Amnesty Report 07. April 2021

Sudan 2020

Das Bild zeigt eine Frau mit Kopftuch, die ein Plakat in der Hand hält mit der Aufschrift "The oppression of women is the oppression of the whole society"

Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020

Im Jahr 2020 wurden positive Reformen auf den Weg gebracht. So wurden einige Formen der Körperstrafe abgeschafft und die weibliche Genitalverstümmelung unter Strafe gestellt. Die Sicherheitskräfte gingen mit exzessiver und teils tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende vor. Oppositionelle und Angehörige der Regierung des abgesetzten Präsidenten Omar al-Bashir wurden willkürlich über längere Zeiträume hinweg inhaftiert. Millionen Menschen waren aufgrund der Maßnahmen im Rahmen des Lockdowns zur Bekämpfung von Covid-19 auf Nothilfe angewiesen. Die staatlichen Stellen unternahmen nichts, um die Zivilbevölkerung in Darfur, in Südkordofan und im Osten des Landes vor den schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen zu schützen, die Milizen bei ihren Angriffen verübten.

Hintergrund

Ein Jahr nach dem Sturz von Präsident Omar al-Bashir hatte die Übergangsregierung weiterhin Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung des Erbes der früheren Regierung - einer Zeit, die durch Korruption, Wirtschaftskrisen, Menschenrechtsverletzungen und fehlende Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht gekennzeichnet war.

Zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie rief die Regierung im März 2020 einen nationalen Gesundheitsnotstand aus und ordnete u. a. eine nächtliche Ausgangssperre, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Grenzschließungen an.

Im August 2020 unterzeichneten die Regierung und die Sudanesische Revolutionäre Front (Sudan Revolutionary Front), ein Bündnis von neun bewaffneten Oppositionsgruppen, ein Friedensabkommen. Die Bündnispartner der Front waren im ganzen Land aktiv, auch in den von bewaffneten Konflikten heimgesuchten Regionen der Bundesstaaten Blue Nile, Darfur und Südkordofan. Einige bewaffnete Gruppen unterzeichneten das Abkommen allerdings nicht. Die Sudanesische Volksbefreiungsbewegung/Armee-Abdul Wahid Nur (Sudan People’s Liberation Movement/Army-Abdul Wahid Nur) lehnte Gespräche über einen Frieden rundweg ab. Mit der Sudanesischen Volksbefreiungsbewegung-Nord (Sudan People’s Liberation Movement-North), die Teile von Südkordofan und Blue Nile kontrolliert, konnte ebenfalls kein Abkommen erzielt werden.

Rechte von Frauen und Mädchen

Die Regierung unternahm Schritte, um den Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen zu verbessern. Sie verabschiedete im Juni 2020 einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats mit der Agenda "Frauen, Frieden und Sicherheit", die Leitlinien zur Verhinderung von geschlechtsspezifischer Gewalt im Rahmen bewaffneter Konflikte und zur Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen enthält.

Im Juli 2020 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, mit dem die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung unter Strafe gestellt wurde.

Exzessive Gewaltanwendung

Im September 2020 trieb die Polizei in der Stadt Nertiti (Bundesstaat Zentral-Darfur) Demonstrierende unter Einsatz von scharfer Munition auseinander. Zwei Protestierende wurden getötet, vier weitere erlitten Verletzungen. Die Demonstrierenden protestierten dagegen, dass die Regierung nichts unternahm, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Unbekannte hatten wenige Stunden zuvor die Stadt angegriffen und ein 14-jähriges Mädchen sowie einen 24-jährigen Mann getötet. Der Sicherheitsausschuss des Bundesstaates Zentral-Darfur sicherte zu, beide Vorfälle zu untersuchen. Bei Jahresende lagen jedoch keine weiteren Informationen über den Stand der Untersuchung vor.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Der Nationale Untersuchungsausschuss, der den Auftrag hatte, die Vorfälle vom 3. Juni 2019 zu untersuchen, bei denen Demonstrierende getötet und verletzt worden waren, hatte seine Tätigkeit Ende 2020 noch nicht abgeschlossen. Am 3. Juni 2019 hatte die militärische Sondereinheit Rapid Support Forces im Verbund mit anderen Sicherheitskräften vor dem Hauptquartier des Militärs in Khartum friedlich Demonstrierende mit scharfer Munition beschossen. Mindestens 100 Menschen wurden getötet, 700 wurden verletzt. Viele Überlebende und Angehörige von Getöteten glaubten nicht, dass der Untersuchungsausschuss ihnen zu Gerechtigkeit und Wiedergutmachung verhelfen würde.

Die Regierung gab im Februar 2020 bekannt, dass der frühere Präsident Omar al-Bashir an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ausgeliefert werde, um sich dort wegen Anklagen im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Darfur zu verantworten. Der IStGH hatte bereits 2009 und 2010 Haftbefehle gegen Omar al-Bashir ausgestellt. Der IStGH hatte auch Haftbefehl gegen zwei andere Funktionäre von al-Bashirs früherer Regierungspartei, der Nationalen Kongresspartei (National Congress Party – NCP), erlassen, nämlich 2007 gegen Ahmad Harun und 2012 gegen Abdel Raheem Muhammad Hussein. Die Übergangsregierung kam ihrer Pflicht zur Auslieferung der Männer an den IStGH nach Den Haag jedoch nicht nach und hatte das Römische Statut des IStGH immer noch nicht ratifiziert.

Im Juni 2020 wurde Ali Muhammad Ali Abd-Al-Rahman (auch unter dem Namen Ali Kushayb bekannt), ein ehemaliger Anführer der Janjawid-Milizen, an den IstGH überstellt. Dort muss er sich wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten, die er in Darfur begangen haben soll. Abd-Al-Rahman hatte sich selbst gestellt.

Folter und andere Misshandlungen

Trotz der weitverbreiteten Praxis der Folter in den vergangenen 30 Jahren hat die Übergangsregierung das UN-Übereinkommen gegen Folter nicht ratifiziert.

Im Juli 2020 brachte die Regierung rechtliche Reformen zum Schutz gewisser Rechte auf den Weg. Sie schaffte einige Vorschriften des Strafgesetzes von 1991 ab. Auspeitschungen und einige andere Formen der Körperstrafe als Strafe für verschiedene Verbrechen sind nun verboten. Außerdem ist Apostasie (Abfall vom Glauben) nicht länger ein Straftatbestand.

Willkürliche Inhaftierung

Mindestens 40 Menschen befanden sich weiterhin willkürlich in Haft. Unter ihnen waren auch Oppositionelle und Mitglieder der früheren Regierung.

Am 2. Juni 2020 wurde der Oppositionelle und Sprecher der Bewegung Future Movement Group, Muammar Musa Mohammed Elgarari, in Khartum festgenommen, weil er Mitglieder des Ausschusses Committee for Removal of Empowerment schikaniert haben soll. Der Ausschuss hat den Auftrag, die NCP aufzulösen und ihre Vermögenswerte zu konfiszieren. Ende 2020 befand sich Elgarari nach wie vor ohne Anklageerhebung auf einer Polizeiwache in der Stadt Khartum-Nord in Gewahrsam.

Mindestens 40 hochrangige Führungspersonen und Mitglieder der NCP, die 14 Monate lang ohne Anklageerhebung inhaftiert waren, wurden schließlich angeklagt und im Juli 2020 vor ein Sonderstrafgericht gestellt. Sie waren nach dem Militärputsch 2019 festgenommen und im Kober-Gefängnis in Khartum-Nord inhaftiert worden. Im Juni 2020 gab der Generalstaatsanwalt bekannt, dass in den kommenden Wochen mindestens fünf Verfahren an die Gerichte übergeben würden, darunter auch die Verfahren gegen Personen, die wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen in den Jahren der Herrschaft von Omar al-Bashir angeklagt seien. Das erste Gerichtsverfahren begann am 21. Juli und stand im Zusammenhang mit dem Militärputsch von 1989, mit dem Omar al-Bashir an die Macht gekommen war. Das Verfahren dauerte Ende 2020 noch an.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Ärzt_innen und andere im Gesundheitswesen Beschäftigte wurden von Patient_innen oder ihren Angehörigen, die ihnen die Schuld für die Fehler der Regierung im Umgang mit der Corona-Pandemie anlasteten, tätlich und verbal attackiert. Die sudanesische Ärzt_innen-Vereinigung Committee of Sudanese Doctors berichtete im Mai 2020, dass es von März bis Mai landesweit 28 Angriffe auf medizinisches Personal gegeben habe. Die Regierung erließ im Juni 2020 Rechtsvorschriften zum Schutz des medizinischen Personals und stellte zur Verhinderung weiterer Übergriffe spezielle Sicherheitskräfte ab.

Vom 18. April bis Anfang Juni 2020 galt in Khartum eine vollständige Ausgangssperre, und die Menschen konnten das Haus nur verlassen, um lebensnotwendige Dinge zu besorgen. Tausende Menschen, die im informellen Sektor arbeiteten, hatten Schwierigkeiten ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als die Bewegungsfreiheit zwischen den Staaten eingeschränkt wurde. Die Maßnahmen führten zu einer Gefährdung der Menschenrechte – vor allem der Rechte auf Nahrung, Gesundheit, Wasser und Sanitärversorgung – ausgegrenzter und diskriminierter Gruppen. Zu ihnen gehörten u. a. Binnenvertriebene, Geflüchtete, Migrant_innen, Frauen und Kinder. Der unabhängige UN-Experte für die Menschenrechtssituation im Sudan erklärte im September 2020, dass 9,3 Mio. Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen seien, ein deutlicher Anstieg gegenüber 2015, als es noch 5,2 Mio. Menschen gewesen waren.

Recht auf Gesundheit

Die Corona-Pandemie förderte das Ausmaß der Unterfinanzierung des staatlichen Gesundheitswesens zutage. Es zeigte sich, dass in den Krankenhäusern wichtiges Zubehör für persönliche Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte fehlte.

Rechtswidrige Tötungen

Die Gewalt in Darfur, Südkordofan und im Osten des Sudan riss nicht ab. Im Zuge der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen kam es zu rechtswidrigen Tötungen, sexualisierten Gewalttaten, Folter und anderen Misshandlungen. Außerdem wurde Privateigentum zerstört, und Dörfer wurden geplündert und niedergebrannt. Bis Ende 2020 wurden mindestens 20 solcher Vorfälle dokumentiert. Die Sicherheitskräfte und die Übergangsregierung trafen wiederholt keine Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung noch schritten sie rechtzeitig ein, um eine Eskalation der Kämpfe und Menschenrechtsverstöße zu verhindern.

Angehörige einer Miliz der arabischen nomadisierenden ethnischen Gruppe der Rizeigat griffen am 21. April 2020 die Bewohner_innen des in der Nähe liegenden Ortes Tamar Bol-Jimeil, nordöstlich der Stadt Zalingei (Bundesstaat Zentral-Darfur) an. Einige Angreifer sollen Militäruniformen getragen haben. Zwei Menschen kamen ums Leben, 14 wurden verletzt. Mindestens 18 Häuser sollen niedergebrannt und mehr als 400 Familien vorübergehend vertrieben worden sein.

Am 13. Juli 2020 wurden bei einem Angriff einer bewaffneten Milizengruppe auf das Lager für Binnenvertriebene Fata Borno im Bundesstaat Nord-Darfur zehn Teilnehmende einer Protestaktion getötet und mindestens 17 Menschen verletzt. Die Milizen sollen den Sicherheitskräften der Regierung nahestehen. Der Angriff fand während eines friedlichen achttägigen Sitzstreiks statt, mit dem die Teilnehmenden u. a. mehr Sicherheit, mehr Schutz ihrer Anbaukulturen vor Angriffen von Milizen und anderen bewaffneten Gruppen sowie die Entlassung von Beamt_innen, die der abgesetzten Regierung nahestanden, forderten.

Bei einem Vergeltungsangriff einer bewaffneten Gruppe wurden am 25. Juli 2020 in der Ortschaft Masteri (Bundesstaat West-Darfur) und Umgebung mindestens 60 Menschen der ethnischen Gruppe der Massalit getötet und mehr als 54 verletzt. Die staatlichen Stellen griffen nicht ein und unternahmen auch nichts, um den mehrere Stunden dauernden Angriff zu verhindern. Sie sicherten zwar eine Untersuchung des Angriffs zu, entsprechende Ergebnisse wurden jedoch bis Ende 2020 nicht veröffentlicht.

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