Amnesty Report Frankreich 07. April 2021

Frankreich 2020

Das Bild zeigt eine Menschenmenge, in der Protestierende ihre Fäuste in die Luft halten.

Die Maßnahmen der Regierung gegen die Corona-Pandemie lösten menschenrechtliche Bedenken aus, u. a. was die exzessive Gewaltanwendung durch die Polizei, das Recht auf Versammlungsfreiheit und die Rechte von Migrant_innen und Asylsuchenden betraf. Menschenrechtsverteidiger_innen waren auch 2020 mit Schikanen und Verfolgung konfrontiert. Nach dem Mord an Samuel Paty ergriff die Regierung Antiterrormaßnahmen, die Menschenrechte verletzten.

Tausende Menschen wurden auch weiterhin wegen des vage formulierten Tatbestands der Herabwürdigung von Amtsträger_innen strafrechtlich verfolgt. Es gab Berichte über rassistische Äußerungen von Sicherheitskräften. Das Land lieferte weiterhin Waffen an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Es gab immer noch kein System, um die Einhaltung eines Gesetzes zur Unternehmensverantwortung zu überwachen. Die Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung des Klimawandels waren unzureichend.

Hintergrund

Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verhängten die Behörden am 17. März 2020 Maßnahmen, die die Menschenrechte drastisch einschränkten, u. a. die Rechte auf Freizügigkeit und auf Versammlungsfreiheit. Einige der Maßnahmen wurden am 11. Mai wieder gelockert. Angesichts einer starken Zunahme von Corona-Infektionen verhängten die Behörden am 29. Oktober jedoch erneut Lockdown-Maßnahmen. Am 15. Dezember ordneten sie eine landesweite Ausgangssperre zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens an.

Exzessive Gewaltanwendung

Während des gesamten Jahres gingen Berichte über exzessive Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte ein. Im Januar 2020 starb Cédric Chouviat nach einer Verkehrskontrolle, bei der Polizeikräfte ihn in den Würgegriff genommen hatten. Nach seinem Tod kündigte der Innenminister an, Würgegriffe zu verbieten, machte diese Entscheidung jedoch ein paar Tage später wieder rückgängig.

Bei der Durchsetzung der Corona-Maßnahmen wurde erneut deutlich, dass die Polizei regelmäßig rechtswidrige Gewalt anwandte, insbesondere in benachteiligten städtischen Gebieten, in denen viele Angehörige ethnischer Minderheiten lebten. Nach Untersuchungen von Amnesty gab es im März und April 2020 mindestens 15 derartige Vorkommnisse in 15 Städten. In einigen Fällen machten Polizeikräfte auch rassistische und homofeindliche Bemerkungen.

Im September 2020 veröffentlichte das Innenministerium eine neue Strategie zu Polizeieinsätzen bei öffentlichen Versammlungen. Doch anstatt Dialog- und Deeskalationsmaßnahmen Vorrang einzuräumen, setzte die Strategie weiterhin auf die Anwendung von Gewalt, einschließlich des Einsatzes gefährlicher Waffen und Techniken.

Nach wie vor gab es keinen unabhängigen Mechanismus, um Fälle rechtswidriger Gewaltanwendung zu untersuchen. Nur sehr wenige Sicherheitskräfte wurden wegen Vorwürfen rechtswidriger Gewaltanwendung bei Demonstrationen in den Jahren 2018 und 2019 strafrechtlich verfolgt. In einem dieser Fälle wurde im Juni 2020 ein Polizeibeamter zu einer Geldstrafe verurteilt. Er hatte im Jahr 2018 einer Demonstrantin ein Gummigeschoss ins Gesicht geschossen.

Im November 2020 verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz, das es verbietet, Bilder von Sicherheitskräften zu verbreiten, die deren "physischer und psychischer Integrität" schaden könnten. Damit würde es schwieriger, die Verantwortlichen für exzessive Gewaltanwendung zur Rechenschaft zu ziehen. Das Gesetz war Ende des Jahres noch im Senat anhängig. 

Menschenrechtsverteidiger_innen

Im Juni 2020 beschlossen die Behörden, strafrechtlich gegen drei Polizisten vorzugehen, von denen einer den britischen Menschenrechtsverteidiger Tom Ciotkowski angriffen hatte, als dieser 2018 in Calais Übergriffe der Polizei gegen Flüchtlinge dokumentierte. Gerichte sprachen schließlich auch die drei Menschenrechtsverteidiger_innen Pierre Alain Mannoni, Cédric Herrou und Martine Landry frei, die angeklagt worden waren, weil sie Asylsuchenden geholfen und ihnen Unterkunft geboten hatten.

Die Regierung bekräftigte – insbesondere im Vorfeld der Wahl Frankreichs in den UN-Menschenrechtsrat – ihre Absicht, den Schutz von Menschenrechtsverteidiger_innen weltweit zu einem zentralen Anliegen ihrer Außenpolitik zu machen. Im Laufe des Jahres wurden jedoch keine konkreten Maßnahmen ergriffen. In Frankreich selbst waren während des Lockdowns Menschenrechtsverteidiger_innen, die Flüchtlingen und Migrant_innen in Calais und Grande-Synthe humanitäre Hilfe leisteten, weiterhin Schikanen und Einschüchterungen ausgesetzt.

Im September 2020 verfügte der Präfekt von Pas-de-Calais auf Veranlassung des Innenministers, dass die Verteilung von Lebensmitteln und Getränken an Migrant_innen und Asylsuchende in weiten Teilen von Calais verboten sei. 

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Im Juni 2020 legte die Regierung einen Gesetzentwurf vor, um die im Gesetz zur inneren Sicherheit und Terrorbekämpfung vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen zu verlängern, die Ende des Jahres auslaufen sollten. Im Dezember billigte das Parlament eine Verlängerung der Maßnahmen bis zum 31. Juli 2021.

Im Oktober 2020 wurde Kamel Daoudi, der seit 2008 Überwachungsmaßnahmen unterlag, zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er gegen eine Ausgangssperre verstoßen hatte. 
Nach der Ermordung des Lehrers Samuel Paty, der seinen Schüler_innen Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte, ergriff die Regierung im Oktober und November Antiterrormaßnahmen, die menschenrechtliche Bedenken aufkommen ließen. So löste die Regierung mehrere Organisationen auf und verwies mindestens 66 ausländische Staatsangehörige des Landes, ohne gründlich zu prüfen, ob ihnen in ihren Herkunftsländern Folter drohte. 
 

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im Juni 2020 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Verurteilung von elf Aktivist_innen, die sich an einer Kampagne beteiligt hatten, die zum Boykott israelischer Produkte aufrief (Boycott, Divestment, Sanctions – BDS), gegen deren Recht auf freie Meinungsäußerung verstieß. Seit 2010 hatten die Behörden die Staatsanwaltschaften gezielt angewiesen, Antidiskriminierungsgesetze anzuwenden, um friedliche BDS-Aktivist_innen zum Schweigen zu bringen.

Tausende Menschen wurden weiterhin wegen des vage definierten Tatbestands der Herabwürdigung von Amtsträger_innen strafrechtlich verfolgt und verurteilt. Nach dem Mord an Samuel Paty leiteten die Behörden im Oktober Dutzende von Ermittlungen wegen des ähnlich vagen Straftatbestands "Verherrlichung von Terrorismus" ein. 
 

Recht auf Versammlungsfreiheit

Am 11. Mai 2020 verhängte die Regierung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ein generelles Demonstrationsverbot. Am 13. Juni hob der Staatsrat das Verbot auf. Dennoch wurden vom 11. Mai bis Ende August Hunderte Demonstrierende wegen Teilnahme an öffentlichen Versammlungen mit Geldstrafen belegt.

Demonstrierende wurden auch weiterhin festgenommen und aufgrund vage formulierter Straftatbestände verfolgt, wie Herabwürdigung von Amtsträger_innen, Verstoß gegen die Meldepflicht und Beteiligung an einer Gruppe mit der Absicht, Gewalt anzuwenden. 

Rechte von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migrant_innen

Für Menschen auf der Flucht wurde es durch die Corona-Pandemie noch schwieriger, ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte auszuüben, insbesondere für diejenigen, die in informellen Siedlungen in Paris und Nordfrankreich lebten. Während des Lockdowns setzte die Regierung die Bearbeitung aller Asylanträge aus.

In Paris und Nordfrankreich wurden Migrant_innen und Geflüchtete, die in informellen Siedlungen lebten, nach wie vor – auch während des Lockdowns – regelmäßig Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen, ohne alternative Unterkünfte oder medizinische Versorgung zu erhalten. In Calais waren Migrant_innen und Geflüchtete regelmäßig Schikanen und exzessiver Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte ausgesetzt.

Die Grenzpolizei schickte Migrant_innen und Asylsuchende an der Grenze zu Italien weiterhin zurück. Außerdem wurden Migrant_innen nach wie vor in Verwaltungshaft genommen, ohne dass auf den Schutz ihrer Gesundheit angesichts der Pandemie geachtet wurde. Unbegleitete Minderjährige hatten weiterhin Schwierigkeiten, Sozialleistungen zu erhalten, und wurden nach Italien zurückgeschoben.

Im Juli 2020 entschied der Staatsrat, dass die Rückführung einer Frau und ihres Kindes nach Italien, ohne ihren Asylantrag zu registrieren und zu prüfen, gegen ihr Recht auf Asyl verstieß.

Frankreich und Großbritannien versäumten es, Mechanismen einzurichten, um ihrer gemeinsamen Verantwortung gerecht zu werden, einen sicheren Ort für Tausende Menschen zu schaffen, die versuchten, den Ärmelkanal in kleinen Booten zu überqueren.

Diskriminierung

Sexuelle und reproduktive Rechte

Ende 2020 debattierte der Senat immer noch über den Gesetzentwurf zur Bioethik, den die Regierung 2019 ins Parlament eingebracht hatte. Er sieht vor, allen Frauen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder ihrem Familienstand Zugang zur In-vitro-Fertilisationsbehandlung zu gewähren.

Hassverbrechen

Nach Angaben von NGOs wurden Rom_nja, die in zwei informellen Siedlungen bei Paris lebten, im Mai 2020 mindestens fünf Mal Opfer von Brandanschlägen. Eine informelle Siedlung wurde vier Mal mit Molotowcocktails beworfen, was dazu führte, dass die meisten der provisorischen Unterkünfte vollständig niederbrannten. 

Rassismus

Medien berichteten im Jahr 2020 über rassistische Kommentare und Verhaltensweisen von Sicherheitskräften in den sozialen Medien. Der Innenminister verurteilte ein derartiges Verhalten und forderte eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Rassismus in der Polizei.

Waffenhandel

Frankreich setzte die Waffenlieferungen an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate fort, obwohl ein hohes Risiko bestand, dass diese Waffen eingesetzt werden würden, um im Jemen-Konflikt Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Die Regierung legte keine detaillierten, umfassenden und aktuellen Informationen über die vom Premierminister genehmigten Rüstungstransfers vor. Am 8. August 2020 gingen libanesische Sicherheitskräfte mit von Frankreich erworbenen Waffen gegen Proteste vor und verletzten mehr als 230 Personen (siehe Länderbericht Libanon).
 

Unternehmensverantwortung

Viele Firmen hielten sich weiterhin nicht an das Gesetz von 2017, das eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht für Unternehmen vorsieht. Nur 72 von fast 200 Unternehmen legten Pläne darüber vor, wie sie die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Wertschöpfungsketten zu gewährleisten gedachten. Die Behörden ergriffen noch immer keine Maßnahmen, um die im Gesetz vorgesehene Kontrolle vorzunehmen.

Klimakrise

Die Regierung kam ihrer Verpflichtung nicht nach, den Klimanotstand angemessen zu bekämpfen. Das in der nationalen Strategie zur Senkung der Treibhausgasemissionen vorgesehene Ziel wurde im April 2020 abgeschwächt. Im Juli befand der Hohe Klimarat, eine unabhängige Behörde, dass die Maßnahmen der Regierung zur Bewältigung des Klimanotstands unzureichend seien. Darüber hinaus gewährte die Regierung im Rahmen eines Corona-Konjunkturprogramms den umweltschädlichsten Wirtschaftszweigen Finanzhilfen. 
 

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