Amnesty Report Brasilien 24. April 2024

Brasilien 2023

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Brasilien wies im weltweiten Vergleich auch 2023 ein sehr hohes Niveau an gesellschaftlicher Ungleichheit auf. Der anhaltende systemische Rassismus beeinträchtigte die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und bürgerlichen Rechte der Schwarzen Bevölkerung. Frauen, insbesondere Schwarze Frauen, stießen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte weiterhin auf Hindernisse. Die Zahl der Coronafälle blieb hoch, und die coronabedingte Übersterblichkeit lag weit über den Prognosen. Nach wie vor gab es ein hohes Maß an Ernährungsunsicherheit, und ein Drittel der Bevölkerung lebte noch immer unterhalb der Armutsgrenze. Die Schulbesuchsquote blieb niedrig, und die Gewalt an den Schulen nahm zu. Die Polizei wandte weiterhin unverhältnismäßige Gewalt an, die zu rechtswidrigen Tötungen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen führte und in der Regel straflos blieb. Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen mussten nach wie vor um ihre Sicherheit fürchten. Extreme Wetterereignisse hatten Tod und Vertreibung sowie Zerstörung von Eigentum zur Folge. Indigenen Bevölkerungsgruppen wurde die uneingeschränkte Wahrnehmung ihrer Rechte verweigert, und die Demarkierung indigener Gebiete – d. h. ihre endgültige Anerkennung – kam nur langsam voran. Das Ausmaß der geschlechtsspezifischen Gewalt war noch immer alarmierend hoch, wobei trans Personen besonders gefährdet waren. Schwangerschaftsabbrüche galten weiterhin als Straftaten, was eine Gefahr für Schwangere darstellte, die einen solchen Eingriff durchführen lassen wollten.

Hintergrund

Im Januar 2023 trat Luiz Inácio Lula da Silva nach seinem Wahlsieg 2022 das Amt des Präsidenten an, nachdem er das Land bereits in den frühen 2000er-Jahren zweimal regiert hatte. Am 8. Januar 2023 demonstrierten in der Hauptstadt Brasília 3.900 Menschen gegen das Wahlergebnis. Bis Dezember 2023 waren 1.345 Personen wegen verschiedener Vorwürfe, darunter "gewaltsame Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats" und "versuchter Staatsstreich" angeklagt worden; 30 Personen wurden schuldig gesprochen.

Das Oberste Wahlgericht (Tribunal Superior Eleitoral) schloss den ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro bis 2030 von der Kandidatur für ein politisches Amt aus. Gegen ihn wurde wegen mehrerer Straftaten ermittelt, u. a. wegen Betrugs im Zusammenhang mit gefälschten Corona-Impfzertifikaten.

Im Jahr 2023 gingen bei der staatlichen Ombudsstelle für Menschenrechte (Ouvidoria Nacional de Direitos Humanos) mehr als 3,4 Mio. Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen ein, darunter Rassismus, körperliche und seelische Gewalt sowie sexuelle Nötigung. Dies entsprach einem Anstieg von 41 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Die sozialen und wirtschaftlichen Rechte wurden weiterhin verletzt, und die Ungleichheit zwischen den Bevölkerungsgruppen und Geschlechtern blieb ein zentrales Problem. Brasilien wies im weltweiten Vergleich ein sehr hohes Niveau an gesellschaftlicher Ungleichheit auf, was sich besonders in Bezug auf Einkommen und Beschäftigungsquoten bemerkbar machte. Das Gefälle bestand zwischen Schwarzen und weißen Bevölkerungsgruppen, wobei Frauen unverhältnismäßig stark betroffen waren.

Trotz einer knapp über der Inflation liegenden Erhöhung des Mindestlohns und der Ausweitung des brasilianischen Sozialhilfeprogramms Bolsa Família  eines der umfangreichsten Einkommenstransfer-Programme weltweit  besaß laut Weltbank 1 Prozent der Bevölkerung noch immer fast die Hälfte des Vermögens des Landes.

Recht auf Gesundheit

Die zwischen Januar und Mitte Juli 2023 verzeichnete Übersterblichkeit betrug 48.515 Todesfälle und lag damit um 18 Prozent über den Prognosen. Als Gründe für die starke Abweichung wurden die Untererfassung von Coronafällen und deren Langzeitfolgen sowie die Überbelegung von Krankenhäusern und Gesundheitszentren angeführt. Zudem wird angenommen, dass sich Personen mit plötzlich auftretenden oder chronischen Erkrankungen aus Angst vor einer Ansteckung mit Corona nicht in Behandlung begeben hatten.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums starben zwischen Januar und Mai 2023 insgesamt 477 Frauen bei der Geburt. Schwarze und indigene Frauen waren überproportional betroffen. Die Müttersterblichkeitsrate war bei Schwarzen Frauen doppelt so hoch wie bei weißen Frauen.

Recht auf Nahrung

Die Ernährungsunsicherheit betraf unverhältnismäßig viele Schwarze Familien: 22 Prozent der von Schwarzen Frauen geführten Haushalte waren von Hunger betroffen. Mehr als 70 Mio. Menschen litten unter Ernährungsunsicherheit, und 21,1 Mio. (10 Prozent der Bevölkerung) litten Hunger. Der Regierungsplan "Brasilien ohne Hunger" (Brasil Sem Fome) zielte darauf ab, die Armut um 2,5 Prozent zu reduzieren und das Land bis 2030 von der Welthungerkarte der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen zu entfernen.

Recht auf Wohnen und Arbeit

Systematischer Rassismus und Sexismus schränkten auch 2023 das Recht auf angemessenen Wohnraum und menschenwürdige Arbeit ein. 63 Prozent der von Schwarzen Frauen geführten Haushalte lebten unterhalb der Armutsgrenze.

Wie Zahlen für das Vorjahr zeigten, lebten 2022 noch immer 33 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, wobei 6,4 Prozent sogar von extremer Armut betroffen waren. 100 Mio. Menschen verfügten zudem nicht über sanitäre Einrichtungen oder angemessenen Zugang zu sauberem Wasser. Laut Daten des Ministeriums für Soziale Entwicklung wurden von März bis September 2023 insgesamt 3 Mio. Familien, die vom Sozialhilfeprogramm Bolsa Família profitierten, über die Armutsgrenze gehoben. Im Jahr 2023 unterstützte das Programm 21,4 Mio. Familien.

Es mangelte nach wie vor erheblich an Wohnraum. Nach Angaben der Universität von Minas Gerais waren in Brasilien mindestens 215.000 Menschen von Obdachlosigkeit betroffen. Es gab landesweit 11.403 Favelas (Slumviertel in Großstädten), in denen rund 16 Mio. Menschen (12 Prozent der brasilianischen Bevölkerung) in 6,6 Mio. Haushalten lebten.

Ein großer Teil der Bevölkerung erhielt nicht einmal den Mindestlohn. Nach Angaben der Stiftung Fundação Abrinq lebten 50,8 Prozent der Kinder im Alter von bis zu 14 Jahren (22,3 Mio. Kinder) in Haushalten mit einem Pro-Kopf-Einkommen von höchstens der Hälfte des Mindestlohns, was einem Anstieg von 2,7 Mio. gegenüber 2022 entspricht. In 10,6 Mio. (24,1 Prozent) dieser Fälle verfügten die Haushalte sogar nur über ein Pro-Kopf-Einkommen von maximal einem Viertel des Mindestlohns.

Die Arbeitslosenquote sank von 9,2 Prozent im Jahr 2022 auf 7,7 Prozent im dritten Quartal des Jahres 2023, was 8,3 Mio. Arbeitslosen entsprach. 39 Mio. Personen waren im informellen Sektor beschäftigt.

Im Laufe des Jahres erhielt die staatliche Ombudsstelle für Menschenrechte Beschwerden über 3.422 Fälle sklavereiähnlicher Arbeit, 3.925 Fälle der Ausbeutung von Arbeitskräften sowie 1.443 Fälle von institutionellen Praktiken, die gegen die Menschenrechte verstießen.

Recht auf Bildung

Laut einer Studie des Kinderhilfswerks UNICEF besuchten im Jahr 2023 in Brasilien 2 Mio. Kinder und Jugendliche (10 Prozent) keine Schule. Die Hauptgründe waren Kinderarbeit (48 Prozent) und Lernschwierigkeiten (30 Prozent). Weitere Ursachen waren u. a. Teenager-Schwangerschaften (14 Prozent) und Rassismus (6 Prozent). 63 Prozent der Kinder, die keine Schule besuchten, waren Schwarz. Ein Quotensystem für den Hochschulzugang von Angehörigen ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen wurde vom Kongress bis 2033 verlängert, und Quilombolas wurden ausdrücklich mit aufgenommen.

Die Gewalt an Schulen nahm zu. Von Januar bis Ende Oktober 2023 wurden 13 Fälle von Waffengewalt an Schulen registriert, bei denen neun Personen getötet wurden, u. a. durch Schusswaffeneinsatz. Diese Fälle machen insgesamt 30 Prozent aller Gewalttaten an Schulen in den letzten 20 Jahren aus. Alle Täter waren männlich, die meisten Opfer hingegen weiblich.

Rechtswidrige Gewaltanwendung

Polizeigewalt, rechtswidrige Tötungen und willkürliche Inhaftierungen waren auch 2023 an der Tagesordnung, wobei Schwarze Menschen aufgrund des systemischen Rassismus besonders stark betroffen waren. Zwischen Juli und September 2023 wurden mindestens 394 Personen bei Polizeieinsätzen in den Bundesstaaten Bahia, Rio de Janeiro und São Paulo getötet. Trotz des Ausmaßes der Gewalt soll der Exekutivsekretär des Justizministeriums im Hinblick auf die exzessive Polizeigewalt in Bahia gesagt haben: "Das organisierte Verbrechen kann man nicht mit einem Gewehr mit Rosen bekämpfen."

Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2019, das Maßnahmen zur Reduzierung der Polizeigewalt angeordnet hatte, wurde weiterhin missachtet. Bei schwer bewaffneten Polizeieinsätzen im Zuge des "Kriegs gegen Drogen" in Favelas und benachteiligten Vierteln kam es zu heftigen Schusswechseln, rechtswidrigen Tötungen und außergerichtlichen Hinrichtungen sowie unrechtmäßigem Betreten und Zerstörung von Eigentum. Auch über Folter und andere Misshandlungen, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und Verschwindenlassen wurde berichtet. Zudem wurden grundlegende staatliche Leistungen wie der Zugang zu Schulen und Gesundheitseinrichtungen zeitweilig ausgesetzt. Im Oktober 2023 fand in der Favela Complexo da Maré von Rio de Janeiro ein sechstägiger Polizeieinsatz statt, von dem mehr als 120.000 Einwohner*innen betroffen waren. Während dieses Zeitraums hatten mehr als 17.000 Schüler*innen keinen Zugang zur Schule, und mehr als 3.000 Arzttermine wurden ausgesetzt.

In der Region Baixada Santista im Bundesstaat São Paulo wurden bei einer am 28. Juli 2023 als Reaktion auf die Tötung eines Polizisten durchgeführten Polizeiaktion 958 Personen festgenommen und 30 getötet. Auch rechtswidrige Razzien wurden durchgeführt. Amnesty International dokumentierte in Zusammenarbeit mit dem Nationalen Rat für Menschenrechte (Conselho Nacional dos Direitos Humanos) elf Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte, darunter außergerichtliche Hinrichtungen, unrechtmäßiges Eindringen in Wohnungen sowie Folter und andere Misshandlungen. Am 2. August 2023 wurden im Bundesstaat Rio de Janeiro bei einem Polizeieinsatz im Stadtteil Vila Cruzeiro zehn Menschen getötet und vier verletzt.

Polizeieinsätze verursachten auch weiterhin den Tod von Kindern und Jugendlichen. So wurde am 7. August 2023 der 13-jährige Thiago Menezes von der Polizei rechtswidrig getötet, als er auf einem Motorrad fuhr. Am 4. September ordnete das Gericht des Bundesstaats Rio de Janeiro die Präventivhaft von vier Polizisten an, die mutmaßlich an der Tötung beteiligt waren. Am 12. August wurde die fünfjährige Eloah Passos beim Spielen in ihrem Haus von einer verirrten Kugel getroffen. Am 16. August starb die dreijährige Heloísa Santos, nachdem ein Polizist auf den Wagen geschossen hatte, in dem sie sich mit ihrer Familie befunden hatte.

Straflosigkeit

Rechtswidrige Gewaltanwendung durch die Polizei wurde auch 2023 weder umgehend noch wirksam untersucht.

Das Verschwindenlassen des 16-jährigen Davi Fiuza während einer Polizeirazzia in der Stadt Salvador im Bundesstaat Bahia im Jahr 2014 blieb unaufgeklärt. Drei Polizisten, die wegen der Ermordung des Menschenrechtlers Pedro Henrique Cruz im Jahr 2018 in Tucano im Bundesstaat Bahia angeklagt waren, sind noch immer nicht vor Gericht erschienen, und seine Mutter, Ana Maria Santos Cruz, war auch 2023 noch Drohungen und Einschüchterungen ausgesetzt.

Am 26. September 2023 nahm die Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro die Ermittlungen im Mordfall des zehnjährigen Eduardo de Jesus wieder auf, der im Jahr 2015 von der Militärpolizei in der Favela Complexo do Alemão von Rio de Janeiro beim Spielen vor seinem Haus erschossen worden war. Drei Polizisten wurden wegen der im Jahr 2020 erfolgten Tötung des 14-jährigen João Pedro in dessen Haus angeklagt. Bis Ende 2023 waren sie jedoch noch nicht vor Gericht gestellt worden und nahmen weiterhin an Polizeieinsätzen teil.

Im Bundesstaat Ceará kamen zwischen Juni und September 20 von 33 Polizist*innen vor Gericht, die wegen ihrer Beteiligung am Massaker von Curió im Jahr 2015 angeklagt worden waren. Sechs von ihnen wurden wegen Mordes und Folter schuldig gesprochen, 14 erhielten Freisprüche. Die übrigen 13 Personen waren noch nicht vor Gericht gestellt worden.

Am 24. Juli 2023 nahm die Bundespolizei den ehemaligen Feuerwehrmann Maxwell Simões Corrêa fest, da er als dritter Verdächtiger in dem langjährigen Untersuchungsverfahren im Fall der Ermordung der Stadträtin und Menschenrechtsverteidigerin Marielle Franco und ihres Fahrers Anderson Gomes im Jahr 2018 galt. Er und die beiden anderen Verdächtigen, die 2019 angeklagten ehemaligen Militärpolizisten Ronnie Lessa und Élcio de Queiroz, befanden sich Ende 2023 noch in Haft.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Menschenrechtsverteidiger*innen waren in Brasilien nicht ausreichend geschützt. Laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Justiça Global wurden dort in den vergangenen vier Jahren jeden Monat durchschnittlich drei Menschenrechtler*innen getötet.

Das im Jahr 2007 per Dekret eingerichtete Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen (Programa de Proteção de Defensores de Direitos Humanos, Comunicadores e Ambientalistas) wurde noch immer nicht durch gesetzliche Bestimmungen untermauert und enthielt keine differenzierten Ansätze hinsichtlich Geschlecht, ethnischer Herkunft, Geschlechtsidentität und Territorium. Sechzehn Bundesstaaten verfügten über keine eigenen Programme, wodurch die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen beeinträchtigt wurde. Nach Angaben des Menschenrechtsministeriums betrafen 30 Prozent der 269 im August vorliegenden Fälle die Verfolgung indigener und 44 Prozent die Verfolgung Schwarzer Menschenrechtsverteidiger*innen.

Die Interamerikanische Menschenrechtskommission erließ in zwei Fällen Schutzmaßnahmen für Menschenrechtsverteidiger*innen: einmal für die indigene Gemeinschaft der Pataxó im Bundesstaat Bahia und einmal für die im Gebiet Boa Hora III im Bundesstaat Maranhão lebende Quilombola-Gemeinschaft.

Mehr als ein Jahr nach der Ermordung des Indigenenforschers Bruno Pereira und des Journalisten Dom Phillips entschied die Justiz, die Verdächtigen wegen Mordes und Verbergens einer Leiche anzuklagen. Die Polizei beschuldigte Rubens Villar Coelho, bekannt als "Colômbia", die Morde in Auftrag gegeben zu haben, doch waren die Ermittlungen Ende 2023 noch nicht abgeschlossen.

Die im Jahr 2022 verübte Ermordung von Raimundo Nonato durch drei vermummte Männer wurde auch 2023 nicht aufgeklärt. Raimundo Nonato war Mitglied der Bewegung landloser Landarbeiter*innen (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra).

Im August 2023 wurde Maria Bernadete Pacífico (bekannt als Mãe Bernadete), die 72-jährige Sprecherin der Quilombola-Gemeinschaft Pitanga dos Palmares in der Stadt Simões Filho im Bundesstaat Bahia, getötet. Sie hatte seit 2017 dafür gekämpft, dass die Tötung ihres als Binho do Quilombo bekannten Sohnes aufgeklärt wird. Mãe Bernadete hatte mehrfach gegen sie gerichtete Drohungen angezeigt und war in das Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen aufgenommen worden.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Brasilien hatte das Escazú-Abkommen noch immer nicht ratifiziert. Extreme Wetterereignisse forderten Menschenleben, zerstörten Eigentum und hatten Vertreibungen zur Folge. Schwarze Menschen waren unverhältnismäßig stark betroffen, da sie mit höherer Wahrscheinlichkeit in Hochrisikogebieten ohne Präventions- oder Schutzmaßnahmen lebten.

Der Nationale Zivilschutz wies etwa 14.000 Gebiete als Regionen aus, in denen eine geologische Katastrophe sehr wahrscheinlich ist, was die Unterkünfte von 4 Mio. Menschen betreffen könnte. Die Regierung ergriff keine angemessenen Maßnahmen, um diesen Risiken zu begegnen, sodass die Rechte Tausender Menschen auf Wohnen, Wasser, Sicherheit und Leben ernsthaft gefährdet waren. Am 16. Februar 2023 wurden an der Küste des Bundesstaats São Paulo 49 Menschen durch starke Regenfälle getötet, 23 verletzt, 2.251 obdachlos und 1.815 vertrieben. Die Wasser- und Stromversorgung sowie die Telefondienste waren beeinträchtigt. Im Juni 2023 litten im Bundesstaat Maranhão 31.000 Familien unter den Folgen schwerer Regenfälle. Dabei kamen sechs Menschen zu Tode, 1.920 verloren ihr Obdach und 3.923 wurden vertrieben. Aufgrund extremer Wetterereignisse erlitten im Bundesstaat Acre rund 32.000 Menschen Schäden, im Bundesstaat Pará mussten mindestens 1.800 Menschen ihre Häuser verlassen, und in der Stadt Manaus wurden 172 Familien obdachlos.

Im September 2023 forderte der dritte Wirbelsturm des Jahres 2023 im Bundesstaat Rio Grande do Sul 21 Menschenleben und machte Tausende obdachlos. Zahlreiche Orte wurden überflutet, die Stromversorgung fiel aus, und Häuser wurden weggeschwemmt. Laut dem unabhängigen Analysetool Climate Action Tracker waren die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und zur Abmilderung seiner Folgen "höchst unzureichend", und bei allen in die Wege geleiteten Reaktionen mangelte es an Planung und Koordination auf Bundesebene.

In den Gebieten des Bundesstaats Amazonas wurden die geringsten Niederschläge der letzten 40 Jahre verzeichnet. Extreme Trockenheit war die Folge.

Zwar sank 2023 die Entwaldung im Amazonasgebiet, einer der wichtigsten Kohlenstoffsenken der Welt, offiziellen Angaben zufolge auf den niedrigsten Stand der letzten fünf Jahre, doch entsprach das Ausmaß der Rodungen immer noch 1.300 Fußballfeldern pro Tag. Während der Weltklimakonferenz COP28 kündigte Präsident Lula an, dass Brasilien der informellen Allianz OPEC+ (Organisation ölexportierender Länder und verbündeter Länder) beitreten werde. In seiner Rede bekräftigte er, dass Brasilien eine führende Rolle in der Klimapolitik übernehmen werde, um einen gerechten Übergang zu einer grünen Wirtschaft zu gewährleisten. COP-Organisator*innen bestätigten, dass Brasilien die Weltklimakonferenz 2025 (COP30) in Belém do Pará im Amazonasgebiet ausrichten wird.

Rechte indigener Gemeinschaften

Die indigene Politikerin Sônia Guajajara wurde zur ersten Ministerin für indigene Völker ernannt.

Indigene Gemeinschaften konnten nicht in vollem Umfang von ihren Rechten auf Land und Territorium, Gesundheit, Ernährungssicherheit, Selbstbestimmung und traditionelle Lebensweise Gebrauch machen. Am 20. Januar 2023 rief das Gesundheitsministerium den nationalen Gesundheitsnotstand aus, da es an Unterstützung für die indigene Gemeinschaft der Yanomami fehlte, die unter Unterernährung, Umweltverschmutzung und sexualisierter Gewalt litt. Hauptsächliche Ursache dieser Situation waren illegale Bergbauaktivitäten. Trotzdem wurde noch immer auf 263.000 Hektar Land, von dem sich fast 90 Prozent im Amazonasgebiet befinden, illegaler Bergbau betrieben.

Die Regierung bewilligte die Demarkierung von acht indigenen Gebieten, doch Angaben der staatlichen Indigenenbehörde FUNAI zufolge wurden 134 Gebiete gerade erst geprüft, standen also noch ganz am Anfang des Demarkierungsprozesses. Anfang Oktober 2023 verabschiedete der Kongress einen Gesetzentwurf zur Begrenzung des Zeitrahmens für die Demarkierung indigener Gebiete. Der Präsident legte sein Veto gegen wesentliche Passagen des Gesetzes ein, wurde jedoch vom Kongress überstimmt.

Infolge des Konflikts und der Gewalt im Zusammenhang mit der Landdemarkierung wurden im Bundesstaat Bahia im Januar 2023 zwei junge Männer der indigenen Gemeinschaft Pataxó, Nawir Brito de Jesus und Samuel Cristiano do Amor Divino, getötet, und im Juni ein 16-Jähriger, der ebenfalls den Pataxó angehörte. Im Bundesstaat Roraima wurde im April ein Angehöriger der indigenen Gemeinschaft der Yanomami bei einem Angriff durch Bergarbeiter getötet. Im September 2023 wurden die verkohlten Leichen eines der indigenen Gemeinschaft der Guarani Kaiowá angehörenden Ehepaars, Sebastiana Gauto und Rufino Velasque, in ihrem niedergebrannten Haus im Bundesstaat Mato Grosso do Sul aufgefunden.

Nach Angaben des Menschenrechtsministeriums wurden elf Angehörige der Guarani Kaiowá in das Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen aufgenommen.

Quilombolas

Laut der Volkszählung von 2022 bezeichneten sich 1.327.802 Menschen (0,65 Prozent der Bevölkerung) als Quilombolas, also Nachfahren von Afrikaner*innen, die der Sklaverei entkommen waren. Bei der Vergabe von Landtiteln für Quilombola-Gemeinden wurden kaum Fortschritte erzielt. Die Beobachtungsstelle für Quilombola-Gebiete verzeichnete im Oktober 2023 insgesamt 1.787 ausstehende Titelvergabeverfahren. Im Jahr 2023 wurden fünf neue Landtitel an Quilombola-Gemeinden vergeben, wovon 960 Familien profitierten.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Das Ausmaß geschlechtsspezifischer Gewalt war weiterhin alarmierend hoch. Zwischen Januar und Juni 2023 wurden 599 Femizide und 263 versuchte Femizide gemeldet. Bis Oktober 2023 waren 86.593 Berichte über Gewalt gegen Frauen eingegangen.

Die Regierung hatte noch immer keine politischen Maßnahmen zur Eindämmung von geschlechtsspezifischen Gewalttaten ergriffen, die sowohl frauenfeindlich als auch rassistisch motiviert waren.

Transgeschlechtliche Menschen waren in Brasilien auch 2023 extremer Gewalt und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Im 14. Jahr in Folge wurden dort mehr trans Menschen getötet als irgendwo sonst auf der Welt. Zwischen Januar und Oktober 2023 registrierte die staatliche Ombudsstelle für Menschenrechte 3.873 Fälle von Menschenrechtsverletzungen gegen trans Menschen, u. a. tätliche Gewalt, Diskriminierung und Rassismus. Im Jahr 2022 waren insgesamt 3.309 Fälle registriert worden.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Schwangerschaftsabbrüche standen weiterhin unter Strafe. Bis Juli 2023 starben nach Angaben des Gesundheitsministeriums mindestens 19 Schwangere bei dem Versuch, einen Abbruch vornehmen zu lassen. Im September befasste sich der Oberste Gerichtshof erneut mit einer erstmals 2017 vorgebrachten Klage auf Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten zwölf Wochen, doch die Abstimmung wurde abermals ausgesetzt.

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