungen an, die auch Inhaber*innen einer afghanischen Bürgerkarte (ACC) betrifft. Vor diesem Hintergrund droht rund 800.000 weiteren Menschen die Abschiebung nach Afghanistan.[10] Umso dringlicher ist eine zügige Aufnahme besonders schutzbedürftiger Afghan*innen. Amnesty bedauert das Auslaufen der Landesaufnahmeprogramme zur humanitären Aufnahme schutzsuchender Afghan*innen in Thüringen[11], Hessen[12] und Bremen[13] ausdrücklich. Länder ohne Landesaufnahmeprogramme sollten diese dringend (wieder-)aufsetzen. Das Landesaufnahmeprogramm für Berlin sollte über die Frist des 31.12.2024 hinaus verlängert werden.[14] Über Bundes- und Landesaufnahmeprogramme hinaus sollten Zugangswege für gefährdete Afghan*innen über das Ortskräfte- und das Resettlementverfahren, § 22 AufenthG sowie einen zügigen Familiennachzug offengehalten werden.
Aufgrund der aktuellen Lage bittet Amnesty International die Innenminister*innenkonferenz darum, einen formellen Abschiebungsstopp nach Afghanistan zu beschließen. Landesaufnahmeprogramme für besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan müssen ausgebaut und zügig umgesetzt werden.
SUDAN: FORMELLEN ABSCHIEBUNGSSTOPP BESCHLIESSEN
Der Konflikt zwischen der sudanesischen Armee (Sudan Armed Forces - SAF) und der paramilitärischen Gruppierung Rapid Support Forces (RSF) hält an. Eine Beendigung ist nicht absehbar. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) sind bislang fast 2 Mio. Menschen in Nachbarländer geflohen. Gleichzeitig wurden rund 9 Mio. Menschen innerhalb des Landes vertrieben und rund 15.000 Personen getötet.[15] Die Konfliktparteien verstoßen eklatant gegen das humanitäre Völkerrecht, indem sie teils gezielt Zivilpersonen, u.a. aufgrund ethnischen Zuschreibungen, angreifen. Die Zivilbevölkerung ist besonders von den Zusammenstößen betroffen, wobei über 25 Mio. Menschen als Folge des Konfliktes auf humanitäre Hilfe angewiesen und 4 Mio. Kinder akut von Tod durch Unterernährung bedroht sind. Amnesty International hat wahllose Angriffe und rechtswidrige Tötungen von Zivilist*innen, Angriffe auf medizinische und humanitäre Einrichtungen und sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen dokumentiert.[16]
Amnesty International fordert die Landesinnenminister*innen und -senator*innen auf, einen formellen Abschiebungsstopp in den Sudan zu beschließen und von jeglicher Überstellung sudanesischer Staatsangehöriger in ein Drittland, in dem die Gefahr besteht, in den Sudan zurückgeführt zu werden, abzusehen.
IRAK: FORMELLEN ABSCHIEBUNGSSTOPP FÜR JESID*INNEN BESCHLIESSEN
Für die über 200.000 Jesid*innen, die im Irak in Flüchtlingscamps leben, ist die Lage weiterhin prekär. Jesid*innen leben in extremer Armut unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Wegen fehlender Personenstandurkunden ist die Bewegungsfreiheit und der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen vieler Jesid*innen eingeschränkt. Die Sicherheitslage in der Region Sinjar im Nordirak ist weiterhin volatil.[17] Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk hat angesichts der prekären Lage im Irak seine Empfehlungen aktualisiert.[18] Amnesty International begrüßt daher ausdrücklich, dass mehrere Bundesländer bereits einen formellen Abschiebungsstopp beschlossen haben, darunter Thüringen[19], Nordrhein-Westfalen[20] und Rheinland-Pfalz[21]. Nun muss eine bundesweit einheitliche Lösung folgen.
Amnesty International fordert die Landesinnenminister*innen und -senator*innen auf, einen formellen Abschiebungsstopp für Jesid*innen in den Irak zu beschließen und von jeglicher Überstellung von Jesid*innen in ein Drittland, in dem die Gefahr besteht, in den Irak zurückgeführt zu werden, abzusehen.
VENEZUELA: FORMELLEN ABSCHIEBUNGSSTOPP BESCHLIESSEN
Zur Unterdrückung jeglicher Kritik bedient sich die Regierung Venezuelas einer systematischen Repressionspolitik mit willkürlichen Verhaftungen, außergerichtlichen Hinrichtungen und Folter.[22] Im Zuge der anstehenden Präsidentschaftswahlen beobachtet Amnesty International einen alarmierenden Anstieg der Verfolgung von Regierungskritiker*innen.[23] Nahezu alle dieser Verbrechen bleiben straffrei.[24] Die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Venezuela lebt weiterhin in extremer Armut ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung und ausreichenden Lebensmitteln.[25] Angesichts der multiplen Menschenrechtskrise in Venezuela haben knapp 8 Millionen Menschen das Land verlassen, einige von ihnen suchen in Deutschland Schutz.[26] Obwohl sich die menschenrechtliche Lage in Venezuela nicht verbessert hat, ist die Zahl der positiven Asylentscheidungen in den letzten Jahren drastisch gesunken.[27]
Angesichts der sich weiter zuspitzenden menschenrechtlichen und humanitären Lage in Venezuela fordert Amnesty International die Landesinnenminister*innen und -senator*innen auf, einen formellen Abschiebungsstopp nach Venezuela zu beschließen und von jeglicher Überstellung venezolanischer Staatsangehöriger in ein Drittland, in dem die Gefahr besteht, nach Venezuela zurückgeführt zu werden, abzusehen.
TADSCHIKISTAN: FORMELLEN ABSCHIEBUNGSSTOPP FÜR PAMIRI UND MENSCHEN AUS DER REGION GORNO-BADACHSCHAN BESCHLIESSEN
Seit Mai 2022 gehen die tadschikischen Behörden verstärkt gegen Angehörigen der Minderheit der Pamiri sowie Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Demonstrierende in der Autonomen Region Gorno-Badachschan (GBAO) in Tadschikistan vor. Friedliche Proteste werden gewaltsam aufgelöst. Hunderte Menschen wurden willkürlich festgenommen und inhaftiert.[28] Eine substanzielle Zahl der Pamiri hat in Deutschland Schutz gesucht. Bei einer Abschiebung nach Tadschikistan sind Menschen aus der Region GBAO der Gefahr von willkürlichen Festnahmen, Folter, Misshandlungen, Verschwindenlassen und unfairen Gerichtsverfahren ausgesetzt.
Amnesty International fordert die Landesinnenminister*innen und -senator*innen auf, einen formellen Abschiebungsstopp für Pamiri und Menschen aus GBAO nach Tadschikistan zu beschließen und von jeglicher Überstellung in Drittländer wie Russland abzusehen, in denen die Gefahr besteht, nach Tadschikistan zurückgeführt zu werden.
KEINE DUBLIN-RÜCKÜBERSTELLUNGEN NACH POLEN, LETTLAND UND LITAUEN
Amnesty International hat mehrere Berichte zur Situation von Schutzsuchenden in Polen[29], Lettland[30] und Litauen[31] veröffentlicht und schwere Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtswidrige Pushbacks dokumentiert, die das Non-Refoulement Prinzip verletzen. Weitere Gesetzesänderungen auf nationaler Ebene, wie beispielsweise die Legalisierung von Pushbacks in nationalem Recht, sind aus Sicht von Amnesty International völkerrechtswidrig.[32]
Amnesty International appelliert deshalb an die Innenminister*innen und -senator*innen der
Länder sowie an das Bundesinnenministerium, aktuell keine Schutzsuchenden gemäß der
Dublin III-Verordnung nach Polen, Lettland und Litauen zu überstellen.
BEKÄMPFUNG VON STRUKTURELLEN DISKRIMINIERUNGEN UND RECHTSEXTREMISMUS
Insbesondere staatliche Akteur*innen stehen in der Verantwortung, Ausgrenzung und Gewalt nicht selbst zu befeuern und entmenschlichende Äußerungen nicht stehen zu lassen. Die Länder und der Bund sind gefragt, um systemische Diskriminierungen in Recht und Praxis anzugehen. Bei der Erarbeitung konkreter Maßnahmen muss die Perspektive von Betroffenen und Selbstorganisationen eine zentrale Rolle spielen. Die Empfehlungen des UN-Antirassismus-Ausschusses[33] sind umfassend umzusetzen.
Amnesty International fordert den Bund und die Länder auf, Rassismus, Antisemitismus und andere Formen struktureller Diskriminierung als solche zu benennen und ihnen mit konkreten Maßnahmen entgegenzutreten.
AUSEINANDERSETZUNG MIT STRUKTURELLER DISKRIMINIERUNG INNERHALB DER POLIZEI
Die neuste Studie der Europäischen Grundrechteagentur verweist darauf, dass in Deutschland Ansätze gegen die Reproduktion von Rassismus bei der Polizei individualisierend verbleiben, strukturelle Veränderungen fehlen überwiegend.[34] Institutionelle Mängel bei der Verhütung, Untersuchung und Verurteilung von Hasskriminalität bestehen fort, beispielsweise indem nicht ausreichend sichergestellt ist, dass keine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet.[35] Auch erfasst die Statistik zu politisch motivierter Kriminalität und Hasskriminalität nicht ausreichend. Insbesondere fehlt eine Definition von Hasskriminalität, welche die Perspektive der Betroffenen zentriert. Darüber hinaus werden rassistische Annahmen als "Erfahrungswissen" von Strafverfolgungsbehörden verfestigt. Ein Beispiel hierfür ist die Konstruktion von sogenannter "Clankriminalität", die einer wissenschaftlichen Grundlage entbehrt und rassistische Vorurteile schürt. Als rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit ist die Kennzeichnungspflicht im Bund und den verbleibenden Bundesländern einzuführen.[36] Amnesty International begrüßt die Einrichtung von unabhängigen Polizeibeauftragten. Ihre Ausgestaltung erfüllt jedoch nicht alle menschenrechtlichen Anforderungen.[37] Dazu gehören insbesondere die Ausstattung mit ausreichenden Ermittlungsbefugnissen und Einflussmöglichkeiten auf den Verfahrensverlauf nach einer Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft oder Disziplinarbehörde. Zudem sind Rechtsgrundlagen für anlasslose und verdachtsunabhängige Kontrollen wie § 22 Abs. 1a BPolG als Einfallstor für Racial Profiling abzuschaffen. Auch fehlt es an verpflichtenden, regelmäßigen Antidiskriminierungs-Trainings in der Aus- und Fortbildung von Polizist*innen auf Landes- und auf Bundesebene.
Amnesty International fordert den Bund und die Länder auf, rechtliche, politische und institutionelle Maßnahmen gegen systemische Diskriminierungen in der Polizei zu ergreifen, welche über die Aufzählung einzelner Taten hinausgehen. Fortschritte müssen anhand von Indikatoren gemessen werden, die sich an den Auswirkungen und nicht an der Absicht orientieren. Dazu gehört eine umfassende Strategie gegen Hasskriminalität, welche die Perspektive von Betroffenen zentriert sowie die Einrichtung unabhängiger Untersuchungsmechanismen, die allen menschenrechtlichen Anforderungen gerecht werden.
WEITERE MENSCHENRECHTLICHE ANLIEGEN IM BEREICH POLIZEI- UND VERSAMMLUNGSRECHT
Amnesty International beobachtet im Bereich des Polizei- und Versammlungsrechts eine Erosion von Freiheitsrechten, der es seitens der Innenminister*innen und -senator*innen entschieden entgegenzuwirken gilt. Besonders kritikwürdig ist die Anordnung von Präventivgewahrsam gegenüber friedlichen Demonstrierenden sowie Bestrebungen, diese grundrechtsintensive Maßnahme auszuweiten. Auch polizeiliche Schmerzgriffe dürfen nicht zu Abschreckungszwecken gegen friedliche Protestierende eingesetzt werden. Amnesty International erinnert außerdem daran, dass es einer sorgfältigen und umfassenden Prüfung etwaiger milderer Mittel vor der Aussprache von Versammlungsverboten als letztes Mittel bedarf. Insbesondere darf es nicht zu pauschalen Versammlungsverboten gegenüber bestimmtem Gruppen unter Nichtbeachtung des Rechts auf Nichtdiskriminierung kommen. Amnesty International ist sehr besorgt über Berichte von Polizeigewalt gegenüber friedlich Demonstrierenden bei Versammlungen in Solidarität mit Palästinenser*innen.[38]
Der Einsatz von Distanz-Elektroimpulsgeräten (DEIG, sog. Tasern) kann zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod führen, insbesondere wenn Risikofaktoren, wie Herz-Kreislauf-Probleme oder Drogen-Intoxikation, hinzukommen. Er ist daher speziell ausgebildeten Einheiten vorzubehalten und nur verhältnismäßig, wenn anderenfalls der Einsatz tödlicher Gewalt notwendig wäre. Polizeiliche Anweisungen, Schulungen und Maßnahmen zur Rechenschaftsablegung müssen diesen hohen Risiken Rechnung tragen.[39]
Eine Ausweitung von Überwachungsbefugnissen lässt sich beim Einsatz sogenannter "Staatstrojaner" zur Quellen-TKÜ und/oder Online-Durchsuchung beobachten. Aus Sicht von Amnesty International ist der Einsatz dieser Technologien im Rahmen der Vorfeldaufklärung nicht verhältnismäßig; die Ämter für Verfassungsschutz sollten von ihrer Nutzung grundsätzlich absehen. Noch unbekannte IT-Schwachstellen sollten nicht zur Installation von Überwachungstechnologie genutzt, sondern an den Hersteller gemeldet werden. Der Einsatz der Späh-Software "Pegasus" und "Predator" gegen Medien, Oppositionelle und Menschenrechtsverteidiger*innen - auch in Deutschland durch ausländische Behörden[40] - zeigt: Es bedarf Maßnahmen, um den Schutz der Bevölkerung gegen Überwachung und transnationale Repression zu verbessern. Dies betrifft insbesondere Medien, Zivilgesellschaft und Politik. Es bedarf öffentlicher Aufklärungsmaßnahmen, IT-Sicherheitstrainings für Risikogruppen und der strafrechtlichen Aufklärung von Überwachungsvorfällen.
Amnesty International fordert den Bund und die Länder auf, die Versammlungsfreiheit als Kernelement gelebter Demokratie zu schützen und friedlichen Demonstrierenden nicht mit übermäßigen Repressionen zu begegnen. Der Einsatz von Präventivgewahrsam und Distanz-Elektroimpulsgeräten sowie die Verwendung von "Staatstrojanern" ist menschenrechtskonform zu regulieren. Gegen unrechtmäßige Späh-Angriffe müssen Gegenmaßnahmen entwickelt und umgesetzt werden.
Fußnoten:
[1] Amnesty International: "Fünf-Punkte-Plan für eine funktionierende Asylpolitik", 03.11.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/deutschland-neuausrichtung-der-asylpolitik-gefordert.
[2] Siehe bspw. der UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung: "Concluding observations on the combined twenty-third to twenty-sixth reports of Germany", Recommendation No. 37, S.8, CERD/C/DEU/CO/23-26 abrufbar unter: https://documents.un.org/doc/undoc/gen/g23/261/64/pdf/g2326164.pdf?token=gIfQqG7xpCOksDvqhw&fe=true.
[3] Amnesty International, "Iran: 853 Menschen allein im Jahr 2023 hingerichtet", 04.04.2024,
abrufbar unter: https://www.amnesty.de/iran-todesstrafe-853-hinrichtungen-im-jahr-2023.
[4] Amnesty International, "Iran: Sicherheitskräfte vergewaltigen Protestierende der Bewegung Frau, Leben, Freiheit", 06.12.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/iran-sicherheitskraefte-vergewaltigung-protestierende-frau-leben-freiheit.
[5] Deutscher Bundestag, Drucksache 20/11471, 17.05.2024, abrufbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/20/114/2011471.pdf.
[6] Pro Asyl: "Abschiebungen in den Iran sind absolut gefährlich", 18.04.2024, abrufbar unter https://www.proasyl.de/news/abschiebungen-in-den-iran-sind-absolut-gefaehrlich/, Deutscher Bundestag, Drucksache 20/11471, 17.05.2024, abrufbar unter: https://dserver.bundestag.de/btd/20/114/2011471.pdf.
[7] Amnesty International, "Afghanistan: Neues Bündnis für den Schutz der Menschenrechte", 03.03.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/afghanistan-neues-buendnis-fuer-den-schutz-der-menschenrechte; Amnesty International, "The Fate of Thousands Hanging in the Balance: Afghanistan’s Fall into the Hands of the Taliban", 21.09.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-09/Amnesty-Briefing-Afghanistan-Taliban-Menschenrechtsverletzungen-September-, 2021.pdf; Amnesty International and International Commision of Jurists, "The Taliban´s war on women", März 2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2023-05/Amnesty-Bericht-Afghanistan-Frauen-Maedchen-Verbrechen-gegen-die-Menschlichkeit-Mai-2023.pdf.
[8]Friederike Stahlmann, "Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen", März 2020, abrufbar unter: https://www.fluechtlingsrat-mv.de/wp-content/uploads/2021/06/AFG_Monitoring-Studie_FINAL.pdf.
[9]Vgl. bspw. CDU/CSU, "Pressemitteilung: Die Bundesregierung darf den ungebremsten Anstieg der irregulären Migration nicht länger ignorieren", 21.08.2023, abrufbar unter: https://www.cducsu.de/presse/pressemitteilungen/die-bundesregierung-darf-den-ungebremsten-anstieg-der-irregulaeren-migration-nicht-laenger-ignorieren.
[10] Amnesty International: "Pakistan: Government must stop ignoring global calls to halt unlawful deportation of Afghan refugees", 04.04.2024, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2024/04/pakistan-government-must-halt-deportation-of-afghan-refugees/.
[11] Flüchtlingsrat Thüringen e.V., "Familiennachzug - Afghanistan Aufnahmeprogramm", November 2022, abrufbar unter: https://www.fluechtlingsrat-thr.de/themen/familiennachzug-afghanistan-aufnahmeprogramm.
[12]Landespräsidium Gießen, "Für afghanische Familienangehörige", abrufbar unter: https://rp-giessen.hessen.de/fuer-afghanische-familienangehoerige.
[13] Freie Hansestadt Bremen - Der Senator für Inneres und Sport, "Erlass e23-07-01 Aufnahme afghanischer Verwandter vom 31.07.2023", abrufbar unter: https://buergerservice.bremen.de/sixcms/media.php/9/e23-07-01%20Aufnahme%20afghanischer%20Verwandter%20Internet.pdf.
[14]Landesamt für Einwanderung - Land Berlin, "Aufnahmeregelung für afghanische, syrische und irakische Flüchtlinge mit Verwandten in Berlin", abrufbar unter: https://www.berlin.de/einwanderung/einreise/gefluechtete/artikel.872605.php.
[15] UNHCR, "Sudan Situation", 09.10.2023, abrufbar unter: https://data.unhcr.org/en/situations/sudansituation; UNITAMS, "SRSG for Sudan and Head of UNITAMS Volker Perthes remarks to the Security Council on 13 September 2023", 13.09.2023, abrufbar unter: https://unitams.unmissions.org/en/srsg-sudan-and-head-unitams-volker-perthes-remarks-security-council-13-september-2023.
[16] Amnesty International, "’Death Came To Our Home’: War Crimes and Civilian Suffering In Sudan", 03.08.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/sudan-angriffe-zivilpersonen-kriegsverbrechen-beider-konfliktparteien.
[17]Pro Asyl und Wadi, "Stellungnahmen & Gutachten: Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidennen und Jesiden im Irak", April 2024, abrufbar unter 2024_04_23_Zur-Lage-der-Jesidinnen-und-Jesiden-im-Irak.pdf (proasyl.de).
[18]UNHCR, "International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq, Update I", 30.01.2024, abrufbar unter: https://www.refworld.org/policy/countrypos/unhcr/2024/en/147247.
[19] Freistaat Thüringen, Beauftragte für Integration, Migration und Flüchtlinge, "Thüringen schränkt Abschiebung von Jesiden ein", 04.01.2024, abrufbar unter https://bimf.thueringen.de/beauftragte/medieninfo/detailseite/thueringen-schraenkt-abschiebung-von-jesiden-ein.
[20]Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, "Verlängerung des Abschiebungsstopps für Jesid:innen vom 18.Dezember 2023", 19.03.2024, abrufbar unter https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/downloads/Themen_a-Z/Abschiebung_und_Ausreise/20240321Verlaengerung_Abschiebungsstopp_Jesid_innen.pdf.
[21]Rheinland-Pfalz, Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration, "Abschiebungsstopp nach § 60A Abs. 1 AufenthG in den Irak für Frauen und Minderjährige jesidischer Volks-bzw. Religionszugehörigkeit", 29.02.2024, abrufbar unter https://fluechtlingsrat-rlp.de/wp-content/uploads/2024/03/RS_Abschiebestopp_fuer_Frauen_und_Minderjaehrige_jesidischer_Volks-_bzw._Religionszugehoerigkeit-1.pdf
[22] Amnesty International, "Life Detained – Politically-motivated arbitrary detentions continue in Venezuela", 29.08.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/amr53/7077/2023/en/.
[23] Amnesty International, "Alarming persecution of critical and dissident voices", 15.04.2024, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/amr53/7949/2024/en/.
[24] UNHRC, "Independent International Fact-Finding Mission on the Bolivarian Republic of Venezuela", abrufbar unter: https://www.ohchr.org/en/hr-bodies/hrc/ffmv/index.
[25]Amnesty International, "International protection needs for Venezuelan nationals", 19.10.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/amr53/7331/2023/en/.
[26] Inter-Agency Platform for Refugees and Migrants from Venezuela, "Refugees and Migrants from Venezuela", 05.08.2023, abrufbar unter: https://www.r4v.info/en/refugeeandmigrants; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, "Antrags- Entscheidungs- und Bestandsstatistik", 31.10.2023, abrufbar unter: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/Asylgeschaeftsstati….
[27] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, "Asylgeschäftsstatistik 2021, 2022, 2023", 01.10.2023, abrufbar unter: https://www.bamf.de/DE/Themen/Statistik/Asylzahlen/AsylGesStatistik/asylgeschaeftsstatistik-node.html.
[28] Amnesty International: "Tajikistan: Prominent members of Pamiri minority arbitrarily detained, tortured and unfairly convicted", 21.09.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/eur60/7218/2023/en/.
[29] Amnesty International, "Poland: Cruelty Not Compassion, at Europe’s Other Brothers", 11.04.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/eur37/5460/2022/en/.
[30] Amnesty International, "Lativa: Return Home or Never Leave the Woods", 13.10.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2022-10/Amnesty-Bericht-Lettland-Schutzsuchende-Inhaftierung-Folter-Abschiebungen-Oktober-2022.pdf.
[31] Amnesty International, "Lithuania: Forced Out or Locked Up", 27.06.2022, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2022-06/Amnesty-Bericht-Litauen-Pusbacks-Misshandlung-von-Schutzsuchenden-Juni-2022.pdf.
[32] Amnesty International, "Litauen: Parlament erlaubt völkerrechtswidrige Pushbacks", 20.04.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/litauen-parlament-erlaubt-voelkerrechtswidrige-pushbacks.
[33] Committee on the Elimination of Racial Discrimination, "Concluding observations on the combined twenty-third to
twenty-sixth reports of Germany", 21.12.2023, CERD/C/DEU/CO/23-26, abrufbar unter: https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/treatybodyexternal/Download.aspx?symbolno=CERD%2FC%2FDEU%2FCO%2F23-26&Lang=en.
[34] European Union Agency for Fundamental Rights, "Addressing Racism in Policing", 2024, S. 48, abrufbar unter: https://fra.europa.eu/en/publication/2024/addressing-racism-policing.
[35] s. Amnesty International, "Germany, Submission to the UN Committee on the Elimination of Racial Discrimination. 111th Session, 20 November 2023 - 8 December 2023", Oktober 2023, S. 11-14, abrufbar unter: https://www.amnesty.org/en/documents/eur23/7333/2023/en/.
[36] Amnesty International, "Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen", September 2018, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2019-03/Amnesty-Positionspapier-Kennzeichnungspflicht-fuer-Polizist_innen-November-2018.pdf.
[37] Amnesty International, "Positionspapier Unabhängige Untersuchungsmechanismen in Fällen von rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland", 21.11.2018, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/informieren/positionspapiere/deutschland-amnesty-positionspapier-zu-unabhaengigen.
[38] Aljazeera, "Punched, choked, kicked: German police crack down on student protests", 25.05.2024, abrufbar unter: https://www.aljazeera.com/features/2024/5/25/punched-choked-kicked-german-police-crack-down-on-student-protests; Deutsche Welle, "Berlin police clear pro-Palestinian demo, open probes", 24.05.2024, abrufbar unter: https://www.dw.com/en/berlin-police-clear-pro-palestinian-demo-open-probes/a-69172985, Tagesschau "UN-Menschenrechtsrat: Kritik an Deutschlands Umgang mit Pro-Palästina-Demos", 9.11.2023, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/europa/genf-menschenrechtsrat-100.html.
[39] Amnesty International, "Positionspapier zu Distanz-Elektroimpulsgeräten", 21.01.2021, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/informieren/positionspapiere/positionspapier-zu-distanz-elektroimpulsgeraeten.
[40] Amnesty International, "Untersuchung "Predator Files" enthüllt Angriffe durch Überwachungssoftware - auch in Deutschland", 09.10.2023, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/untersuchung-predator-files-angriff-privatsphaere-deutschland.