Amnesty Report Haiti 28. März 2023

Haiti 2022

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung Haitis waren 2022 von Hunger bedroht. Die Kraftstoffpreise stiegen stark an. Tausende Menschen wurden durch die Gewalt krimineller Banden vertrieben. Massaker, Entführungen und sexualisierte Gewalt wurden weiterhin so gut wie nie geahndet. Auf der Suche nach Sicherheit flohen zahlreiche Haitianer*innen in die USA und andere Länder des amerikanischen Kontinents, erhielten dort jedoch nur begrenzt internationalen Schutz. Vielmehr wurden sie in den USA Opfer systematischer rassistischer Diskriminierung, die in einigen Fällen bis hin zu Folter reichte.

Hintergrund

Die Gewalt krimineller Banden ging mit zahllosen Entführungen einher, vertrieb Tausende Menschen innerhalb des Landes und sorgte für eine prekäre Sicherheitslage.

Im September 2022 ordneten die Vereinten Nationen die Evakuierung aller nicht unbedingt benötigten UN-Mitarbeiter*innen aus Haiti an.

Nach Berichten, wonach kriminelle Banden die Kontrolle über das wichtigste Tanklager des Landes übernommen hatten, beschloss der UN-Sicherheitsrat im Oktober ein Sanktionspaket gegen Bandenführer in Haiti. Es umfasste u. a. das Einfrieren von Vermögenswerten, ein Reiseverbot und ein Waffenembargo gegen Personen, von denen angenommen wurde, dass sie an kriminellen Aktivitäten und Gewaltakten beteiligt waren oder diese unterstützten.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Tausende Menschen protestierten das gesamte Jahr über gegen Nahrungsmittel- und Kraftstoffmangel. Die Proteste eskalierten im September 2022, nachdem der Premierminister eine Erhöhung der Kraftstoffpreise angekündigt hatte.

Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen waren im September etwa 4,5 Mio. Menschen und damit mehr als 40 Prozent der Bevölkerung Haitis von Hunger bedroht oder litten akuten Hunger.

Nachdem mehrere Jahre lang keine Cholerafälle mehr gemeldet worden waren, wurden Ende Oktober 1.700 Verdachtsfälle registriert. Laut UNICEF betraf die Hälfte davon Kinder. Nach dem Erdbeben im Jahr 2010 waren Tausende Menschen in Haiti an Cholera gestorben.

Straflosigkeit und Gewalt

Die Straflosigkeit für Massaker, Entführungen und sexualisierte Gewalt bestand fort.

Im ersten Halbjahr 2022 dokumentierte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte 934 Tötungen, 684 Körperverletzungen und 680 Entführungen in der Hauptstadt Port-au-Prince. Im Juli 2022 wurden in nur fünf Tagen allein im Stadtviertel Cité Soleil mindestens 234 Menschen durch Bandengewalt getötet oder verletzt.

Ende April 2022 wurden bei einem Bandenkrieg in Port-au-Prince 188 Menschen getötet. Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte wurden bei dieser Auseinandersetzung extreme Gewaltakte verübt wie Enthauptungen, Zerstückelungen und Verbrennungen von Leichen sowie Tötungen von Minderjährigen, die beschuldigt wurden, Informanten der gegnerischen Bande zu sein. Bewaffnete Bandenmitglieder waren außerdem für sexualisierte Gewalt verantwortlich, einschließlich Gruppenvergewaltigungen von erst zehnjährigen Kindern. Auf diese Weise sollten Menschen terrorisiert und bestraft werden, die in Gebieten lebten, die von rivalisierenden Banden kontrolliert wurden.

Auch Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen waren weiterhin gefährdet. Nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalist*innen wurden Anfang September 2022 zwei Journalisten bei ihrer Arbeit im Stadtviertel Cité Soleil getötet und ihre Leichen verbrannt.

Im Oktober 2022 veröffentlichte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte einen Bericht darüber, wie kriminelle Banden Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt als Waffe einsetzen, um Angst zu verbreiten und ihre Einflussbereiche auszuweiten. Aus dem Bericht geht hervor, dass "Frauen, Mädchen, Jungen und Männer zu den Opfern zählten. Auch lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+), die eine marginalisierte und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppe darstellen, wurden besonders ins Visier genommen".

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Weil sich die Menschenrechtslage und die humanitäre Situation zunehmend verschlechterten, flüchteten Haitianer*innen mit Booten von der Insel, um Asyl in anderen Ländern zu suchen. Dabei ertranken zahlreiche Menschen im Meer.

Von September 2021 bis Mai 2022 schoben die USA mehr als 25.000 Haitianer*innen ab. Häufig geschah dies auf Grundlage der Richtlinie Title 42, die es den US-Behörden erlaubt, Migrant*innen und Asylsuchende unter Verstoß gegen nationales und internationales Recht kollektiv in ihr Heimatland oder in ihr letztes Transitland abzuschieben.

Die US-Behörden inhaftierten haitianische Asylsuchende willkürlich und misshandelten sie in diskriminierender und erniedrigender Weise, die rassistisch motivierter Folter gleichkam.

Zu den Misshandlungen, die Haitianer*innen in US-Hafteinrichtungen erdulden mussten, gehörte der fehlende Zugang zu ausreichender Nahrung, medizinischer Versorgung, Informationen, Dolmetscher*innen und Rechtsbeiständen. Asylsuchende berichteten auch, dass man sie während der Abschiebeflüge nach Haiti mit Handschellen und Fußfesseln fixiert hatte. Die Behandlung, die an Sklaverei und Kriminalisierung erinnerte und bei den Betroffenen zu schweren psychischen Beschwerden führte, stellte einen Verstoß gegen das absolute Verbot von Folter und anderweitiger Misshandlung im Völkerrecht dar.

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