Amnesty Report Großbritannien und Nordirland 29. März 2022

Grossbritannien und Nordirland 2021

Das Bild zeigt eine Frau, die bei einer Demonstration ein Bild von Julian Assange hält und der Forderung "Free Assange"

"Freiheit für Julian Assange": Eine Frau demonstriert in London gegen die Auslieferung des Wikileaks-Gründers von Großbritannien an die USA (10. Dezember 2021).

Berichtszeitraum: 01. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Die Regierung sicherte eine Untersuchung des staatlichen Umgangs mit der Coronapandemie zu. Eine von sechs Millionen Menschen in Anspruch genommene finanzielle Sozialleistung wurde drastisch gekürzt. Die Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen wurden routinemäßig verletzt. Der Entwurf für ein neues Polizeigesetz gefährdete die Rechte auf friedliche Versammlung und auf Nichtdiskriminierung. Ein Entwurf für ein Gesetz zum Gerichtssystem sowie eine Überprüfung der Menschenrechtsgesetzgebung sorgten für Bedenken. In bestimmten Gegenden Nordirlands war es nach wie vor schwierig, Schwangerschaftsabbrüche vornehmen zu lassen. Menschenrechtsverletzungen, die in der Vergangenheit in Nordirland verübt worden waren, wurden weiterhin nicht angemessen aufgearbeitet. Gleiches galt für die Mittäterschaft Großbritanniens an dem geheimen Inhaftierungsprogramm der USA. Ein Gerichtsurteil, das die Auslieferung von Julian Assange in die USA verhindert hatte, wurde im Berufungsverfahren aufgehoben. Die Haftbedingungen in Schottland waren unzulänglich.

Hintergrund

Die Coronapandemie eskalierte im Jahr 2021: Die Fallzahlen stiegen rapide an, und die Krankenhäuser kamen an die Belastungsgrenze. Am 5. Januar 2021 verhängte die Regierung einen Lockdown für England. Das britische Parlament verlängerte 2021 zweimal die Zusatzbefugnisse, die es der britischen Regierung und den Regionalregierungen von Nordirland, Schottland und Wales im Vorjahr aufgrund der Pandemie eingeräumt hatte. Im Juli und August wurden die meisten Coronamaßnahmen landesweit aufgehoben. Als die Infektionen Ende Dezember einen neuen Höchststand erreichten, verhängten Wales, Schottland und Nordirland erneut Einschränkungen.

Recht auf Gesundheit

Im Dezember 2021 verzeichnete das Vereinigte Königreich die zweithöchste Covid-19-Todesrate in Europa. Aufgrund der Pandemie sank die Lebenserwartung von Männern erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen. Am Jahresende waren 82,4 Prozent der Bevölkerung über zwölf Jahren vollständig gegen das Coronavirus geimpft. Das Land hatte Ende des Jahres zahlreiche Impfdosen übrig und verteilte sie nicht in ausreichendem Maße an Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, denen es an Impfstoff mangelte.

Im Mai 2021 kündigte Premierminister Boris Johnson an, dass die unabhängige öffentliche Untersuchung zum Umgang der Regierung mit der Coronapandemie erst im zweiten Quartal 2022 beginnen werde. Familien, die durch Covid-19 Angehörige verloren hatten, sowie Gewerkschaften, Beschäftigte des Gesundheitswesens und andere Gruppen forderten einen umgehenden Beginn der Untersuchung.

Eine unabhängige Aufsichtsbehörde kritisierte im März 2021, dass während der Pandemie massenhaft Patientenverfügungen zur Anwendung kamen, in denen die Betroffenen auf Herz-Lungen-Wiederbelebung verzichteten. Ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen wurden nicht ausreichend unterstützt und beraten, bevor sie diese Patientenverfügungen unterzeichneten.

Recht auf soziale Sicherheit

Im Oktober 2021 stoppte die Regierung eine Aufstockung der Sozialleistungen in Höhe von 20 Britischen Pfund (etwa 23,50 Euro) pro Woche, die 6 Mio. einkommensschwache bzw. arbeitslose Menschen seit April 2020 aufgrund der Pandemie erhalten hatten. Schätzungen gingen davon aus, dass die Kürzung in Verbindung mit steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen etwa 500.000 Menschen in die Armut treiben könnte.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen

Während immer mehr Menschen den Ärmelkanal in Booten überquerten, um in Großbritannien Asyl zu beantragen, veränderte die Regierung die Einwanderungsregelungen und legte einen Gesetzentwurf (Nationality and Borders Bill) vor, um Asylanträge zu erschweren. Er enthielt Bestimmungen, die Asylsuchende je nach Art ihrer Einreise und dem Zeitpunkt ihres Asylantrags bestrafen würden, und sah eine stärkere Kriminalisierung von Asylsuchenden vor. Das Gesetz würde zwar diskriminierende Bestimmungen korrigieren, die bisher zahlreichen in Großbritannien lebenden Menschen das Recht auf Staatsbürgerschaft vorenthielten, doch würde es gleichzeitig der Regierung erlauben, Personen die britische Staatsangehörigkeit ohne vorherige Ankündigung zu entziehen.

Das Innenministerium kündigte ab Juli 2021 mehr staatlich finanzierte Flüge zur Massenabschiebung von Menschen an. Von den Abschiebeflügen waren häufig Personen betroffen, die zuvor keinen Zugang zu angemessener Rechtsberatung hatten und deren Asylanträge nicht umfassend geprüft worden waren.

Die Regierung bot afghanischen Staatsangehörigen, die aufgrund der Menschenrechtskrise aus Afghanistan fliehen mussten, keinen ausreichenden Schutz. Die Regierung kündigte zwar im August 2021 an, man werde zusätzlich zu einem Programm zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die für die britische Regierung gearbeitet hatten, ein Neuansiedlungsprogramm für weitere afghanische Staatsangehörige (Afghan Citizens Resettlement Scheme) starten. Ende Oktober räumten die Behörden jedoch ein, dass dieses Programm immer noch nicht begonnen hatte – trotz der Dringlichkeit aufgrund der Lage vor Ort. Offiziellen Angaben zufolge lagen bis September 1.055 Asylanträge von Afghan_innen vor, von denen jedoch nur 484 bewilligt wurden.

Asylsuchende wurden weiterhin unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten, so z. B. in ehemaligen Militärkasernen, in denen es zu Covid-19-Ausbrüchen kam.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im Juni 2021 entschied die Staatsanwaltschaft, Personen, die ein Jahr zuvor in Belfast und Derry-Londonderry an "Black Lives Matter"-Protesten teilgenommen hatten, nicht strafrechtlich zu verfolgen. Die nordirische Polizei ergriff Maßnahmen, um in 72 Fällen Bußgelder zurückzuerstatten, die wegen Verstößen gegen die Coronamaßnahmen gegen Protestierende verhängt worden waren.

Der vorgelegte Entwurf für ein neues Polizeigesetz (Police, Crime, Sentencing and Courts Bill) würde das Recht auf friedliche Versammlung drastisch einschränken, indem z. B. die Polizei erweiterte Befugnisse erhielte, "laute" oder "störende" Proteste zu verbieten, zu begrenzen und über Gebühr einzuschränken. Das Gesetz würde sogenannte "Lock-ons" von Protestierenden (das Anketten an Gebäude oder Gegenstände) ebenso unter Strafe stellen wie das "Mitführen von Gegenständen für einen Lock-on". Vorgesehen waren außerdem strafrechtliche Sanktionen für Personen, die unwissentlich gegen polizeilich verhängte Auflagen für Demonstrationen verstoßen, und schärfere Sanktionen für Organisator_innen, die sich nicht an diese Auflagen halten. Mehr als 350 Organisationen verurteilten den Gesetzentwurf, und Tausende Menschen gingen aus Protest auf die Straße.

Im März 2021 setzte die Polizei unnötige und unverhältnismäßige Gewalt ein, um eine mehrheitlich von Frauen besuchte Mahnwache in London aufzulösen. Die Veranstaltung war zum Gedenken an Sarah Everard organisiert worden, die von einem Polizisten vergewaltigt und getötet worden war. Laut Angaben der Polizei verstieß die Versammlung gegen die Coronaregeln.

Diskriminierung

Im Januar 2021 ernannte die Regierung William Shawcross zum Leiter der Überprüfung ihres Programms zur Bekämpfung von Radikalisierung (Prevent). Im Februar erklärte ein Bündnis von 17 Organisationen, man werde die Überprüfung boykottieren, da Shawcross in der Vergangenheit islamfeindliche Ansichten geäußert habe.

Der Ausschuss zu Rassismus und ethnischen Ungleichheiten (Commission on Race and Ethnic Disparities), den die Regierung im Vorjahr im Zuge der "Black Lives Matter"-Demonstrationen ins Leben gerufen hatte, veröffentlichte im März 2021 einen Bericht. Darin wurde der Schluss gezogen, dass es in Großbritannien keinen institutionellen Rassismus gebe und dass der Begriff Rassismus "wiederholt und falsch" verwendet werde, "um jegliche wahrgenommene Ungleichheit zu erklären". Die UN-Arbeitsgruppe von Sachverständigen für Menschen afrikanischer Abstammung teilte mit, der Bericht verdrehe Daten und stelle falsche Interpretationen von Statistiken und Studien als schlüssige Erkenntnisse dar, um rassistische Plattitüden und Stereotypen wie Fakten aussehen zu lassen.

Der Entwurf für ein neues Polizeigesetz sah eine Erweiterung polizeilicher Befugnisse bei Personenkontrollen zur "Reduzierung schwerer Gewalt" (Serious Violence Reduction Orders) vor sowie die Kriminalisierung von Personen, die sich "ohne Erlaubnis in einem Fahrzeug auf einem Grundstück aufhalten". Eine solche gesetzliche Verpflichtung zur Reduzierung schwerer Gewalt würde für Polizei und Ministerien weitere Anreize schaffen, um bei öffentlichen Stellen Informationen über Einzelpersonen einzuholen, was den Datenschutz aushöhlen könnte. Die Regierung räumte ein, dass sich diese Bestimmungen voraussichtlich unverhältnismäßig stark auf Schwarze Männer sowie Sinti_zze, Rom_nja und Traveller-Gemeinschaften auswirken würden.

Im Juni 2021 befand ein Gericht einen Polizisten wegen Totschlags für schuldig, weil er im Jahr 2016 Dalian Atkinson, einen Schwarzen Mann, 33 Sekunden lang mit einer Elektroschockwaffe (Taser) beschossen und ihn zweimal gegen den Kopf getreten hatte. Im August veröffentlichte die unabhängige Polizeiaufsichtsbehörde (Independent Office for Police Conduct) Statistiken, aus denen hervorging, dass Schwarze Menschen unverhältnismäßig häufig mit Tasern angegriffen und im Durchschnitt auch länger damit beschossen werden.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Im November 2021 stimmte die Regierung Nordirlands zu, zusätzlich zu anderen mit Betroffenen erarbeiteten Maßnahmen eine unabhängige öffentliche Untersuchung der Mutter-Kind-Heime, der katholischen Heime für ledige Mütter (Magdalene Laundries) und der entsprechenden Arbeitshäuser einzuleiten, die von 1922 bis 1990 bestanden. Damals schickte man viele Frauen und Mädchen, die ledig schwanger wurden, in diese Einrichtungen. Sie waren dort willkürlich inhaftiert, wurden misshandelt, mussten Zwangsarbeit leisten und wurden gezwungen, ihre Kinder zur Adoption freizugeben.

Im Juli 2021 stellte die Regierung des Vereinigten Königreichs einen Plan zur Bewältigung des Konflikterbes in Nordirland vor. Er enthielt eine Verjährungsfrist für alle im Zuge des Konflikts begangenen Handlungen und sah vor, alle straf- und zivilrechtlichen sowie rechtsmedizinischen Verfahren, die sich auf den Konfliktzeitraum bezogen, einzustellen. Dies kam faktisch einer Amnestie für während des Konflikts begangene Menschenrechtsverletzungen gleich.

Ebenfalls im Juli legte die Regierung eine Gesetzesvorlage über das Gerichtssystem (Judicial Review and Courts Bill) vor. Sie enthielt Bestimmungen, die es Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen erschweren würden, wirksame Rechtsbehelfe einzulegen. Zudem würde dadurch die nötige gerichtliche Aufsicht über bestimmte gerichtliche Entscheidungen aufgehoben, was sich insbesondere auf Asylsuchende und Migrant_innen auswirken würde.

Im Oktober 2021 endete eine von der Regierung in Auftrag gegebene Überprüfung der britischen Menschenrechtsgesetzgebung von 1998 (Human Rights Act). Im Anschluss daran schlug die Regierung weitreichende Änderungen der Gesetzgebung vor, die den Menschenrechtsschutz im Vereinigten Königreich erheblich aufweichen würden. Sie sollten u. a. stärkere Abweichungen von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möglich machen und Klagen wegen Menschenrechtsverletzungen erschweren.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Die Behörden in Nordirland hatten 2021 trotz entsprechender gesetzlicher Regelungen noch immer keine umfassend handlungsfähigen und finanziell angemessen ausgestatteten Spezialdienste für Schwangerschaftsabbrüche eingerichtet. Die Gesundheitsversorgung war deshalb eingeschränkt und es hing vom Wohnort ab, ob Frauen Zugang zu einem frühzeitigen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch hatten oder nicht. Aufgrund fehlender Kapazitäten konnte einer der fünf Health Trusts, die in Nordirland für die Bereitstellung der Gesundheitsversorgung verantwortlich sind, keine Schwangerschaftsabbrüche mehr anbieten. Im Juli 2021 wies der Minister für Nordirland das nordirische Gesundheitsministerium an, bis spätestens 31. März 2022 den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen.

Straflosigkeit

Im April 2021 trat ein Gesetz zu Militäreinsätzen (Overseas Operations [Service Personnel and Veterans] Act) in Kraft, das Einschränkungen für gerichtliche Schritte gegen die Handlungen britischer Armeeangehöriger im Ausland vorsah. So wurde z. B. eine zeitliche Beschränkung für Zivilklagen gegen das Verteidigungsministerium eingeführt, und Straftaten, die länger als fünf Jahre zurücklagen, sollten mit Ausnahme bestimmter schwerer Straftaten nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.

Im Februar 2021 reichte der in Guantánamo Bay inhaftierte Mustafa Al-Hawsawi beim britischen Geheimdienstgericht (Investigatory Powers Tribunal) eine Klage ein, in der er der britischen Regierung Mittäterschaft an Folter und Misshandlungen vorwarf, die er zwischen 2003 und 2006 in geheimen CIA-Gefängnissen erlitten hatte. Im April reichte der ebenfalls in Guantánamo Bay inhaftierte Abu Zubaydah bei der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen Beschwerde gegen die USA, das Vereinigte Königreich und fünf weitere Länder ein.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die US-Regierung legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung eines britischen Gerichts ein, das im Januar 2021 eine Auslieferung von Julian Assange an die USA untersagte hatte. Im August erweiterte die US-Regierung erfolgreich den Anwendungsbereich des Rechtsmittels. Im Dezember gab der Londoner High Court dem Rechtsmittel statt und ordnete die Auslieferung des Wikileaks-Gründers an. Dabei akzeptierte das Gericht diplomatische Zusicherungen der USA, Assange nicht in Einzelhaft zu nehmen. Julian Assange legte Ende Dezember vor dem Obersten Gerichtshof Großbritanniens Rechtsmittel gegen das Urteil ein. Er würde bei einer Auslieferung an die USA wegen der Veröffentlichung von Dokumenten im Rahmen seiner Arbeit für Wikileaks vor Gericht gestellt werden.

Im Mai 2021 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das massenhafte Abfangen privater Kommunikation in Großbritannien gegen die Rechte auf Privatsphäre und Meinungsfreiheit verstoße, weil es an Schutzvorkehrungen mangele, um Missbrauch durch die Regierung zu verhindern.

Im September 2021 fällte das Geheimdienstgericht ein Urteil zugunsten der Aktivistin Kate Wilson, die aufgrund von Täuschung eine langfristige sexuelle Beziehung mit einem Undercover-Polizisten eingegangen war, der friedliche politische Aktivitäten von ihr und anderen Aktivist_innen ausspioniert hatte. Zu den Menschenrechtsverletzungen, die Kate Wilson erlitten hatte, zählten unmenschliche und erniedrigende Behandlung, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sowie Verstöße gegen ihr Recht auf Privat- und Familienleben und gegen ihre Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Im April und Mai 2021 hielt ein öffentlicher Untersuchungsausschuss zur polizeilichen Infiltration von Gruppen, die sich für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz einsetzen, weitere Anhörungen ab, bei denen auch andere Frauen aussagten, die ebenfalls unter Täuschung sexuelle Beziehungen eingegangen waren.

Haftbedingungen

Im August 2021 veröffentlichte der britische Nationale Mechanismus zur Verhütung von Folter einen Bericht über anhaltende Missstände in schottischen Hafteinrichtungen, darunter Überbelegung und die Inhaftierung in Polizeigewahrsam über das gesetzlich erlaubte Höchstmaß von 24 Stunden hinaus.

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