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Libanon 2020
Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020
Die Behörden unterdrückten 2020 weiterhin die Proteste, die im Oktober 2019 begonnen hatten. Sicherheits- und Militärbehörden bestellten wiederholt Aktivist_innen zu Verhören ein und warfen ihnen strafbare Verleumdung vor. Bei Protestaktionen setzten Sicherheitskräfte unverhältnismäßige Gewalt gegen weitgehend friedlich Demonstrierende ein und griffen dabei unter anderem auf scharfe Munition, Tränengas und Gummigeschosse zurück. Nach einer verheerenden Explosion im Hafen von Beirut lehnten Staatsbedienstete Forderungen nach einer internationalen Untersuchung ab. Die Behörden untersuchten Foltervorwürfe nicht gründlich genug. Zahlreiche Hausangestellte wurden aufgrund der Wirtschaftskrise und der Corona-Pandemie entlassen und befanden sich in einer aussichtslosen Situation, weil man ihnen ihre Pässe abgenommen und ausstehende Löhne nicht bezahlt hatte. Das Arbeitsministerium erstellte einen überarbeiteten, einheitlichen Standardvertrag für Arbeitsmigrant_innen, der auch neue Schutzmaßnahmen für Hausangestellte enthielt, wie zum Beispiel grundlegende rechtliche Garantien gegen Zwangsarbeit. Eine gerichtliche Instanz entschied jedoch, dass dieser Standardvertrag zunächst nicht zur Anwendung kam.
Hintergrund
Die Regierung von Hassan Diab gewann am 11. Februar 2020 eine Vertrauensabstimmung im Parlament, nachdem die Regierung seines Vorgängers als Reaktion auf die Proteste vom Oktober 2019 zurückgetreten war. Die Demonstrationen hatten die Korruption und die politische Elite im Land angeprangert und einen radikalen Wandel gefordert. Die Wirtschaftskrise verschärfte sich 2020, und die Arbeitslosigkeit stieg exponentiell an. Nach Angaben der Vereinten Nationen lebten mehr als 55 % der Bevölkerung in Armut, und damit fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Am 7. März konnte das Land erstmals in seiner Geschichte die Tilgungsraten für seine Schulden in Höhe von fast 90 Mrd. US-Dollar nicht pünktlich zahlen. Ende 2020 hatte das libanesische Pfund mehr als 80 % seines Wertes eingebüßt, und die Inflation war auf 133,5 % gestiegen. Kontoinhaber_innen konnten nicht länger auf ihre US-Dollar-Ersparnisse zugreifen, sondern ihr Geld nur noch in der Landeswährung zu 50 % des Schwarzmarktkurses abheben.
Am 4. August 2020 kam es im Hafengebiet von Beirut zu einer verheerenden Explosion, bei der mindestens 204 Menschen getötet und mehr als 6.500 verletzt wurden. Neun Personen blieben vermisst. Rund 300.000 Einwohner_innen, deren Wohnungen zerstört waren, mussten andernorts Zuflucht suchen oder wurden obdachlos. Sogar in 20 Kilometer Entfernung zur Unglücksstelle konnten noch Schäden festgestellt werden. Die Weltbank bezifferte die Schadenshöhe auf insgesamt 3,8 bis 4,6 Mrd. US-Dollar. Staatspräsident Michel Aoun teilte mit, die Explosion sei durch 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat verursacht worden, das jahrelang im Hafen gelagert worden war. Staatsbedienstete schoben sich gegenseitig die Schuld an dem Unglück zu.
Die öffentliche Empörung nach der Explosion führte am 10. August zum Rücktritt der Regierung von Hassan Diab. Am 22. Oktober ernannte das Parlament Saad Hariri zum Ministerpräsidenten, dem es bis zum Jahresende noch nicht gelungen war, eine Regierung zu bilden.
Nach einem ersten Lockdown im März folgte im November ein zweiter, weil die Zahl der Corona-Infektionen stark anstieg und die Betten auf den Intensivstationen knapp wurden.
Das Parlament verabschiedete im Dezember ein Gesetz, das sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz unter Strafe stellte. Es war das erste Gesetz, das sexuelle Belästigung im Libanon strafbar machte. Allerdings sah es keine Beschwerdeinstanz außerhalb des Justizsystems vor. Das Parlament reformierte außerdem das Gesetz gegen häusliche Gewalt aus dem Jahr 2014, um einige seiner Mängel zu beseitigen, und es verschärfte die Strafen für Sexarbeit.
Straffreiheit
Nach der Explosionskatastrophe in Beirut wiesen sich Staatsbedienstete gegenseitig die Schuld zu. Durchgesickerte offizielle Dokumente deuteten darauf hin, dass die jeweiligen Regierungen in den sechs Jahren zuvor von den Zoll-, Militär- und Sicherheitsbehörden sowie der Justiz mindestens zehnmal vor dem gefährlichen Chemikalienlager gewarnt worden waren. Opfer, Angehörige und Menschenrechtsorganisationen forderten eine internationale Untersuchung, weil sie dem staatlichen Vorgehen nicht trauten. Die Behörden beauftragten mit der Untersuchung stattdessen den Justizrat, ein Sondergericht, dem es grundsätzlich an Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Zuständigkeit fehlte, um Amtsträger zur Rechenschaft zu ziehen, selbst im Falle schwerwiegender Vorwürfe gegen staatliche Organe.
Der Sondergerichtshof für den Libanon, der 2009 in Den Haag eingerichtet worden war, um die Verantwortlichen für die Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri im Jahr 2005 vor Gericht zu stellen, sprach am 18. August einen der Angeklagten schuldig. Die drei übrigen Angeklagten wurden freigesprochen. Das Gericht hatte in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt.
Obwohl 2017 ein Gesetz gegen Folter in Kraft getreten war, herrschte weiterhin Straflosigkeit für Folter. Beschwerden erreichten nur selten ein Gericht und zogen in den meisten Fällen keine gründliche Untersuchung nach sich. Häufig wurden die Beschwerden an die Stellen weitergeleitet, gegen die sich die Foltervorwürfe richteten, oder sie wurden an die Militärjustiz verwiesen.
Die Folterbeschwerde des Schauspielers Ziad Itani war seit einer einzigen Anhörung vor dem Untersuchungsrichter im April 2019 nicht weiter bearbeitet worden. Einer der Geheimdienstmitarbeiter, denen Ziad Itani Folter vorgeworfen hatte, wurde im August 2020 befördert. Im September zeigten der Mitarbeiter und sein Vorgesetzter Ziad Itani wegen Verleumdung an und beschuldigen ihn, "falsche Anschuldigungen zu verbreiten und das Ansehen des Staates zu schädigen", weil dieser in den Sozialen Medien über seine Foltererfahrungen berichtet hatte.
Im Februar legte die Militärstaatsanwaltschaft 15 Beschwerden zu den Akten, die das Anwaltskomitee zum Schutz von Protestierenden im Namen von 17 Personen eingereicht hatte, die im Dezember 2019 an einer Demonstration teilgenommen hatten. In den Beschwerden ging es um Folter und andere Misshandlungen, die sie bei den Protesten, in der Haft sowie während Transporten zu, bzw. innerhalb von Haftanstalten erlitten hatten.
Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen
Zwischen dem 17. Oktober 2019 und dem 15. März 2020 nahmen der militärische Geheimdienst, der Innere Sicherheitsdienst und andere Sicherheitsdienste willkürlich 967 friedlich Demonstrierende fest, häufig ohne Haftbefehl. In der Haft verband man ihnen die Augen und traktierte sie mit Schlägen, Folter und anderen Misshandlungen, um "Geständnisse" zu erpressen. Die Behörden gingen den Foltervorwürfen jedoch nicht nach. Allein an den drei Tagen 14., 15. und 19. Januar 2020 wurden 167 Demonstrierende in Beirut willkürlich festgenommen.
Am 30. September änderte das Parlament Artikel 47 der Strafprozessordnung dahingehend, dass Verdächtige bei Verhören in der Untersuchungshaft ein Recht auf Anwesenheit eines Rechtsbeistands haben. Zudem müssen die Verhöre in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Das Parlament fügte jedoch eine Bestimmung hinzu, wonach die Untersuchungshaft unbefristet verlängert werden kann, wenn Gefangene von einer Haftanstalt in eine andere verlegt werden. Diese Frist war zuvor auf maximal vier Tage begrenzt.
Recht auf Gesundheit
Aufgrund der anhaltenden Überbelegung und der unzureichenden Bedingungen in den Haftanstalten bestand für Tausende Inhaftierte ein erhöhtes Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Oft wurden keine angemessenen Maßnahmen zur Vorbeugung ergriffen. Im März begannen Unruhen in den Gefängnissen, und Familienangehörige forderten mit Sitzstreiks vor Gefängnissen und Polizeistationen die Freilassung der Gefangenen. Am 6. April kündigte das Innenministerium an, mehr als 600 Inhaftierte aus der Untersuchungshaft zu entlassen, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Von Januar bis Juli 2020 luden Justiz- und Sicherheitsbehörden mindestens 60 Aktivist_innen und Journalist_innen wegen strafbarer Verleumdung vor. Die Vorwürfe bezogen sich zumeist auf Äußerungen in den Sozialen Medien, in denen sie die Protestbewegung unterstützt oder Kritik an den Behörden geübt hatten. Sie wurden von den Sicherheits- und Militärbehörden verhört, in einigen Fällen sogar mehrfach und während des Lockdowns, obwohl keine dieser Behörden für Fragen der freien Meinungsäußerung zuständig war.
Im Juni wies der Generalstaatsanwalt die Zentrale Kriminalpolizei an, Personen zu ermitteln, die in den Sozialen Medien Äußerungen oder mit Photoshop bearbeitete Fotos gepostet hatten, die als Beleidigung des Präsidenten gelten könnten, und sie wegen Verleumdung, übler Nachrede, Verunglimpfung und Beleidigung sowie wegen der Veröffentlichung dieser Beiträge strafrechtlich zu verfolgen.
Recht auf Versammlungsfreiheit
Die 2019 begonnenen Proteste hielten im ersten Quartal des Jahres 2020 an, weil die Demonstrierenden keinen echten politischen Wandel erkennen konnten. Sie kamen erst zum Erliegen, als im März wegen der Corona-Pandemie ein Lockdown verhängt wurde.
Das Militär, der Innere Sicherheitsdienst und die Parlamentspolizei gingen im Januar, Februar und August mit unangemessener Gewalt gegen weitgehend friedlich Demonstrierende vor. Die Sicherheitskräfte griffen dabei unter anderem auf scharfe Munition, Gummigeschosse und Tränengas zurück, und boten den Demonstrierenden keinen Schutz gegen bewaffnete Anhänger_innen politischer Parteien. Am 19. Januar setzte der Innere Sicherheitsdienst rechtswidrig Gummigeschosse aus nächster Nähe ein und nutzte Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstöcke, um Proteste in Beirut aufzulösen. Dabei wurden Hunderte Demonstrierende verletzt. Mindestens zwei Frauen, die festgenommen wurden, berichteten, Polizisten hätten ihnen mit Vergewaltigung gedroht. Nach Angaben des libanesischen Roten Kreuzes wurden in zwei Nächten mindestens 409 Demonstrierende verletzt.
Am 8. August versammelten sich Tausende Demonstrierende auf dem Märtyrerplatz in Beirut, um Gerechtigkeit für die Opfer der Explosion in Beirut zu fordern. Die Armee und die Sicherheitskräfte gingen mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen die unbewaffneten Demonstrierenden vor, feuerten rücksichtslos Tränengas, Gummigeschosse und Schrotmunition in die Menge und verletzten dabei mehr als 230 Menschen.
Rechte von Arbeitsmigrant_innen
Das Sponsorensystem (Kafala) sorgte weiterhin dafür, dass Arbeitsmigrantinnen diskriminiert wurden. Zahlreiche Hausangestellte verloren 2020 aufgrund der Wirtschaftskrise und der Corona-Pandemie ihren Arbeitsplatz, konnten aber nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Im Mai begannen Arbeitgeber_innen damit, zahlreiche Hausangestellte vor den diplomatischen Vertretungen ihrer Heimatländer abzusetzen, in vielen Fällen ohne deren persönlichen Dinge und oft sogar ohne Pass. Viele der Hausangestellten berichteten, dass ihre Arbeitgeber_innen ihnen ausstehende Löhne nicht bezahlt hätteb und sich weigerten, ihnen Flugtickets für die Heimreise zu besorgen, obwohl sie dazu vertraglich verpflichtet waren.
Das Arbeitsministerium zog eine von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) moderierte Arbeitsgruppe zum kafala-System zurate, um einen überarbeiteten, einheitlichen Standardvertrag für Arbeitsmigrant_innen zu entwerfen, den der Arbeitsminister im September per Ministerialbeschluss 1/90 billigte. Dieser Vertrag sah vor, dass Arbeitsmigrant_innen kündigen dürfen, ohne ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren, und dass sie ihren Arbeitsplatz ohne Zustimmung der vorherigen Arbeitgeber_innen wechseln dürfen. Außerdem müssen sie den nationalen Mindestlohn erhalten, wobei ein Abzug für Sachleistungen in Naturalien, wie z. B. Kost und Logis, zulässig ist. Der Vertrag verbot Arbeitgeber_innen, Pässe und Ausweispapiere der Beschäftigten einzubehalten, und gestand Arbeitsmigrant_innen während der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten ein Recht auf Bewegungsfreiheit zu. Allerdings entschied der Schura-Rat, das oberste Verwaltungsgericht des Landes, am 14. Oktober, dass der neue Standardvertrag vorerst nicht eingeführt wird. Er reagierte damit auf eine Beschwerde des Verbands der Personalvermittlungsagenturen, die argumentiert hatten, der neue Vertrag stelle eine "schwerwiegende Verletzung" ihrer Interessen dar. Der Schura-Rat äußerte sich in seiner Entscheidung nicht zu den Rechten von Arbeitsmigrant_innen, die als Hauspersonal beschäftigt sind.
Flüchtlinge und Asylsuchende
Der Libanon beherbergte weiterhin etwa 1,5 Mio. syrische Flüchtlinge, darunter 879.598 Personen, die beim Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) registriert waren. Etwa 550.000 waren offiziellen Angaben zufolge nicht registriert, weil die Regierung dem UNHCR im Jahr 2015 untersagt hatte, neu ankommende syrische Geflüchtete zu registrieren.
Bis März 2020 fanden organisierte Abschiebungen syrischer Staatsangehöriger in ihr Herkunftsland statt, ohne dass die Betroffenen das Recht hatten, ihre Abschiebung wegen Sicherheitsbedenken anzufechten. Am 14. Juli verabschiedete die Regierung ein weiteres Grundsatzpapier, das eine forcierte Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien vorsah und gegen den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip) verstieß, wonach niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem dieser Person Menschenrechtsverletzungen drohen. Nach der Explosion in Beirut setzte das Sozialministerium die Umsetzung des Plans jedoch aus.
Im November gab der UNHCR bekannt, dass sich im August und September neun Länder bereit erklärt hatten, im Zuge des Resettlement-Programms 1.027 Flüchtlinge aufzunehmen und dass deren Ausreise aus dem Libanon Priorität habe, sobald der Lockdown aufgehoben sei.
Mehr als 470.000 palästinensische Flüchtlinge waren beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert, darunter 29.000 palästinensische Geflüchtete aus Syrien. Die schätzungsweise 180.000 von ihnen, die noch immer im Land lebten, wurden weiterhin durch Gesetze diskriminiert, die ihnen den Besitz und das Erben von Grundbesitz, den Zugang zum staatlichen Bildungs- und Gesundheitssystem sowie die Arbeit in mindestens 36 Berufen verboten.
Todesstrafe
Gerichte verhängten weiterhin Todesurteile; Hinrichtungen wurden nicht vollstreckt.