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Regionalkapitel Europa und Zentralasien 2021
- Einschränkungen von Rechten
- Unabhängigkeit der Justiz
- Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
- Menschenrechtsverteidiger_innen
- Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen
- Diskriminierung
- Rechte von Frauen
- Rechte auf Gesundheit und soziale Sicherheit
- Menschenrechte in Konfliktgebieten
- Klimakrise
- Menschenrechte im europäischen und globalen Kontext
- Empfehlungen
Berichtszeitraum: 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021
In Europa und Zentralasien war 2021 der Autoritarismus auf dem Vormarsch. Die beispiellose Unverfrorenheit, mit der einige Staaten die Menschenrechte missachteten, ließ befürchten, dass menschenrechtliche Verpflichtungen bald nur noch auf dem Papier existieren und multilaterale Organisationen sich in bedeutungslose Foren für inhaltsleere "Dialoge" verwandeln könnten. In einigen Ländern machten anhaltende Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, massive Einschränkungen der Freiheitsrechte und die Unterdrückung Andersdenkender den autoritären Trend besonders deutlich. Menschenrechtsverteidiger_innen waren in zahlreichen Ländern Einschränkungen, ungerechtfertigter Strafverfolgung und Einschüchterung ausgesetzt.
In weiten Teilen Europas und Zentralasiens war der öffentliche Diskurs von rassistischen Narrativen über Migration durchdrungen, und die politisch Verantwortlichen setzten weiterhin auf harte Maßnahmen. Die Verstärkung der EU-Außengrenzen schritt rasch voran, und viele Länder verkündeten öffentlich, wie viele rechtswidrige Zurückweisungen (Pushbacks) sie an ihren Grenzen vornahmen. Dabei beschönigte der Begriff "Pushback" ein Vorgehen, das häufig mit starker Gewaltanwendung einherging. Zwölf EU-Mitgliedstaaten forderten die EU-Kommission auf, noch stärker in den Grenzschutz zu investieren.
Der Rassismus gegen Schwarze, muslimische und jüdische Menschen sowie gegen Angehörige der Rom_nja nahm zu, und in vielen Ländern gab es Gegenreaktionen auf die "Black Lives Matter"-Proteste des Vorjahres. Angst vor Migration verschärfte Vorurteile gegen Muslim_innen, Rom_nja wurden in der Coronapandemie noch stärker ausgegrenzt, und Jüd_innen erlebten eine deutliche Zunahme verbaler und tätlicher Angriffe. Die Impfstoff- und Klimapolitik vieler europäischer Länder gegenüber dem Rest der Welt wies eindeutig rassistische Züge auf. Im Gegensatz dazu waren die Impfquoten in Europa relativ hoch, wobei sie in manchen osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern auf niedrigem Niveau verharrten.
Rassismus ging häufig mit Sexismus und Homosexuellenfeindlichkeit einher. In manchen Ländern gab es Fortschritte bei den Frauenrechten, andere setzten ihre rückschrittliche Politik fort. Ein weiteres Zeichen für das Erstarken autoritärer Systeme waren Gesetzesinitiativen, die Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI+) stigmatisierten und ihre Rechte einschränkten. In einigen Ländern drohten autoritäre Tendenzen in Verbindung mit den Folgen der Coronapandemie und der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan den Kampf für die Rechte von Frauen und LGBTI+ um Jahrzehnte zurückzuwerfen.
Rückschritte in der Innenpolitik wurden von einer zunehmend aggressiven Außenpolitik begleitet. Die Nachwirkungen des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan forderten weitere Todesopfer. Der Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine Ende 2021 ließ einen Krieg in Europa wahrscheinlicher werden.
Einschränkungen von Rechten
Übergriffe der staatlichen Stellen und die Missachtung bewährter Kontrollmechanismen waren Teil des Trends zu Autoritarismus. In Russland wurde der wichtigste Oppositionspolitiker des Landes, Alexej Nawalny, auf der Grundlage politisch motivierter Anklagen zu einer langen Haftstrafe verurteilt, und die Regierung ignorierte die Aufforderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), ihn unverzüglich freizulassen. Die belarussische Regierung zwang mit einem falschen Bombenalarm ein Verkehrsflugzeug zur Landung, um den im Exil lebenden Journalisten Roman Protasewitsch festnehmen zu können, der sich an Bord befand.
Einige Regierungen nutzten weiterhin die Coronapandemie, die "Migrationskrise" oder die Bekämpfung von Terrorismus bzw. Extremismus als Vorwand, um die Grenzen rechtmäßigen Handelns zu übertreten. So riefen Polen, Litauen und Lettland Ausnahmezustände aus, die nicht den internationalen Standards entsprachen und die Arbeit von Medien und NGOs an den Grenzen massiv einschränkten.
Die Regierungen nutzten immer ausgefeiltere technische Hilfsmittel, um gegen Kritiker_innen vorzugehen. Recherchen von Amnesty International und der NGO Forbidden Stories im Rahmen des Pegasus-Projekts enthüllten, dass Ungarn, Polen, Aserbaidschan und Kasachstan die Spionagesoftware Pegasus des israelischen Unternehmens NSO Group gegen Menschenrechtsverteidiger_innen, Journalist_innen und weitere Personen einsetzten. Die deutsche Regierung gab zu, die Software gekauft zu haben. In Georgien gelangten Tausende Mitschriften heimlich aufgezeichneter Gespräche an die Öffentlichkeit, die bewiesen, dass der Geheimdienst Journalist_innen, zivilgesellschaftliche Aktivist_innen, Politiker_innen, Geistliche und Diplomat_innen umfassend überwachte.
In manchen Fällen hatten frühere Taten Konsequenzen. In Nordmazedonien wurden der einstige Chef der Geheimpolizei und weitere Personen wegen rechtswidriger Abhörpraktiken schuldig gesprochen. Der EGMR urteilte, dass das massenhafte Abfangen privater Kommunikation in Großbritannien gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße, weil es an Schutzvorkehrungen mangele, um Missbrauch zu verhindern. Gleichzeitig nahm die Schweiz ein neues Antiterrorgesetz an, das der Bundespolizei weitreichende Befugnisse einräumte. Der Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan löste kein Umdenken im Hinblick auf staatliche Übergriffe bei der Überwachung oder andere Formen staatlicher Verstöße im Zuge der Terrorbekämpfung aus.
Tausende Menschen demonstrierten am 10. Oktober 2021 in der polnischen Hauptstadt Warschau gegen eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, in der nationalem Recht Vorrang vor EU-Recht eingeräumt wurde.
© IMAGO / ZUMA Wire
Unabhängigkeit der Justiz
Die Übergriffe des Staates sich insbesondere in Versuchen, die Unabhängigkeit der Justiz auszuhöhlen. Polen widersetzte sich weiterhin den Bemühungen europäischer Organisationen, die Entkernung der richterlichen Unabhängigkeit aufzuhalten, und bescherte der EU ihre bislang größte Rechtsstaatlichkeitskrise. In einer Reihe von Urteilen stellten der EGMR und der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) fest, dass die Umstrukturierungen der polnischen Justiz nicht die Anforderungen an ein faires Gerichtsverfahren erfüllten. Als Reaktion darauf entschied das polnische Verfassungsgericht, dass polnisches Recht Vorrang vor EU-Recht habe und das Recht auf ein faires Verfahren gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar sei mit der polnischen Verfassung. Daraufhin forderte die Generalsekretärin des Europarats Polen auf, zu erklären, wie das Land vor diesem Hintergrund die wirksame Umsetzung seiner Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleisten werde.
Noch schlimmer war die Lage in Belarus, wo die Behörden die Justiz systematisch dazu missbrauchten, Folteropfer und Zeug_innen von Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen. In Georgien ließen die Festnahme führender Oppositioneller, unter ihnen der frühere Präsident Micheil Saakaschwili, und ihre erniedrigende Behandlung in der Haft Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz aufkommen. Multilaterale Organisationen wiesen darauf hin, dass eine neue Verfassung in Kirgisistan die Unabhängigkeit der Justiz beeinträchtigen könnte.
Die Türkei ergriff lediglich kosmetische Maßnahmen in Bezug auf die Justiz, ging jedoch nicht gegen gravierende Mängel des Systems vor. Das Land weigerte sich, zentrale Urteile des EGMR umzusetzen, und sah sich Ende des Jahres mit einem selten eingesetzten Vertragsverletzungsverfahren konfrontiert.
Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Viele Regierungen Europas versuchten, Kritiker_innen mundtot zu machen, zivilgesellschaftliche Organisationen zum Schweigen zu bringen und Demonstrationen zu verhindern.
Recht auf freie Meinungsäußerung
In manchen Ländern stellten gegen Medienschaffende, vor allem Frauen, gerichtete Drohungen, Hetzkampagnen und Online-Schikanen die größten Gefahren für die Medienfreiheit dar. In Bosnien und Herzegowina waren Journalist_innen mit fast 300 Verleumdungsklagen konfrontiert, die zum größten Teil von Politiker_innen ausgingen, in Kroatien gab es mehr als 900 solcher Klagen. In Bulgarien, Tschechien und Slowenien setzten die Behörden die öffentlich-rechtlichen Medien unter Druck.
In Polen waren Verfechter_innen von Frauen- und LGBTI-Rechten unvermindert Schikane und Kriminalisierung ausgesetzt. In Rumänien wurden Reporter_innen, die zu Korruption recherchierten, allein wegen ihrer journalistischen Arbeit von der Polizei vernommen. Im Kosovo ließ ein österreichisches Energieunternehmen seine Anklage gegen zwei Umweltschützer_innen fallen, die öffentlich angeprangert hatten, wie sich der Bau von Wasserkraftwerken auf die Flüsse des Landes auswirken würde.
Weiter im Osten wurden unzählige zivilgesellschaftliche Aktivist_innen und Journalist_innen, die abweichende Meinungen zu äußern versuchten, wegen rechtmäßiger Aktivitäten strafrechtlich verfolgt. Gleichzeitig stellten weitere Länder die Beleidigung von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unter Strafe. Kasachstan und Russland griffen zunehmend auf Gesetze zur Extremismusbekämpfung zurück, um kritische Stimmen zu unterdrücken.
In Belarus inhaftierten die Behörden nach wie vor Aktivist_innen und Journalist_innen und eliminierten so gut wie jede Möglichkeit, sich frei zu äußern und friedlich Kritik zu üben. Wiederholt wurden Vorwürfe laut, die Behörden würden Regierungskritiker_innen auch im Exil verfolgen: Entsprechende Nachweise legten nahe, dass der Mord an dem Journalisten Pavel Sheremet von belarussischen Behörden geplant worden war. Den belarussischen Exilanten Witali Schischow fand man erhängt in einem Park in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, nachdem er zuvor über Drohungen seitens des belarussischen Geheimdiensts geklagt hatte. Einige turkmenische Internetnutzer_innen berichteten, man habe sie dazu gezwungen, auf den Koran zu schwören, dass sie für den Zugang zum Internet keine virtuellen privaten Netzwerke nutzen würden.
Recht auf Versammlungsfreiheit
Viele Länder verhängten 2021 unverhältnismäßige Beschränkungen für friedliche Versammlungen bzw. behielten entsprechende Regeln bei. Gleichzeitig ging die Polizei häufig mit rechtswidriger Gewalt oder diskriminierenden Maßnahmen gegen Protestierende vor. Griechenland nutzte nach wie vor die Pandemie als Vorwand für eine überzogene Einschränkung des Rechts auf Versammlungsfreiheit, indem u. a. öffentliche Versammlungen im Freien zum dritten Mal pauschal verboten und mehrere friedliche Demonstrationen aufgelöst wurden. Auch in Zypern blieb ein pauschales Versammlungsverbot in Kraft. Die türkischen Behörden schränkten das Recht auf Versammlungsfreiheit weiterhin willkürlich ein, inhaftierten willkürlich Hunderte Personen, unterzogen sie rechtswidriger Gewalt und verfolgten sie strafrechtlich, nur weil sie friedlich ihre Rechte ausgeübt hatten.
In Belarus existierte das Recht auf gewaltfreien Protest faktisch nicht mehr, und Tausende Menschen flohen aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen aus dem Land. In Russland wurden selbst Personen, die allein eine Mahnwache abhielten, regelmäßig festgenommen, und in Moskau setzten die Behörden Berichten zufolge Technologien zur Gesichtserkennung ein, um friedliche Demonstrierende zu identifizieren und zu bestrafen. In Kasachstan führten strenge Gesetze dazu, dass Anträge auf Abhaltung friedlicher Demonstrationen regelmäßig abgelehnt wurden.
In Serbien gab es 2021 keine Fortschritte bezüglich der Strafanzeigen von 40 Demonstrierenden, die bei Polizeieinsätzen im Vorjahr Verletzungen erlitten hatten. In Großbritannien entschied die Staatsanwaltschaft, Personen, die im Vorjahr an "Black Lives Matter"-Protesten in Nordirland teilgenommen hatten, nicht strafrechtlich zu verfolgen, und die Polizei unternahm Schritte, um 72 Geldstrafen zurückzuerstatten, die gegen Teilnehmende verhängt worden waren. Doch wurde in Großbritannien auch ein umstrittener Entwurf für ein Polizeigesetz eingebracht, der die Befugnisse der Polizei drastisch erweitern und ihr erlauben würde, Demonstrationen über Gebühr einzuschränken. Bei Verstößen waren drakonische Strafen vorgesehen.
Ende 2021 kam es in Belgien, den Niederlanden, Österreich, Italien und Kroatien zu zahlreichen Protesten gegen Coronamaßnahmen. Manche Demonstrationen waren von Gewalt gekennzeichnet und führten zu Dutzenden Festnahmen und Verletzten sowohl unter den Protestierenden als auch unter den Polizeikräften.
Recht auf Vereinigungsfreiheit
Das Recht auf Vereinigungsfreiheit stand in zahlreichen Ländern unvermindert unter Druck. In Ungarn wurde zwar ein Gesetz zurückgenommen, das NGOs willkürliche Einschränkungen auferlegte, ein neues Gesetz erregte jedoch ebenso Besorgnis. Ein weiteres Gesetz, das Hilfe für Migrant_innen unter Strafe stellte, verstieß nach Ansicht des EuGH gegen EU-Recht. In Griechenland galten für die Registrierung von NGOs, die mit Migrant_innen und Flüchtlingen arbeiteten, weiterhin strenge Regeln. Die türkischen Behörden nutzten die Empfehlungen eines internationalen Gremiums zur Bekämpfung und Verhinderung von Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Proliferation (Financial Action Task Force) als Vorwand für neue Gesetze, die der Drangsalierung von NGOs Vorschub leisteten.
In Ländern im Osten der Region setzten die Behörden gesellschaftliches Engagement immer häufiger mit politischen Aktivitäten gleich, und bei Verstößen gegen die restriktiven Vereinigungsgesetze drohten Haftstrafen. Russland verschärfte 2021 die Gesetze zu "ausländischen Agenten" und "unerwünschten Organisationen" und setzte sie systematisch dazu ein, um zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien lahmzulegen oder zu verbieten. So ordneten die Behörden auf Grundlage des Gesetzes über "ausländische Agenten" die Auflösung der angesehenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial an.
In Belarus waren bis zum Jahresende mehr als 270 zivilgesellschaftliche Organisationen willkürlich aufgelöst oder zwangsweise geschlossen worden. In einem BBC-Interview warf Präsident Lukaschenko die NGOs mit der politischen Opposition in einen Topf und versprach, er werde "den ganzen Abschaum massakrieren", den der Westen finanziert habe. In Usbekistan konnten Verstöße gegen die strengen Bestimmungen bezüglich der "gesetzwidrigen Bildung einer öffentlichen Vereinigung oder einer religiösen Organisation" weiterhin mit Haftstrafen geahndet werden.
Menschenrechtsverteidiger_innen
Es gab weiterhin Staaten, die gegen ihre Pflicht verstießen, ein sicheres und förderliches Umfeld für Menschenrechtsverteidiger_innen zu gewährleisten. Menschen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzten, sahen sich mit behördlichen Auflagen, strafrechtlicher Verfolgung und Polizeischikanen konfrontiert. Verteidiger_innen der Rechte von Frauen und von LGBTI+ waren Drangsalierungen, ungerechtfertigter Strafverfolgung, Drohungen und Hetzkampagnen ausgesetzt.
Menschenrechtsverteidiger_innen, die für die Rechte von Migrant_innen eintraten, wurden u. a. in Frankreich, Griechenland, Italien, Malta und Zypern weiterhin kriminalisiert. In Italien und Griechenland gingen Gerichtsverfahren gegen Einzelpersonen und NGOs auch 2021 weiter. Einige Menschenrechtsverteidiger_innen wurden auch freigesprochen, so z. B. die Aktivist_innen, die sich 2017 auf dem Londoner Flughafen Stansted angekettet hatten, um einen Abschiebeflug zu verhindern.
In Polen legte die Staatsanwaltschaft Rechtsmittel gegen den Freispruch von drei LGBTI-Aktivistinnen ein, die wegen der "Verletzung religiöser Gefühle" angeklagt waren. Sie hatten ein Poster plakatiert, das die Jungfrau Maria mit einem Heiligenschein in Regenbogenfarben zeigte. Frauenrechtlerinnen, die für den Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen eintraten, waren Hetzkampagnen und Morddrohungen ausgesetzt.
In der Türkei waren Menschenrechtsverteidiger_innen mit haltlosen Ermittlungen, Strafverfahren und Verurteilungen konfrontiert. Besonders deutlich zeigte sich dies am Fall von Osman Kavala, der nach vier Jahren Haft mit neuen Vorwürfen überzogen wurde und inhaftiert blieb, obwohl der EGMR angeordnet hatte, ihn unverzüglich freizulassen.
In Russland waren Menschenrechtsverteidiger_innen weiterhin im ganzen Land drakonischen Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt. Gegen den Menschenrechtsanwalt Iwan Pawlow wurde die willkürliche Anklage erhoben, er habe "die Ergebnisse eines Ermittlungsverfahrens preisgegeben". Als er das Land verließ, setzte man ihn umgehend auf eine "Fahndungsliste". Der EGMR befand, die russischen Behörden hätten die Entführung und Ermordung der Journalistin Natalja Estemirowa nicht ausreichend untersucht. In Belarus wurden Aktivist_innen aus allen Gesellschaftsschichten strafrechtlich verfolgt. Ende 2021 befanden sich sieben Mitglieder der führenden belarussischen Menschenrechtsorganisation Viasna in Haft. Sie waren willkürlich festgenommen und entweder bereits zu langen Haftstrafen verurteilt worden oder warteten noch auf ihr Verfahren. Der aserbaidschanische Regierungskritiker Huseyn Abdullayev befand sich weiterhin im Gefängnis, obwohl die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen erklärt hatte, seine Inhaftierung sei willkürlich und er müsse umgehend freigelassen werden.
Schutzsuchende an der polnisch-belarussischen Grenze am 14. November 2021
© IMAGO / ITAR-TASS
Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen
In Europa und Zentralasien wurden 2021 neue Grenzzäune gebaut und Schutzregelungen aufgeweicht. Tod und Folter an den Grenzen wurden weithin akzeptiert, weil man sich davon eine abschreckende Wirkung versprach.
Griechenland stufte die Türkei als "sicheres Land" für Asylsuchende aus Afghanistan, Somalia und anderen Ländern ein. Die Versuche Dänemarks, syrischen Flüchtlingen die Aufenthaltserlaubnis zu entziehen und sie in ihr Herkunftsland zurückzuschicken, markierten einen neuen Tiefpunkt. Einige Länder schoben afghanische Asylsuchende noch ab, als die Machtübernahme durch die Taliban bereits unmittelbar bevorstand.
Die Behörden in Belarus schufen eine neue Migrationsroute in die EU, indem sie Migrant_innen und Flüchtlinge anlockten und sie dann gewaltsam an die Grenzen zu Polen, Litauen und Lettland verbrachten. Diese Länder setzten daraufhin das Recht, an der Grenze Asyl zu beantragen, außer Kraft und legalisierten Pushbacks. Ende 2021 saßen zahlreiche Menschen im Grenzgebiet fest, und mehrere starben an Unterkühlung. Auch auf den "alten" Migrationsrouten von der Türkei nach Griechenland, von Marokko nach Spanien sowie auf der zentralen Mittelmeerroute nach Italien kam es weiterhin zu gewaltsamen Pushbacks. Menschen, die aus Seenot gerettet worden waren, mussten lange warten, bis sie an Land gehen durften.
Viele Länder gaben offiziell bekannt, wie viele Menschen sie von der Einreise "abgehalten" hatten, was in vielen Fällen bedeutete, dass man sie massenhaft zurückgeschickt hatte, ohne ihre Schutzansprüche zu prüfen. Die Türkei und Ungarn sprachen von Zehntausenden Menschen. An den Grenzen von Belarus zu Polen, Lettland und Litauen waren es mehr als 40.000.
Auch andere Länder schoben Flüchtlinge und Migrant_innen rechtswidrig ab, ohne deren individuelle Umstände zu prüfen, obwohl sie dies offiziell bestritten, wie z. B Griechenland, Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Ethnischen Kasach_innen, die aus der Region Xinjiang in China flohen, drohte Strafverfolgung, wenn sie die kasachische Grenze ohne gültige Papiere überschritten.
In einigen Fällen urteilten Gerichte, dass dieses Vorgehen rechtswidrig war. So entschieden die Verfassungsgerichte in Serbien und Kroatien, dass die Polizei die Rechte derjenigen verletzt habe, die von Pushbacks betroffen waren. Der EGMR stellte fest, Kroatien habe die Rechte eines afghanischen Mädchens verletzt, das gestorben war, als es nach der Abschiebung nach Serbien 2017 von einem Zug erfasst worden war. Gerichte in Italien und Österreich entschieden, dass Kettenabschiebungen von Asylsuchenden nach Slowenien und Kroatien einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellten. Doch trotz dieser Urteile hatten Pushbacks und Misshandlungen nur in seltenen Fällen strafrechtliche Konsequenzen.
Die EU und Italien beteiligten sich weiter an der Finanzierung von "Pullbacks", bei denen die libysche Küstenwache Flüchtlinge und Migrant_innen abfing. Bis Oktober hatte die Küstenwache mehr als 27.000 Menschen im zentralen Mittelmeer aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht, wo ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.
Diskriminierung
Rassismus und die Diskriminierung von Schwarzen, muslimischen und jüdischen Menschen sowie Angehörigen der Rom_nja traten in verschiedenen Zusammenhängen immer offener zutage. In Großbritannien bestritt ein Regierungsbericht, dass institutioneller Rassismus existiere. der Entwurf für ein neues Polizeigesetz eine noch stärkere Diskriminierung von Schwarzen Menschen, Rom_nja und Sinti_zze sowie Traveller-Gemeinschaften befürchten ließ. Die dänischen Behörden strichen den Begriff "Ghetto" aus der Sozialgesetzgebung, begrenzten bei der Vergabe von Sozialwohnungen jedoch weiterhin die Zahl der Bewohner_innen mit "nicht-westlichem Hintergrund". Österreich und Frankreich intensivierten die Überwachung muslimischer Gemeinschaften, durchsuchten Moscheen, schlossen Organisationen, die Islamfeindlichkeit beobachteten, und rechtfertigten dies mit dem Kampf gegen Radikalisierung und Terrorismus. In Deutschland wurden bis zum 5. November 1.850 antisemitische und andere hassmotivierte Straftaten gegen Jüd_innen angezeigt, die höchste Zahl seit 2018. Auch in Großbritannien, Österreich, Frankreich und Italien nahmen diese Straftaten stark zu.
Rom_nja
Rom_nja wurden weiterhin schikaniert, diskriminiert und in Bereichen wie Bildung, Wohnen und Beschäftigung ausgegrenzt. Ihre Gemeinschaften wurden nach wie vor übermäßig stark von der Polizei kontrolliert, während die Beschulung der Kinder unterdurchschnittlich war. Bei Polizeieinsätzen in Tschechien und in Griechenland starb jeweils ein Rom unter dramatischen Umständen, die an den Tod von George Floyd in den USA erinnerten.
Nach jahrelangen Bemühungen von Aktivist_innen stimmte der tschechische Senat für ein Gesetz zur Entschädigung Tausender Romnja, die zwischen 1966 und 2012 zwangssterilisiert worden waren. Die slowakische Regierung entschuldigte sich offiziell für die Zwangssterilisation Tausender Romnja, hatte aber noch keinen wirksamen Mechanismus für Entschädigungen eingerichtet.
Rechte von LGBTI+
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI+) wurden in vielen Ländern Europas und Zentralasiens weiterhin Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Mehrere Staaten, wie z. B. Polen und Ungarn, planten oder verabschiedeten Gesetze, die LGBTI+ stigmatisieren und diskriminieren. Der serbische Präsident lehnte es ab, ein Gesetz über eingetragene Lebenspartnerschaften zu unterzeichnen. In Bulgarien, der Türkei und anderen Ländern taten sich politisch Verantwortliche mit homofeindlichen Äußerungen und Handlungen hervor.
In Turkmenistan und Usbekistan waren einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern strafbar. Das russische Gesetz gegen "homosexuelle Propaganda" leistete der Diskriminierung von LGBTI+ Vorschub, und in Georgien starb ein Journalist, als eine aufgebrachte Menschenmenge die Büroräume der Organisation Tiflis Pride überfiel.
Rechte von Frauen
Sexuelle und reproduktive Rechte
In Polen, Andorra, San Marino, Malta und anderswo war eine zentrale menschenrechtliche Forderung weiterhin, Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen zu gewährleisten. In Polen erklärte das Verfassungsgericht im Januar 2021 ein Gesetz für verfassungswidrig, das einen Schwangerschaftsabbruch im Falle einer schweren Schädigung des Fötus erlaubte. Im Laufe des Jahres nahmen 34.000 Frauen Kontakt zu der NGO Abortion without Borders auf, die Frauen Reisen ins Ausland ermöglicht, damit sie sich dort in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche beraten und betreuen lassen können.
Andorra hielt die Verleumdungsklage gegen eine Menschenrechtsverteidigerin aufrecht, die bei einem UN-Expert_innentreffen das totale Abtreibungsverbot in ihrem Land kritisiert hatte. Eine positive Entwicklung gab es in San Marino: Dort wurden Schwangerschaftsabbrüche nach einer Volksbefragung legalisiert.
Gewalt gegen Frauen und Mädchen
Was die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen betraf, gab es 2021 unterschiedliche Tendenzen. Während die Türkei aus der Istanbul-Konvention austrat, ratifizierten Moldau und Liechtenstein dieses wegweisende Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Slowenien verbesserte sein Vergewaltigungsgesetz, indem es das Zustimmungsprinzip integrierte. Auch in den Niederlanden, Spanien und der Schweiz wurde an Reformen der Vergewaltigungsgesetze gearbeitet.
Dennoch war Gewalt gegen Frauen noch immer weitverbreitet. Die russische Frauenorganisation Consortium of Women’s NGOs stellte fest, dass 66 Prozent der zwischen 2011 und 2019 ermordeten Frauen Opfer häuslicher Gewalt geworden waren. Das usbekische Innenministerium lehnte einen Antrag der NGO NeMolchi, die um Angaben zur strafrechtlichen Verfolgung in Fällen von Gewalt gegen Frauen gebeten hatte, mit der Begründung ab, dies sei "nicht sinnvoll". In Aserbaidschan wurden Frauenrechtlerinnen und Journalistinnen erpresst und mit frauenfeindlichen Hetzkampagnen überzogen. Zudem wurden Kundgebungen von Frauen, die gegen häusliche Gewalt protestierten, gewaltsam aufgelöst. In Zentralasien erfuhren Bestrebungen, die "traditionellen" Werte hochzuhalten, durch die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan eine Stärkung. In der Ukraine waren zahlreiche homofeindliche Angriffe zu verzeichnen, und in den Regionen des Donbass, die nicht von der Regierung kontrolliert wurden, mangelte es an Einrichtungen und Hilfsangeboten für Überlebende häuslicher Gewalt.
Rechte auf Gesundheit und soziale Sicherheit
Die Auswirkungen der Coronapandemie waren in Europa und Zentralasien 2021 immer noch deutlich spürbar, in vielen Ländern wurden diese jedoch durch hohe Impfquoten abgemildert, insbesondere in den EU-Mitgliedstaaten. Unterfinanzierte und überbelastete Gesundheitssysteme gerieten durch die Pandemie unter immensen Druck.
Angesichts weiterer Infektionswellen und neuer Mutationen wichen manche Staaten von der Europäischen Menschenrechtskonvention ab, einige erklärten erweiterte medizinische Notstände und verhängten neue Lockdowns sowie andere Einschränkungen.
Die Impfquoten entwickelten sich ganz unterschiedlich, was häufig einer großflächigen Impfskepsis geschuldet war. So waren in Island, Malta, Portugal und Spanien mehr als 80 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, während die Quote in Armenien, Belarus, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Kirgisistan, Tadschikistan und der Ukraine unter 30 Prozent lag. In einigen Fällen hatten Migrant_innen ohne regulären Aufenthaltsstatus und Bevölkerungsgruppen, die seit jeher von Diskriminierung betroffen waren, Schwierigkeiten, an Impfungen zu gelangen. Es starben weiterhin unverhältnismäßig viele ältere Menschen an den Folgen von Covid-19.
Die europäischen Länder sagten umfangreiche Impfstoffspenden zu. Großbritannien, Norwegen, die Schweiz und die EU verschärften jedoch die globale Ungleichverteilung von Impfstoffen, indem sie die Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte auf Covid-19-Technologien, die vor allem in den Ländern des globalen Südens zu einer höheren Impfstoffproduktion führen würde, weiterhin blockierten.
Im Donbass in der Ukraine stieg die Zahl der Patient_innen Berichten zufolge so drastisch an, dass die lokalen medizinischen Einrichtungen, die zudem unter einem erheblichen Mangel an medizinischem Personal, Material und Impfstoffen litten, überfordert waren. Die turkmenischen Behörden behaupteten weiterhin, in ihrem Land gebe es keine Coronafälle, führten aber im Juli eine Impfpflicht für Erwachsene ein.
Infolge der Pandemie gerieten immer mehr Arbeiter_innen in eine Notlage, weil es an umfassenden sozialen Sicherungssystemen mangelte. Besonders gefährdet waren Frauen und Arbeitsmigrant_innen. In Österreich litten Migrantinnen, die ältere Menschen zu Hause betreuten, unter Ausbeutung, diskriminierenden und unfairen Löhnen sowie überlangen Arbeitszeiten. In Italien mussten Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich, die Bedenken wegen unsicherer Arbeitsbedingungen in Pflegeheimen äußerten oder versuchten, sich gewerkschaftlich zu organisieren, Disziplinarmaßnahmen und Repressalien befürchten. In Armenien verschärfte die Pandemie die schweren Belastungen für Frauen und Mädchen, die unbezahlte Pflegearbeit leisteten.
Menschenrechte in Konfliktgebieten
An den Konfliktherden in den ehemaligen Sowjetrepubliken änderte sich 2021 so gut wie nichts, und die Entwicklung in diesen Ländern stockte weiterhin. Die Rechte der Bevölkerung auf Freizügigkeit und Gesundheit waren diesseits und jenseits der Kontaktlinien stark beeinträchtigt.
Im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wurden im Laufe des Jahres mehr als 100 Menschen durch Minen getötet oder verletzt, die armenische Streitkräfte in an Aserbaidschan abgetretenen Gebieten verlegt hatten. Kriegsverbrechen, die während des Konflikts verübt worden waren, blieben ungeahndet, und die Opfer erfuhren keine Gerechtigkeit. Mehr als 40 ethnische Armenier_innen, die nach dem Waffenstillstand in Gefangenschaft geraten waren, blieben inhaftiert, Berichten zufolge unter unmenschlichen Bedingungen. Die Mehrheit der 40.000 aserbaidschanischen Zivilpersonen, die während des Konflikts im Jahr 2020 vertrieben worden waren, kehrte in ihre Heimatorte zurück. Für mehr als 650.000 in den 1990er Jahren vertriebene Menschen war eine Rückkehr jedoch nicht möglich, weil ihnen Gefahr durch Minen drohte, die Infrastruktur zerstört war und sie ihre Existenzgrundlage verloren hatten. Etwa 36.000 ethnische Armenier_innen lebten nach wie vor als Binnenvertriebene in Armenien.
Der Konflikt im Donbass dauerte an. Die ukrainischen Regierungstruppen und die von Russland unterstützten Separatisten beschuldigten sich gegenseitig, die Waffenruhe zu verletzen, und die UN-Beobachtermission für Menschenrechte in der Ukraine gab an, dass mindestens neun Zivilpersonen von Angehörigen des ukrainischen Geheimdiensts willkürlich festgenommen wurden. Am Jahresende hatte Russland an der Grenze zur Ukraine große Truppenkontingente stationiert, was einen Einmarsch befürchten ließ.
In den abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien/Zchinwali war die Bewegungsfreiheit weiterhin eingeschränkt, was die Ein- und Ausreise in das von der georgischen Regierung kontrollierte Gebiet betraf. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weitverbreitet. Der Fall von Inal Dzhabiev, der 2020 in Südossetien/Zchinwali in Gewahrsam gestorben war, wurde nicht wirksam untersucht, und Anri Ateiba starb nach seiner Festnahme in Abchasien.
Klimakrise
Europa trägt bei der Bewältigung der Klimakrise aufgrund seines Wohlstands und seines Anteils an den globalen Treibhausgasemissionen eine besondere Verantwortung gegenüber dem Rest der Welt. Die europäischen Länder und die Europäische Union legten jedoch weiterhin keine Ziele für die Emissionsreduktion und zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen fest, die dieser besonderen Verantwortung und dem Ziel, die Erderwärmung auf maximal 1,5 °C zu begrenzen, gerecht geworden wären. Auf der Weltklimakonferenz (COP26) weigerten sich die europäischen Länder zudem, einen internationalen Finanzierungsfonds für Verluste und Schäden in ärmeren Ländern einzurichten, die unter den Folgen der Klimakrise am meisten zu leiden haben. Allerdings sagten Schottland und die belgische Region Wallonien direkte finanzielle Beiträge für Verluste und Schäden zu.
Aktivist_innen zogen vor Gericht, um Regierungen zu zwingen, die Emissionen zu begrenzen und den Klimawandel zu bekämpfen, und errangen in Deutschland, Frankreich und Belgien juristische Erfolge. In einem aufsehenerregenden Prozess, den zivilgesellschaftliche Organisationen angestrengt hatten, verurteilte ein niederländisches Gericht den Ölkonzern Shell dazu, seinen weltweiten CO2-Ausstoß bis Ende 2030 im Vergleich zu 2019 um 45 Prozent zu verringern, und begründete dies u. a. mit der Verantwortung von Unternehmen für die Einhaltung der Menschenrechte. In Georgien wurde der Bau eines Wasserkraftwerks gestoppt, nachdem Demonstrierende jahrelang auf Umweltrisiken hingewiesen hatten.
Menschenrechte im europäischen und globalen Kontext
Die autoritären Tendenzen gingen mit einer Abkehr von multilateralen Organisationen einher. Die OSZE schien nicht in der Lage, Konflikte aufzuhalten, weil bedeutende Länder ihren Rat ignorierten und ihren Beobachtermissionen keinen Wert beimaßen, sofern sie sie überhaupt zuließen. Dem Europarat gelang es nicht, seine Mitgliedstaaten dazu zu bringen, Urteile des EGMR umzusetzen und ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Die EU war durch Rechtsstaatlichkeitskrisen gelähmt und nicht bereit, ihre eigenen Regeln bezüglich der Rechte von Migrant_innen und Flüchtlingen durchzusetzen.
Russland und China verstärkten ihre Einflussnahme und machten sie vor allem im Osten Europas und Zentralasiens geltend. Beide Länder untergruben den internationalen Rahmen für den Schutz der Menschenrechte, und Russland unterstützte das harte Vorgehen der belarussischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung. Die von der EU gegen Russland und Belarus verhängten wirtschaftlichen und politischen Sanktionen konnten die unerbittliche Unterdrückung nicht aufhalten.
Großbritannien verabschiedete Gesetze, die möglicherweise zu Straflosigkeit für im Ausland verübte Straftaten führen könnten. Ein Gesetz zu Militäreinsätzen im Ausland (Overseas Operations Act) sah Einschränkungen für Gerichtsverfahren vor, die sich auf diese Einsätze bezogen. So sollten z. B. Zivilklagen nur noch in einem begrenzten Zeitraum möglich sein, und Straftaten, die länger als fünf Jahre zurücklagen, sollten bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden können.
Doch gab es auch einige erfreuliche Entwicklungen. Der Europarat beschloss im März eine Empfehlung zu Maßnahmen gegen den Handel mit Gütern, die zur Anwendung der Todesstrafe, zu Folter oder anderer grausamer, erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung oder Strafe verwendet werden könnten. Einige Länder ergriffen Maßnahmen, um verantwortungslose Waffenlieferungen zu unterbinden. Deutschland verlängerte den Rüstungsexportstopp für Saudi-Arabien – allerdings nicht für andere Länder, die ebenfalls am Konflikt im Jemen beteiligt waren. In Frankreich strengten NGOs ein Gerichtsverfahren an, um Transparenz bezüglich der Waffenlieferungen an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate zu erreichen. Das Schweizer Parlament verabschiedete ein Gesetz, das den Waffenexport strenger regelte. Es verbot Lieferungen an Staaten mit internen bewaffneten Konflikten und an Staaten, in denen schwerwiegende und systematische Menschenrechtsverletzungen verübt werden.
Empfehlungen
Die obigen Ausführungen sollten ein Weckruf für Regierungen sein, sich erneut zu den Menschenrechten zu bekennen und die entsprechenden Verpflichtungen der Staaten gemeinsam durchzusetzen. Lediglich Klimaaktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen scheinen derzeit mit der nötigen Dringlichkeit zu agieren, beide Gruppen stehen jedoch unter starkem Druck seitens Regierungen und Unternehmen. Die Menschenrechte brauchen nun dringend mehr entschiedene Verfechter_innen, sonst drohen die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte zunichte gemacht zu werden.
Die Regierungen müssen die wichtige Rolle von Menschenrechtsverteidiger_innen anerkennen, anstatt deren Arbeit zu stigmatisieren und zu kriminalisieren. Um die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ausüben zu können, bedarf es eines Freiraums, der gegen Übergriffe des Staates geschützt sein muss, die unter diversen Vorwänden erfolgen. Die Länder in Europa und Zentralasien müssen die Entwicklung hin zu Überwachungsgesellschaften stoppen, die Rechtsstaatlichkeit achten und die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz einstellen.
Die Regierungen müssen ihre Bemühungen intensivieren, um die Diskriminierung von Schwarzen, muslimischen und jüdischen Menschen sowie Angehörigen der Rom_nja zu verhindern. Auch müssen sie dafür sorgen, dass staatliche Akteure stigmatisierende Äußerungen nicht hoffähig machen und keine politischen Maßnahmen ergreifen, die sich gezielt gegen diese Bevölkerungsgruppen richten.
Angesichts der anhaltenden Coronapandemie muss in Europa und Zentralasien, aber auch darüber hinaus, dringend Impfgerechtigkeit sichergestellt werden. Damit Behandlungen und Impfstoffe für alle akzeptabel, bezahlbar, zugänglich und verfügbar sind, ist eine Zusammenarbeit der Staaten unerlässlich.
Um zu verhindern, dass Menschen, die vor Konflikten und Armut fliehen, auf dem Land- oder Seeweg ums Leben kommen, müssen die Regierungen mehr sichere und legale Migrationswege schaffen, insbesondere für Menschen in Not, die in Europa Schutz suchen wollen. Dies kann z. B. durch die Vergabe humanitärer Visa, Resettlement-Programme, Community-Sponsoring und Familienzusammenführung geschehen.
Die Regierungen müssen unbedingt Maßnahmen ergreifen, um das häufig verdeckte hohe Ausmaß an Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu bekämpfen. Die Verhinderung und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt muss dabei oberste Priorität haben. Außerdem müssen weitere Schritte unternommen werden, um jegliche Form von Diskriminierung durch Gesetze und im Alltag zu beseitigen.
Die Regierungen müssen ihre Klimaziele höher stecken und politische Maßnahmen ergreifen, die angemessen und mit den Menschenrechten vereinbar sind. So sollten sie z. B. beim Ausstieg aus der Nutzung und Förderung fossiler Brennstoffe einen gerechten Übergang sicherstellen. Außerdem sollten sie dringend die Finanzmittel für Klimaschutz in einkommensschwächeren Ländern aufstocken und sich verpflichten, zusätzliche Gelder speziell für Verluste und Schäden in diesen Ländern bereitzustellen.