Amnesty Report Palästina 29. März 2022

Palästina 2021

Ein kleines Mädchen steht in den Trümmern eines Gebäudes.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021  

Die palästinensischen Behörden im Westjordanland und die De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifen unterdrückten abweichende Meinungen, indem sie mit willkürlichen Inhaftierungen, Folter und anderen Misshandlungen sowie unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstrierende vorgingen. Im Gazastreifen wurden Zivilpersonen vor Militärgerichte gestellt. Bewaffnete palästinensische Gruppen feuerten wahllos Raketen auf Israel ab. Bei der Verteilung von Impfstoffen im Westjordanland wurden hochrangige Staatsbedienstete gegenüber dem Gesundheitspersonal bevorzugt. Frauen genossen weniger Rechte als Männer in Bezug auf Scheidungs-, Sorgerechts- und Erbschaftsangelegenheiten, und die Gewalt gegen Frauen nahm zu. 

Hintergrund

Vom 10. bis 21. Mai 2021 kam es im Gazastreifen zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen, dem fünften in 15 Jahren. 

Die palästinensischen Regierungsparteien blieben territorial gespalten: Die Behörden im Westjordanland wurden von der Fatah geführt, der Gazastreifen stand unter der De-facto-Verwaltung der Hamas. Die Bewohner_innen beider Gebiete standen weiterhin unter israelischer Militärbesatzung und lebten in einem diskriminierenden System, das als Apartheid zu bezeichnen ist.

Am 15. Januar 2021 kündigte Präsident Abbas einen Zeitplan für die Parlamentswahlen, die Präsidentschaftswahlen und die Wahlen zum Palästinensischen Nationalrat für 2021 an, sagte am 30. April aber alle Wahlen wieder ab. Die letzten Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat hatten im Jahr 2006 stattgefunden. Laut der palästinensischen Denkfabrik Aman, die sich für eine transparente Staatsführung einsetzt, waren die Haushaltszuweisungen an politische Parteien, Regierungsstellen und für Sicherheitspersonal sowie die Ausschreibungen für die Verwaltung natürlicher Ressourcen von Korruption überschattet.

Am 10. März 2021 wurde Yahya Sinwar, ein ehemaliger Kommandeur einer bewaffneten palästinensischen Gruppe, erneut zum Anführer der Hamas im Gazastreifen gewählt. Am 1. August wurde Ismail Haniyeh als Vorsitzender des Politbüros der Hamas wiedergewählt. Bei den internen Hamas-Wahlen gab es keine unabhängigen Wahlbeobachter_innen.

Im Juni 2021 ersetzten die palästinensischen Behörden im Westjordanland gewählte Gemeinderäte durch geschäftsführende Ausschüsse, die unter der Aufsicht des Ministeriums für Kommunalverwaltung standen.

Die von Israel seit 2007 verhängte Blockade des Gazastreifens verhinderte weiterhin die Einfuhr von Gütern, die als Sicherheitsrisiko angesehen wurden, darunter mechanische Ersatzteile und Chemikalien, von denen einige durch nicht genehmigte und unsichere Tunnel unter der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten eingeführt wurden. Die Tunnel wurden auch genutzt, um die von der Hamas erhobenen Steuern auf Verbrauchsgüter aus Ägypten zu umgehen. Am 18. April 2021 gab die ägyptische Armee bekannt, sie habe fünf Tunnel zerstört.

Am 30. August und am 28. Dezember 2021 traf sich Präsident Abbas im Rahmen vertrauensbildender Maßnahmen mit dem israelischen Verteidigungsminister Benny Gantz.

Im Oktober nahmen Vertreter_innen der Fatah und der Hamas in Ägypten an Gesprächen zur Bildung einer Einheitsregierung teil.

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Am 24. Juni 2021 starb der Politikkritiker Nizar Banat im Gewahrsam des Sicherheitsdienstes der Palästinensischen Behörde, nachdem dieser ihn in Hebron im südlichen Westjordanland festgenommen und gefoltert hatte. Dies löste in anderen palästinensischen Städten Demonstrationen für das Recht auf freie Meinungsäußerung aus, denen die Behörden mit unverhältnismäßiger und unnötiger Gewalt begegneten.

Demonstrierende und Passant_innen wurden festgenommen und Berichten zufolge gefoltert. Nach Angaben von Addameer, einer palästinensischen Organisation zur Unterstützung von Gefangenen, brachten palästinensische Sicherheitskräfte Ende Juni und Anfang Juli 2021 im Zusammenhang mit den Protesten mindestens 15 Demonstrierende, Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen in eine als "Schlachthaus" bekannte Haftanstalt in der Stadt Jericho im Westjordanland. Ein Addameer-Anwalt sagte, dass man den Festgenommenen "Anstiftung zu konfessionellen und rassistischen Auseinandersetzungen" vorwarf.

Bei Demonstrationen am 26. und 27. Juni 2021 in der Stadt Ramallah im zentralen Westjordanland griffen Sicherheitskräfte in Zivil weibliche Demonstrierende an. Sie zerstörten deren Ausrüstung und beschlagnahmten die Mobiltelefone von acht Journalistinnen.

Wie die Unabhängige Kommission für Menschenrechte (Independent Commission for Human Rights – ICHR), die nationale palästinensische Menschenrechtsinstitution, berichtete, drang die Polizei am 21. und 22. September 2021 in den Campus der Azhar-Universität in Gaza-Stadt ein und verprügelte während einer Einführungsveranstaltung 15 Studierende. Die ICHR verzeichnete 129 Beschwerden über willkürliche Festnahmen im Westjordanland und 80 im Gazastreifen, viele davon im Zusammenhang mit der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit.

Menschenrechtsverteidiger_innen 

Ein Präsidialerlass vom 2. März 2021 verpflichtete NGOs, der Regierung ihre Jahresplanung zur Bewilligung vorzulegen.

Im Vorfeld einer geplanten friedlichen Demonstration am 5. Juli 2021 wurden etwa zwölf Personen festgenommen. Unter ihnen befand sich Ubai Aboudi, der für Bisan, eine palästinensische Organisation für wirtschaftliche und soziale Rechte, arbeitete. Er wurde wegen "Teilnahme an einer illegalen Versammlung" angeklagt. Am 30. November 2021 sprach ein Gericht in Ramallah ihn und sieben weitere Aktivisten aus Mangel an Beweisen von allen Anklagepunkten frei.

Am 4. Juli 2021 wurde Mohannad Karajah, Leiter der palästinensischen Menschenrechtsgruppe Lawyers for Justice, bei der Arbeit festgenommen. Der Generalstaatsanwalt verhörte ihn am 10. November wegen "Diffamierung der Palästinensischen Behörde", "Teilnahme an einer illegalen Versammlung" und "Anstiftung zu konfessionellen Auseinandersetzungen". Mohannad Karajah gab an, ihm sei gesagt worden, dass die Anzeige des Allgemeinen Geheimdienstes gegen ihn und Lawyers for Justice mit ihrer Medienkampagne gegen die rechtswidrige Inhaftierung politischer Aktivist_innen zusammenhänge.

Folter und andere Misshandlungen

Die palästinensischen Behörden machten weiterhin in großem Umfang von Folter Gebrauch. Bei der ICHR gingen 104 Beschwerden über Folter und andere Misshandlungen gegen Behörden im Westjordanland und ebenfalls 104 gegen Behörden im Gazastreifen ein. Am 6. September 2021 schloss die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung über die Folterung und den Tod von Nizar Banat im Gewahrsam ab. Eine Autopsie ergab Frakturen, Prellungen und Abschürfungen am ganzen Körper.

Vierzehn Angehörige der Sicherheitskräfte mit niedrigem Dienstgrad wurden im September in Hebron vor Gericht gestellt.

Am 22. Mai 2021 wurde der Politikkritiker Tarek Khudairi bei einer Veranstaltung in Ramallah festgenommen. Er berichtete Amnesty International, dass er während des Verhörs geohrfeigt und gegen eine Wand gedrückt worden sei. Darüber hinaus habe man ihn gezwungen, in Stresspositionen zu verharren, und ihm zwei Tage lang jegliche medizinische Versorgung verwehrt.

Recht auf ein faires Gerichtsverfahren

Im Jahr 2019 hatte Präsident Mahmoud Abbas den Hohen Justizrat (High Judicial Council), der die Unabhängigkeit der Richter_innen verbessern sollte, sowie den Obersten Gerichtshof aufgelöst und stattdessen einen Übergangsjustizrat (Transitional High Judicial Council) eingerichtet. Am 11. Januar 2021 erließ er Präsidialdekrete zur Ernennung der Mitglieder des Übergangsjustizrats, was die Unabhängigkeit der Justiz weiter untergrub.

Am 21. Oktober 2021 gab die von der Hamas geführte Behörde für Militärjustiz im Gazastreifen die Urteile in den Fällen von 13 Männern bekannt, die des Drogenhandels für schuldig befunden worden waren. Die Angeklagten, allesamt Zivilpersonen, wurden vor Militärgerichten ohne Zugang zu Rechtsbeiständen verurteilt. Laut dem Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte gaben einige der Männer an, man habe sie gefoltert, um "Geständnisse" zu erpressen. Ein Angeklagter wurde zum Tode verurteilt, zehn Angeklagte wurden zu 10 bis 18 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, und zwei Personen erhielten Freisprüche.

Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen

Zwischen dem 10. und 21. Mai 2021 feuerten bewaffnete palästinensische Gruppen im Gazastreifen Tausende Raketen auf Israel ab, von denen die meisten vom israelischen Raketenabwehrsystem "Iron Dome" abgefangen wurden. Das wahllose Abfeuern von Raketen ist ein Kriegsverbrechen. In Israel starben 13 Menschen infolge der Raketenangriffe, unter ihnen Khalil Awad und seine 16-jährige Tochter Nadine. Am 12. Mai schlug eine Rakete im Hof ihres Hauses in Dahmash nahe der Stadt Lod in Zentralisrael ein. Nach Angaben der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al Mezan forderten die Raketen auch im Gazastreifen mindestens 20 Tote und 80 Verletzte. Der sechsjährige Bara al-Gharabli und der 14-jährige Mustafa Mohammad Al Aabed wurden am 10. Mai 2021 in der Stadt Jabalya im nördlichen Gazastreifen getötet, wie die Organisation Defense for Children International – Palestine mitteilte.

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) entdeckte auf dem Gelände einer UNRWA-Schule im Stadtteil Zeitoun in Gaza-Stadt einen offenbar von bewaffneten palästinensischen Gruppen genutzten Tunnel. Er war freigelegt worden, als das Gelände am 13. und 15. Mai von israelischen Raketen getroffen wurde.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Am 3. März 2021 leitete die Anklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Fatou Bensouda eine Untersuchung der Lage in Palästina ein. Am 27. Mai setzte der UN-Menschenrechtsrat eine internationale Untersuchungskommission unter der Leitung von Navi Pillay ein, um Verstöße in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel zu untersuchen. Die palästinensische Führung begrüßte die Einsetzung der Kommission. Beide Untersuchungen galten mutmaßlichen Verstößen und Verbrechen sowohl seitens der palästinensischen Behörden und bewaffneter Gruppen als auch seitens der israelischen Behörden (siehe Länderkapitel Israel und besetzte palästinensische Gebiete).

Verschwindenlassen

Das Schicksal von sechs Männern, die 2002 durch die palästinensischen Behörden dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen waren, blieb ungeklärt, und die Behörden unternahmen keine Schritte zur Untersuchung des Falls.

Avera Mengistu und Hisham Al-Sayed, zwei israelische Staatsangehörige mit psychischen Erkrankungen, werden seit ihrer Einreise in den Gazastreifen im Jahr 2014 bzw. 2015 vermisst. Die Hamas inhaftierte sie und benutzte sie als Geiseln in Verhandlungen über die Freilassung mehrerer von Israel festgehaltener Palästinenser_innen. Die Hamas machte auch 2021 keine Angaben über den Gesundheitszustand der Männer oder darüber, ob sie in der Lage waren, mit ihren Familien in Israel zu kommunizieren. 

Recht auf Gesundheit

Das Gesundheitsministerium im Westjordanland bestätigte am 2. März 2021, dass es etwa 1.200 Dosen Corona-Impfstoff an hochrangige Staatsbedienstete und nicht an medizinisches Personal verteilt hatte.

Am 14. Oktober stellte eine staatliche Prüfung im Westjordanland fest, dass die Sozialleistungen für die vom Coronavirus betroffenen Menschen nicht gerecht und transparent verteilt wurden und dass nur 5.533 der 40.000 Anspruchsberechtigten im Gazastreifen Zahlungen erhalten hatten.

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen hatten nach wie vor weniger Rechte als Männer, wenn es um Scheidungs-, Sorgerechts- und Erbschaftsangelegenheiten ging. In einigen Fällen wurden Frauen von Familienangehörigen tätlich angegriffen, wenn sie sich weigerten, auf ihr Erbe zu verzichten, oder wenn sie weitere Personenstandsrechte einklagten. Die Behörden boten dabei nur unzureichenden Schutz.

Gewalt gegen Frauen nahm 2021 im Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen und der sich verschärfenden Wirtschaftskrise zu. Nach Angaben des Frauenzentrums für Rechtshilfe und Beratung (Women’s Centre for Legal Aid and Counselling) kamen 28 Frauen und Mädchen durch häusliche Gewalt ums Leben. Am 16. Juni wurde eine Frau im Gazastreifen nach einem Erbstreit von einem männlichen Verwandten durch einen Schlag auf den Kopf getötet.

Am 8. September 2021 sicherten Vertreter_innen von Regierungsbehörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und UN-Agenturen mehr Unterstützung bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt zu. Nach der Schließung von Notunterkünften für Frauen während der Coronalockdowns richteten palästinensische Krankenhäuser sichere Zufluchtsstätten für Frauen ein.

Todesstrafe

Die De-facto-Verwaltung der Hamas verhängte im Gazastreifen Todesurteile. Es wurden 2021 jedoch keine Hinrichtungen vollzogen.

Klimakrise

Obwohl die Oliven- und die Traubenernte in den vergangenen Jahren durch den Klimawandel beeinträchtigt wurden, setzten die palästinensischen Behörden Vorschläge für ressourcenschonende Lösungen zur Klimaanpassung der Landwirtschaft nicht um.

Umweltzerstörung

In den palästinensisch kontrollierten Gebieten des Westjordanlandes wurde ein Drittel des Hausmülls auf informellen Deponien ohne Umweltschutzmaßnahmen entsorgt; nur 1 Prozent wurde recycelt.

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