Amnesty Report Libyen 24. April 2024

Libyen 2023

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Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

In ganz Libyen gingen Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte 2023 zunehmend repressiv gegen kritische Stimmen und die Zivilgesellschaft vor. Tausende Menschen waren weiterhin willkürlich unter Bedingungen inhaftiert, die gegen das absolute Verbot von Folter und anderen Misshandlungen verstießen. Hunderte Demonstrierende, Aktivist*innen, Journalist*innen und andere Personen wurden allein deshalb festgenommen, weil sie ihre Menschenrechte friedlich wahrgenommen hatten. Milizen und bewaffnete Gruppen lieferten sich Auseinandersetzungen, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden und zivile Infrastruktur zerstört wurde. Bewaffnete Gruppen vertrieben Tausende Menschen aus ihren Häusern, teilweise als Vergeltung für deren politische Parteinahme, aber auch, um sich widerrechtlich deren Land anzueignen. Straflosigkeit war weiterhin die Regel, und Milizen und bewaffnete Gruppen, die Menschenrechtsverstöße verübten, wurden nach wie vor von staatlicher Seite finanziert bzw. waren Teil staatlicher Institutionen. Vor diesem Hintergrund und im Nachgang von Sturm Daniel, der zu unzähligen Toten und Obdachlosen sowie massiven Schäden führte, wurden zunehmend Forderungen laut, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Frauen und Mädchen waren weiterhin Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. LGBTI+ wurden auch 2023 Opfer willkürlicher Festnahmen, ungerechtfertigter Strafverfolgung und weiterer Verstöße. Ethnische Minderheiten litten unter Diskriminierung und waren in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Bildung und andere grundlegende Dienstleistungen benachteiligt. Flüchtlinge und Migrant*innen wurden Opfer von Folter und anderen Misshandlungen, Erpressung und Zwangsarbeit. Die von der EU unterstützte Küstenwache und bewaffnete Gruppen fingen Flüchtlinge und Migrant*innen vor der Küste ab und brachten sie an Land zurück, wo sie Misshandlungen ausgesetzt waren. Tausende wurden ohne ordnungsgemäßes Verfahren des Landes verwiesen.

Hintergrund

Die politische Pattsituation dauerte 2023 an, da sich die rivalisierenden Fraktionen im Westen und Osten des Landes weder auf eine neue Einheitsregierung einigen konnten noch Termine für die seit Langem ausstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen festlegten.

Im Juni 2023 sickerte ein Bericht der Verwaltungskontrollbehörde durch, der den staatlichen Einrichtungen unter der Regierung der Nationalen Einheit mit Sitz in Tripolis 80.000 Verstöße gegen Verwaltungs- und Finanzvorschriften im Jahr 2022 bescheinigte. Im Oktober veröffentlichte das libysche Rechnungsprüfungsamt seinen Jahresbericht für 2022, der aufdeckte, dass die Veruntreuung öffentlicher Gelder weit verbreitet war. 

Nach einem Jahrzehnt der Trennung kündigte die Libysche Zentralbank im August die Wiedervereinigung mit ihrem Ableger im Osten des Landes an. Vorausgegangen waren Kämpfe um die Kontrolle der Zentralbank und die Schließung von Ölfeldern im Osten durch Akteure, die mit der bewaffneten Gruppe Libysch-Arabische Streitkräfte (Libyan Arab Armed Forces – LAAF) in Verbindung standen.

Im September 2023 führte der Sturm Daniel dazu, dass in der Stadt Derna zwei Staudämme brachen, die seit Jahrzehnten nicht mehr gewartet worden waren. In den Sturzfluten kamen etwa 4.540 Menschen ums Leben, 8.500 wurden vermisst, und unzählige mussten ihr Zuhause verlassen. Auch der Sachschaden war enorm.

Die UN-Sachverständigengruppe zu Libyen berichtete im September, dass ausländische Kämpfer und private Militärfirmen die Sicherheit in Libyen weiterhin ernsthaft bedrohten und dass das seit 2011 geltende UN-Waffenembargo ungestraft verletzt werde.

Willkürliche Inhaftierung, rechtswidriger Freiheitsentzug und unfaire Gerichtsverfahren

Tausende Menschen, darunter auch Kinder, wurden von Milizen, bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräften weiterhin willkürlich in Haft gehalten, und zwar ausschließlich aufgrund ihrer tatsächlichen bzw. vermeintlichen Stammeszugehörigkeit und/oder ihrer politischen Überzeugung bzw. kritischen Ansichten. Viele von ihnen hatten Gerichtsverfahren erhalten, die grob unfair waren oder keine rechtliche Grundlage hatten und teils vor Militärgerichten geführt wurden.

Nach Angaben des Justizministeriums der Regierung der Nationalen Einheit waren im Oktober 2023 landesweit mehr als 18.000 Menschen in 31 Gefängnissen inhaftiert, zwei Drittel von ihnen ohne Gerichtsverfahren. Tausende weitere befanden sich in Hafteinrichtungen, die von Milizen oder bewaffneten Gruppen kontrolliert wurden.

Im Mai 2023 übergab Libyen vier tunesische Frauen und deren fünf Kinder an Tunesien. Sie waren seit 2016 willkürlich und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert gewesen, nur weil sie mit getöteten Mitgliedern der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) verwandt waren. 

Die Angriffe auf Richter*innen, Staatsanwält*innen und Rechtsanwält*innen gingen 2023 weiter. Die Miliz Deterrence Apparatus for Combating Terrorism and Organized Crime (DACTO) hielt den im Juni 2023 in Tripolis entführten Militärstaatsanwalt Farouq Ben Saeed willkürlich in Haft.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und andere Misshandlungen wurden in Gefängnissen und anderen Hafteinrichtungen in ganz Libyen weiterhin systematisch angewandt. Unter Folter erpresste "Geständnisse" wurden nach wie vor mit Kameras aufgezeichnet und im Internet und im Fernsehen veröffentlicht.

Mindestens 15 Menschen starben 2023 in Gewahrsam. Es gab Berichte über Folter und die absichtliche Verweigerung medizinischer Behandlung in Hafteinrichtungen der DACTO-Miliz, der Internal Security Agency (ISA) in Derna, der Miliz Stability Support Apparatus (SSA) und der Abteilung zur Bekämpfung unerlaubter Migration des Innenministeriums. Im August 2023 wurde die Leiche von Walid Al-Tarhouni im Leichenschauhaus des Abu-Salim-Krankenhauses in Tripolis gefunden, die laut einem gerichtsmedizinischen Bericht Folterspuren aufwies. SSA-Milizionäre hatten ihn im Juli verschleppt.

Gefangene wurden unter Bedingungen festgehalten, die gegen das absolute Verbot von Folter und anderen Misshandlungen verstießen. Es herrschten Überbelegung und unhygienische Bedingungen, die Inhaftierten erhielten nicht genug zu essen, litten unter einem Mangel an Tageslicht und durften keine Familienbesuche empfangen.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Im ganzen Land schränkten Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte die Vereinigungsfreiheit weiter ein, u. a. indem sie libysche und ausländische Mitarbeiter*innen von NGOs sowie humanitäre Helfer*innen willkürlich festnahmen, zu Verhören vorluden oder in anderer Weise schikanierten.

Zwischen März und Mai 2023 erließ die Regierung der Nationalen Einheit mehrere Dekrete, in denen sie NGOs die Schließung androhte, sollten diese sich nicht an das repressive Gesetz über Nichtregierungsorganisationen aus dem Jahr 2001 halten. 

Im April 2023 inhaftierte die mit der bewaffneten Gruppe LAAF verbündete Kriminalpolizei in Sirte willkürlich fünf Mitglieder der Partei "Gemeinsam für das Vaterland", die Saif al-Islam al-Gaddafi nahesteht, und hielt sie bis zu ihrer Freilassung im Oktober ohne Anklage oder Gerichtsverfahren fest.

Im Mai 2023 nahm die ISA in Tripolis libysche Mitarbeiter*innen der italienischen NGO Ara Pacis fest und strahlte unter Folter erzwungene "Geständnisse" aus, in denen die Inhaftierten "zugaben", sie hätten Menschen aus Ländern südlich der Sahara dabei unterstützt, sich in Südlibyen anzusiedeln. Gleichzeitig wurden NGOs, die sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen einsetzten, zunehmend verleumdet. Die Organisation Ara Pacis stellte ihre Aktivitäten in Libyen bis auf Weiteres ein.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Hunderte Aktivist*innen, Journalist*innen, Demonstrierende und andere Personen wurden 2023 von Milizen und bewaffneten Gruppen willkürlich festgenommen, inhaftiert oder bedroht, nur weil sie ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrgenommen hatten. 

Im Februar 2023 nahm die ISA in Bengasi die Sängerin Ahlam al-Yamani und die Bloggerin Haneen al-Abdali wegen Verstößen gegen das Gesetz über Internetkriminalität aus dem Jahr 2022 fest. Den Frauen wurde vorgeworfen, sie hätten "libysche Traditionen beleidigt". Im April wurden sie ohne Anklage oder Gerichtsverfahren freigelassen.

In Tripolis nahm die ISA im Laufe des Jahres mindestens eine minderjährige Person, vier Frauen und 22 Männer willkürlich fest, nur weil sie ihre Menschenrechte wahrgenommen hatten, warf ihnen Beteiligung an Aktivitäten vor, die gegen "libysche Werte" verstoßen, wie Apostasie (Abfall vom Glauben), "Homosexualität", Missionierung oder Feminismus, und veröffentlichte einige ihrer erzwungenen "Geständnisse". Am Jahresende waren 18 von ihnen immer noch inhaftiert und warteten auf ihren Prozess, u. a. wegen Apostasie, die mit der Todesstrafe geahndet wird. 

Zwischen Mai und September 2023 schossen Milizen und bewaffnete Gruppen in den Städten Tripolis, Bengasi und al-Zawiya rechtswidrig mit scharfer Munition in die Luft, um friedliche Proteste aufzulösen, die sich gegen die Vormachtstellung der bewaffneten Gruppen und die sich verschlechternde Sicherheitslage richteten. 

Nach den katastrophalen Überschwemmungen in Derna nahm die bewaffnete Gruppe Tariq Ben Zeyad (TBZ) am 18. September mindestens neun Personen fest, die sich in der Sahaba-Moschee in Derna versammelt und gefordert hatten, dass die politisch Verantwortlichen zurücktreten und zur Rechenschaft gezogen werden. Die meisten der Demonstrierenden wurden innerhalb von zehn Tagen freigelassen. Ein Organisator des Protests und ein weiterer Aktivist waren jedoch Ende 2023 noch in Haft.

Im Oktober 2023 enthüllte das europäische Recherchenetzwerk European Investigative Collaborations, dass Unternehmen des Firmenverbunds Intellexa Alliance im Jahr 2020 Überwachungstechnologie an die bewaffnete Gruppe LAAF verkauft hatten.

Rechtswidrige Angriffe

Milizen und bewaffnete Gruppen verstießen bei vereinzelten lokalen Zusammenstößen gegen das humanitäre Völkerrecht, indem sie u. a. wahllose Angriffe verübten und zivile Infrastruktur sowie Privateigentum zerstörten. 

Im Januar 2023 starb der zehnjährige Abdel Moez Masoud Oqab, als in der Stadt Qasr Bin Ghashir im Bezirk Tripolis ein Blindgänger explodierte, der aus dem bewaffneten Konflikt im Jahr 2019 stammte. 

Im Mai 2023 veranlasste das in Tripolis ansässige Verteidigungsministerium Luftangriffe auf Ziele in al-Zawiya und anderen Orten im Westen des Landes, die dazu dienen sollten, kriminelle Netzwerke zu zerschlagen. Bei den Angriffen wurden Zivilpersonen verletzt und eine Klinik sowie weitere zivile Einrichtungen zerstört.

Im August kamen bei Kämpfen zwischen der DACTO-Miliz und der Brigade 444 in Ain Zara, Firnaj, Al-Tibbi und anderen Wohnvierteln von Tripolis Sprengsätze mit weitreichender Wirkung zum Einsatz, die mindestens 45 Menschen töteten und mehr als 164 verletzten, darunter auch Zivilpersonen.

Vom 6. bis 8.Oktober kam es in Bengasi zu Zusammenstößen zwischen der bewaffneten Gruppe LAAF und bewaffneten Anhängern des ehemaligen Verteidigungsministers Al-Mahdi Al-Barghathi, bei denen fünf Menschen getötet und mehrere verletzt wurden, darunter auch Zivilpersonen. Währenddessen unterbrach die LAAF das Internet, und Verbündete der bewaffneten Gruppe nahmen 36 Frauen und 13 Kinder als Geiseln, um Al-Mahdi Al-Barghathi und seinen Sohn zu zwingen, sich zu stellen. Das Schicksal von Al-Mahdi Al-Barghathi und 33 seiner Familienangehörigen und Anhänger, die entführt worden waren, war Ende 2023 unbekannt. 

Im September und Oktober zerstörten die TBZ und andere bewaffnete Gruppen u. a. in dem südlich von Sirte gelegenen Ort Qasr Abu Hadi und in Bengasi Häuser von Zivilpersonen, die damit offensichtlich für ihre politische Parteinahme bestraft werden sollten.

Straflosigkeit

Staatsbedienstete und Befehlshaber mächtiger Milizen und bewaffneter Gruppen, die für völkerrechtliche Verbrechen und schwere Menschenrechtsverletzungen auch in den Vorjahren verantwortlich waren, genossen nahezu vollständige Straflosigkeit.

Die vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzte Erkundungsmission zur Untersuchung der seit 2016 in Libyen begangenen völkerrechtlichen Verbrechen stellte im März 2023 fest, es gebe Grund zu der Annahme, "dass staatliche Sicherheitskräfte und bewaffnete Milizen ein breites Spektrum an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verübt hätten. Dennoch beendete der UN-Menschenrechtsrat das Mandat der Erkundungsmission und verabschiedete eine Resolution zum Kapazitätsaufbau, die keinerlei Überwachungs- oder Untersuchungskomponenten enthielt. 

Im Mai 2023 unterzeichnete der Premierminister der Regierung der Nationalen Einheit ein Dekret, das Milizionäre aus Tripolis, Misrata und anderen Teilen Westlibyens ohne jegliche Überprüfung in eine neu geschaffene Sicherheitstruppe namens National Apparatus of Support Forces integrierte. 

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) kündigte im Mai vier neue Haftbefehle im Zusammenhang mit der Situation in Libyen an, nannte aber keine Namen. 

Die in Tripolis ansässige Generalstaatsanwaltschaft schloss im Dezember 2023 ihre Ermittlungen zu den Dammbrüchen in Derna ab und leitete die Fälle von 16 Staatsbediensteten der mittleren Führungsebene, denen Fahrlässigkeit und Missmanagement vorgeworfen wurde, an die zuständige Anklagebehörde weiter. Es gab jedoch Zweifel, ob die Ermittlungen transparent und unabhängig erfolgten, da die Verantwortlichkeit hochrangiger Staatsbediensteter und mächtiger Befehlshaber bewaffneter Gruppen ausgespart blieb.

Diskriminierung

Frauen und Mädchen

Frauen wurden 2023 durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert, u. a. bezüglich Heirat, Scheidung, Erbschaftsangelegenheiten, Arbeitsmöglichkeiten, politischer Teilhabe und des Rechts, ihre Staatsangehörigkeit an ihre Kinder weiterzugeben. Politikerinnen, Aktivistinnen und Gemeinderätinnen waren geschlechtsspezifischen Drohungen und Beleidigungen ausgesetzt, auch im Internet. 

Ab April 2023 verlangte die ISA in Tripolis von Frauen, die allein ins Ausland reisen wollten, dass sie ein Formular ausfüllten und darin die Gründe für die Reise ohne männlichen Vormund (Mahram) darlegten.

Die Behörden schützten Frauen und Mädchen nicht vor Gewalt durch bewaffnete Gruppen, Milizen, Familienmitglieder und andere nichtstaatliche Akteure. In einigen Fällen hinderten Milizen Überlebende von Gewalt daran, Anzeige zu erstatten. 

LGBTI+

Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen waren weiterhin strafbar. Die Internal Security Agency (ISA) in Tripolis und andere Milizen und bewaffnete Gruppen nahmen erneut Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität willkürlich fest. Es gab zudem Berichte über Folter und andere Misshandlungen. Die UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen hielt in ihrem Bericht vom Mai 2023 fest, dass Staatsbedienstete der Regierung der Nationalen Einheit erklärt hatten, es gebe keine LGBTI+ in Libyen. 

Im September beschlagnahmte die ISA in Geschäften in Bengasi Spielzeug, Kleidungsstücke und andere Waren in Regenbogenfarben, weil diese ihrer Ansicht nach "Homosexualität" förderten.

Ethnische Minderheiten und indigene Gemeinschaften

Angehörige der ethnischen Minderheiten der Tabu und der Tuareg, die aufgrund diskriminierender Gesetze und Vorschriften zur Staatsbürgerschaft keine Ausweispapiere erhielten, hatten nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten und Bildungseinrichtungen. 

Rassistische Äußerungen gegen Angehörige der Tabu nahmen zu. Lokale Aktivist*innen und Politiker*innen berichteten, dass mit der LAAF verbündete bewaffnete Gruppen im August in Umm al-Aranib das Viertel "Chinese Company" überfielen, Privateigentum plünderten und Männer, die der Tabu-Minderheit angehörten, willkürlich festnahmen.

Binnenvertriebene

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gab es in Libyen mehr als 170.664 Binnenvertriebene, darunter 44.862 Menschen, die infolge von Sturm Daniel ihr Zuhause verlassen mussten. Die meisten von ihnen kamen bei Verwandten unter oder mieteten sich Wohnungen, während es an grundlegenden Dienstleistungen und Unterstützung zur Traumabewältigung mangelte. 

Ab März 2023 vertrieb die bewaffnete Gruppe TBZ Tausende Einwohner*innen Bengasis aus ihren Häusern, u a. im historischen Stadtzentrum, ohne sie zu entschädigen, und schikanierte diejenigen, die sich dagegen wehrten.

Menschen, die während früherer bewaffneter Auseinandersetzungen in Bengasi, Derna und anderen Teilen im Osten Libyens sowie in der Stadt Murzuk im Südwesten vertrieben worden waren, konnten nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren, weil sie befürchten mussten, von bewaffneten Gruppen verfolgt und bestraft zu werden. 

Zahlreiche Familien aus der Stadt Tawergha, die während des bewaffneten Konflikts 2011 vertrieben worden waren und in informellen Siedlungen in der Umgebung von Tripolis und Bani Walid lebten, wurden im Januar 2023 von Milizen gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Hunderte Vertriebene aus Tawergha, die seit Jahren in sieben Lagern für Binnenvertriebene in und um Bengasi gelebt hatten, mussten diese am 10. September 2023 im Vorfeld von Sturm Daniel verlassen. Weil die LAAF und mit ihr verbündete bewaffnete Gruppen ihnen später die Rückkehr in diese Lager verwehrten, sahen sich viele gezwungen, nach Tawergha zurückzukehren, obwohl es dort an grundlegenden Versorgungsleistungen und Arbeitsmöglichkeiten mangelte. 

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Sicherheitskräfte sowie bewaffnete Gruppen, Milizen und andere nichtstaatliche Akteure verübten systematisch und in großem Ausmaß Menschenrechtsverstöße an Flüchtlingen und Migrant*innen, ohne dass diese geahndet wurden.

Vom 1. Januar bis zum 25. November 2023 starben der IOM zufolge 947 Migrant*innen, die Libyen auf dem Seeweg verlassen hatten, weitere 1.256 Menschen galten als vermisst. Außerdem fingen die von der EU unterstützte Küstenwache in Westlibyen sowie der LAAF nahestehende Spezialkräfte der Marine und die bewaffnete Gruppe TBZ in Ostlibyen insgesamt 15.057 Menschen auf See ab und brachten sie gegen deren Willen an Land zurück. 

Am 19. August 2023 fing die TBZ im maltesischen Such- und Rettungsgebiet ein Boot ab, auf dem sich etwa 110 Menschen befanden, die meisten von ihnen libanesische und syrische Staatsangehörige. Das Boot war in Akkar im Nordlibanon mit Ziel Italien ausgelaufen und wurde schließlich nach Bengasi gebracht. Fünf der Bootsinsassen gaben an, die Flüchtlinge seien in einem großen Zelt im Hafen von Bengasi willkürlich inhaftiert worden und einige seien Opfer von Zwangsarbeit geworden, darunter auch Minderjährige. 

Ab Ende April 2023 nahmen Sicherheitskräfte in ganz Libyen massenhaft Flüchtlinge und Migrant*innen fest, darunter auch Personen, die ein gültiges Visum besaßen oder beim UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge registriert waren. 

Im September 2023 waren in den Haftzentren, die der Abteilung zur Bekämpfung unerlaubter Migration des Innenministeriums unterstanden, 3.913 ausländische Staatsangehörige willkürlich inhaftiert. Tausende weitere wurden von der SSA-Miliz und anderen Milizen und bewaffneten Gruppen festgehalten. Die Haftbedingungen waren grausam und unmenschlich. Die Inhaftierten erlitten Folter und andere Misshandlungen, einschließlich sexualisierter Gewalt. Man erpresste Lösegeld von ihnen als Bedingung für ihre Freilassung und verweigerte ihnen eine angemessene medizinische Versorgung.

Die tunesischen Behörden brachten ab Juli 2023 Tausende Flüchtlinge und Migrant*innen gewaltsam in Wüstengebiete an der Grenze zu Libyen. Berichten zufolge starben Menschen, weil sie dort ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt wurden (siehe Länderkapitel Tunesien).

Mit der LAAF verbündete bewaffnete Gruppen trieben mehr als 22.000 Flüchtlinge und Migrant*innen gewaltsam an die Grenzen mit Ägypten, Niger, Sudan und dem Tschad, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Abschiebung anzufechten oder internationalen Schutz zu beantragen.

Todesstrafe

Das libysche Recht sah weiterhin für eine Vielzahl von Straftaten die Todesstrafe vor. Im Juli 2023 teilte Staatsanwalt Al-Siddiq Al-Sour mit, es werde ein Ausschuss gebildet, der die Wiederaufnahme von Hinrichtungen prüfen solle, die seit 2011 ausgesetzt waren. 

Es wurden weiterhin Todesurteile nach grob unfairen Verfahren gefällt, auch vor Militärgerichten. Im Mai 2023 verurteilte ein Gericht in Misrata nach einem Prozess, der von Foltervorwürfen und Fällen von Verschwindenlassen überschattet war, 23 Personen wegen Verbindungen zur bewaffneten Gruppe IS zum Tode.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Libyen hatte das Pariser Klimaschutzabkommen noch immer nicht ratifiziert und weder Strategien zur Anpassung an den Klimawandel noch zur Eindämmung seiner Folgen vorgelegt. Stattdessen wurde angekündigt, die Produktion fossiler Brennstoffe bis 2030 zu verdoppeln. Die vielen Todesopfer nach dem Sturm Daniel machten deutlich, wie schlecht das Land auf die Auswirkungen des Klimawandels vorbereitet war. Weil die Behörden im Osten Libyens den Einwohner*innen von Derna vor den Überschwemmungen widersprüchliche Anweisungen erteilten, wussten diese nicht, ob sie die Stadt verlassen oder die Ausgangssperre befolgen sollten. Nach Ansicht der Weltorganisation für Meteorologie wären viele Todesopfer vermeidbar gewesen, wenn es angemessene Warnungen und Evakuierungen gegeben hätte. Laut einer Studie der Forschungsinitiative World Weather Attribution sind ähnliche Extremereignisse mittlerweile "bis zu 50 Mal wahrscheinlicher und bis zu 50 Prozent intensiver als bei einem 1,2 °C kühleren Klima".

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