Amnesty Report Griechenland 24. April 2024

Griechenland 2023

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Auch 2023 gab es Berichte über rechtswidrige Gewaltanwendung durch die Polizei bei Demonstrationen. Überlebende eines Schiffsunglücks, bei dem über 600 Menschen starben, warfen den griechischen Behörden vor, den Unfall verursacht zu haben. Menschenrechtsverteidiger*innen wurden wegen ihrer Arbeit mit Flüchtlingen und Migrant*innen weiter kriminalisiert. Eine Untersuchung der griechischen Datenschutzbehörde ermittelte 88 Personen, die mithilfe der Spionagesoftware Predator ausgespäht worden waren. Die Rechte von Militärdienstverweigerern wurden nach wie vor verletzt. Nach verheerenden Flächenbränden, die Todesopfer und den Verlust von natürlichem Lebensraum zur Folge hatten, wurde Kritik an der Brandbekämpfung geäußert.

Exzessive Gewaltanwendung

Im Verlauf des Jahres 2023 gab es immer wieder Berichte über rechtswidrige Gewaltanwendung bei Polizeieinsätzen, u. a. während Demonstrationen, so z. B. bei Protesten nach dem verheerenden Eisenbahnunglück von Tembi im Februar 2023. 

Im Juni 2023 sprach ein Gericht in der Hauptstadt Athen einen Polizisten der Folter in "minderschwerer Form" schuldig, weil er im März 2021 bei einer Coronakontrolle auf dem Nea-Smyrni-Platz einen Studenten geschlagen hatte. Ein zweiter Polizist wurde als Mittäter verurteilt. 

Im November 2023 erklärte ein Berufungsgericht die Polizei für verantwortlich, den Psychologen Yiannis Kafkas 2011 bei einer Demonstration in Athen lebensbedrohlich verletzt zu haben. Das Gericht sprach Yiannis Kafkas zudem Schmerzensgeld zu. 

Recht auf Leben

Im September 2023 starb Kostas Manioudakis, nachdem er im Rahmen einer Polizeikontrolle im Dorf Vrisses auf Kreta angehalten und mutmaßlich von Polizeikräften misshandelt worden war. 

Im Oktober 2023 empfahl ein Staatsanwalt, einen Polizisten im Zusammenhang mit der Erschießung des 16-jährigen Roms Kostas Frangoulis im Jahr 2022 in Thessaloniki wegen vorsätzlicher Tötung und rechtswidrigen Schusswaffengebrauchs anzuklagen.

Im November 2023 wurde der 17-jährige Christos Michalopoulos in Leontari im Stadtbezirk Aliartos nach einer Verfolgungsjagd von einem Polizisten erschossen. Der Polizist wurde wegen Totschlags mit möglichem Vorsatz und rechtswidrigen Schusswaffengebrauchs angeklagt. 

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Menschenrechtsverletzungen an den griechischen Grenzen hielten an, darunter auch rechtswidrige Sammelabschiebungen, bei denen zum Teil Gewalt zum Einsatz kam. 

Mehrere Stunden nachdem es von einem Flugzeug der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex erstmals gesichtet worden war, sank am 14. Juni 2023 vor der Hafenstadt Pylos ein Boot mit schätzungsweise 750 Personen an Bord, darunter viele Kinder. Nur 104 Passagiere überlebten. Die Überlebenden sagten gegenüber Amnesty International und Human Rights Watch (HRW) übereinstimmend aus, dass die griechische Küstenwache das Boot mit einem Seil abgeschleppt habe, wodurch es ins Schlingern geraten und schließlich gekentert sei. Die Darstellung der Ereignisse in unabhängigen Berichten namhafter NGOs und Medien war ähnlich, wurde von den griechischen Behörden aber massiv bestritten. Amnesty International und HRW dokumentierten ebenfalls gravierende Fehler der griechischen Behörden bei der Handhabung der Rettungsmaßnahmen und merkten zudem an, dass die anschließend von den griechischen Behörden aufgenommene Untersuchung zum Vorgehen der Küstenwache nur geringe Fortschritte machte und die Behörden die Unverfälschtheit zentraler Beweise untergraben haben könnten. Im November leitete die griechische Ombudsstelle eine Untersuchung zum Vorgehen der Küstenwache ein und bezog sich dabei auf deren Weigerung, ein internes Disziplinarverfahren durchzuführen. Im Juli 2023 kündigte die Europäische Bürgerbeauftragte Untersuchungen zur Rolle von Frontex bei Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer an, auch in Bezug auf das Schiffsunglück vor Pylos. Das Schiffsunglück unterstrich die dringende Notwendigkeit sicherer und legaler Migrationswege nach Europa.

Ab Juli 2023 stieg die Zahl der Flüchtlinge und Migrant*innen, die auf dem Seeweg in Griechenland eintrafen. Während es 2022 knapp 13.000 waren, kamen 2023 insgesamt mehr als 41.000 über das Mittelmeer ins Land. Dies verschärfte die bereits belastenden Lebensbedingungen in den Aufnahmezentren auf den Inseln, wie etwa im "Geschlossenen Zentrum mit kontrolliertem Zugang" (CCAC) auf der Insel Samos, wo die Behörden Neuankömmlinge de facto systematisch inhaftierten. Im Januar 2023 leitete die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren ein, da Griechenland nicht im Einklang mit den EU-Gesetzen zu Asyl und Migration handelte. Dies betraf Hindernisse bezüglich des Zugangs von Flüchtlingen zu Sozialschutz sowie die 2022 durch griechische Gesetze eingeführte Praxis, Menschen im Rahmen von Aufnahme- und Identifizierungsverfahren bis zu 25 Tage lang ihrer Freiheit zu berauben. Im Juli 2023 leitete die Europäische Bürgerbeauftragte eine Untersuchung dazu ein, wie die Europäische Kommission im Kontext ihrer Unterstützung von CCACs gewährleisten kann, dass Grundrechte eingehalten werden. 

Im Oktober 2023 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland dafür, einer HIV-positiven Asylsuchenden in zwei Aufnahmeeinrichtungen angemessene medizinische Hilfe verweigert zu haben. 

Großbrände in der Region Evros (siehe "Recht auf eine gesunde Umwelt") heizten rassistische Hetze an und führten zu Angriffen auf Migrant*innen und Flüchtlinge. 

Eine im Dezember 2023 verabschiedete Gesetzesänderung ermöglichte es Migrant*innen ohne gültige Papiere, die sich Ende November 2023 mindestens drei Jahre in Griechenland aufgehalten hatten und über ein Stellenangebot verfügten, eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Die Gesetzesänderung verringerte auch den Zeitraum, den Asylsuchende warten mussten, bevor sie arbeiten durften, von sechs Monaten auf 60 Tage nach Einreichen des Asylantrags.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Menschenrechtsverteidiger*innen wurden nach wie vor wegen ihrer Arbeit mit Flüchtlingen und Migrant*innen kriminalisiert. Im August 2023 ließ der Oberste Gerichtshof die wegen eines geringfügigen Vergehens gegen Sarah Mardini und Séan Binder erhobenen Anklagen fallen, im September wurden sie dann jedoch zusammen mit 22 anderen Personen wegen vier schwerer Straftaten angeklagt, darunter Gründung von und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Beihilfe zur illegalen Einreise.

Die gegen Panayote Dimitras, den Sprecher der Menschenrechtsorganisation Greek Helsinki Monitor (GHM), und Tommy Olsen, den Vorsitzenden der NGO Aegean Boat Report, erhobenen Anklagen waren weiter anhängig. Die beiden Männer wurden wegen ihres Engagements für Flüchtlinge und Migrant*innen an den griechischen Grenzen und des Meldens von dort stattfindender Gewalt und rechtswidrigen Abschiebungen strafrechtlich verfolgt. Im Januar 2023 verhängten die Behörden strenge Auflagen gegen Panayote Dimitras. Unter anderem erging gegen ihn ein Beschäftigungsverbot für die GHM, das jedoch im Mai wieder aufgehoben wurde. NGOs beklagten, dass es eine Schmutzkampagne und gerichtliche Schikanen gegen Panayote Dimitras gebe.

Recht auf Privatsphäre

Im Juli 2023 machte die griechische Datenschutzbehörde im Rahmen einer Untersuchung zum Einsatz der Spionagesoftware Predator 350 SMS-Nachrichten aus, mit denen versucht worden war, Spähsoftware zu installieren. 88 Personen wurden darüber informiert, dass ihre Mobiltelefone Ziel des Angriffs waren. 

Im September 2023 äußerten sich Angehörige der Zivilgesellschaft sowie Mitglieder des Europäischen Parlaments besorgt darüber, dass mehrere Mitglieder der Hellenischen Behörde für Kommunikationssicherheit und Datenschutz (ADAE) ausgerechnet zu dem Zeitpunkt von heute auf morgen durch das griechische Parlament ausgetauscht worden seien, als sich die Ermittlungen zum Skandal um die Spähsoftware in einer entscheidenden Phase befanden. 

Im Oktober 2023 äußerte der Leiter der ADAE während einer Anhörung vor einem Ausschuss des Europäischen Parlaments seine Besorgnis darüber, dass ein gegenwärtiges und ein früheres Mitglied der ADAE im Fokus strafrechtlicher Ermittlungen standen, während bisher noch niemand für den Einsatz von Spionagesoftware zur Rechenschaft gezogen worden war. 

Rechte von Menschen mit Behinderungen

Im September 2023 wurden der Kapitän einer Fähre und drei seiner Besatzungsmitglieder in Verbindung mit dem Ertrinken des Passagiers Antonis Kargiotis im Hafen von Piräus angeklagt. Es gab Aufzeichnungen von rassistischen Bemerkungen eines der Besatzungsmitglieder über Antonis Kargiotis. Aktivist*innen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen forderten die Behörden auf, zu untersuchen, ob dem Vorfall ein Hassmotiv in Zusammenhang mit mutmaßlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Betroffenen zugrunde lag. 

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im Laufe des Jahres gaben herabwürdigende und verletzende Äußerungen über LGBTI+ seitens Politiker*innen und in den Medien Anlass zur Sorge. 

Im April 2023 meldete das griechische Netzwerk zur Erfassung rassistischer Gewalt (Racist Violence Recording Network) 38 Hassverbrechen im Jahr 2022, die sich entweder gegen LGBTI+ oder gegen Personen richteten, die deren Rechte verteidigten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Laut Berichten vom April 2023 hatte ein Gericht im Dezember 2022 einer Zivilklage gegen die Journalistin Stavroula Poulimeni und die unabhängige Medienkooperative Alterthess teilweise stattgegeben und Alterthess angewiesen, einer Führungskraft eines Goldbergbauunternehmens 3.000 Euro Schadensersatz zu zahlen. Gegen das Urteil wurden Rechtsmittel eingelegt. Die Anklage, welche die Merkmale einer strategischen Klage gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP-Klage) aufwies, beruhte auf einem mutmaßlichen Verstoß gegen Datenschutzgesetze im Zusammenhang mit der Berichterstattung der Journalistin über eine Verurteilung der betreffenden Führungskraft von einem erstinstanzlichen Gericht wegen Umweltschäden.

Frauenrechte

Zwischen Januar und Anfang Dezember 2023 wurden 14 Femizide angezeigt. In ihrem Bericht vom November äußerte die Expert*innenkommission, welche die Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) überwacht, große Besorgnis darüber, dass das Gesetz über das gemeinsame Sorgerecht von 2021 keine ausreichenden Schutzmechanismen enthielt, die gewährleisteten, dass Vorfälle von häuslicher Gewalt bei Entscheidungen über das Sorgerecht und das Erteilen von Besuchsrechten Berücksichtigung finden. 

Im Oktober 2023 empfahl eine Staatsanwältin, zwei Polizisten wegen der Gruppenvergewaltigung einer jungen Frau auf der Omonia-Polizeiwache in Athen im Oktober 2022 als Haupttäter sowie einen dritten Polizisten als Mittäter anzuklagen.

Recht auf Militärdienstverweigerung

Militärdienstverweigerer mussten nach wie vor mit Haft und wiederholter Bestrafung in Form von Geldstrafen sowie mit Verfahren vor Militärgerichten rechnen. Laut 2023 veröffentlichten Angaben wurden 2022 insgesamt 67 Prozent der Anträge auf Militärdienstverweigerung, die sich auf nichtreligiöse Gründe beriefen, abgelehnt. In einigen Rechtsmittelverfahren wurden solche diskriminierenden Ablehnungen durch das Oberste Verwaltungsgericht aufgehoben, mehrere weitere waren Ende des Jahres noch vor dem Gericht anhängig. 

Griechenland hatte die Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses von 2021 in Bezug auf den Fall des Militärdienstverweigerers Lazaros Petromelidis noch immer nicht umgesetzt. In Zusammenhang mit der Entscheidung waren zahlreiche Verstöße gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte  festgestellt worden.

Recht auf Gesundheit

Im September 2023 erklärte der Europäische Ausschuss für soziale Rechte des Europarats eine von Amnesty International eingereichte Kollektivbeschwerde für zulässig. In der Beschwerde wurde angeführt, dass die griechische Regierung durch die nach der Finanzkrise 2009/2010 eingeführten Sparmaßnahmen und die damit einhergehenden Beeinträchtigungen des Gesundheitssystems gegen Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta hinsichtlich der Rechte auf Gesundheit und Nichtdiskriminierung verstoßen habe. 

Im Laufe des Jahres 2023 berichteten Gewerkschaften von Beschäftigten des Gesundheitswesens über massive Herausforderungen im Gesundheitssystem, darunter anhaltender Personalmangel und Unterfinanzierung. 

Recht auf eine gesunde Umwelt

Trotz Berichten über Fortschritte bei der Reduzierung von Treibhausgasemissionen wurde der Energieverbrauch 2023 noch immer größtenteils durch fossile Brennstoffe gedeckt. Im Dezember 2023 forderten drei Umweltorganisationen die Europäische Kommission auf, Griechenland dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass es für Öl- und Gasbohrvorhaben vor den Küsten des Landes systematisch "grünes Licht" gab. 

Es wurde festgestellt, dass der menschengemachte Klimawandel die Wahrscheinlichkeit und die Intensität von extremer Hitze und Überschwemmungen in Griechenland erhöht. Zwischen Juli und September 2023 führten verheerende Waldbrände und Überschwemmungen zu mindestens 38 bestätigten Todesfällen sowie zum Verlust von natürlichem Lebensraum. Tausende Tiere starben, und unzählige Menschen verloren ihre Existenzgrundlage. Der Flächenbrand in der Region Evros war der größte, der je in der EU registriert wurde, und kostete mindestens 20 Personen das Leben, bei denen es sich mutmaßlich um Flüchtlinge und Migrant*innen handelte. Nach den katastrophalen Flächenbränden äußerte sich die Naturschutzorganisation WWF besorgt über das mangelhafte Brandbekämpfungssystem in Griechenland und drängte die Behörden, grundlegende Änderungen vorzunehmen, um die Wälder zu schützen. 

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