Aktuell Katar 21. November 2022

Fußball-WM in Katar: Die Qual der Zahl

Das Bild zeigt links im Bild zwei Menschen in blauer Arbeitskleidung, im Hintergrund Gebäude und Hochhäuser

Warum wir über die WM-Toten nicht viel wissen und das der eigentliche Skandal ist.

Von Ellen Wesemüller, Pressesprecherin bei Amnesty International in Deutschland

Die WM in Katar wurde noch nicht angepfiffen, da ging bereits das Balancieren mit großen Zahlen los. Leider ging es nicht um Trefferquoten und Tordifferenzen, sondern um Tote. Wie viele Menschen sind für die WM gestorben? Das scheint die Gretchenfrage sowohl der Kritiker*innen als auch der Befürworter*innen der WM geworden zu sein. Je höher die Zahl ausfällt, desto gerechtfertigter scheint der Protest, je niedriger, desto legitimer die große WM-Party. Das ist zynisch, denn jedes Menschenleben, das in einem reichen, entwickelten Staat wie Katar sein Ende findet, obwohl der Mensch, der es gelebt hat, jung und gesund war, ist eins zu viel.

Um die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen an Arbeitsmigrant*innen in Katar wieder in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken, hier der Versuch, etwas Licht ins Dunkel zu bringen.

Sind es nun 15.021, 6.500, 40 oder gar nur drei WM-Tote? Die Zahlen unterscheiden sich auf den ersten Blick stark, doch wenn man genau hinschaut, widersprechen sie sich nicht – sie sind nur Teil eines Puzzles, das, wenn man es zusammenfügt, nicht an Schrecken verliert.

15.021 – das sind ausländische Staatsbürger*innen, die in Katar zwischen 2010 und 2019, also innerhalb von zehn Jahren nach WM-Vergabe, gestorben sind. Diese Zahl ist von der katarischen Regierung, und sie sagt erstmal nichts aus darüber, ob die Menschen bei der Arbeit gestorben sind, und wenn ja, ob diese Arbeit im Zusammenhang mit der WM stand.

6.500 Tote – diese Zahl älteren Datums stammt vom Guardian, der bei einigen – nicht allen – Entsendeländern nachfragte, wie viele eigene Staatsbürger*innen in Katar sie betrauerten. Wieder sind Nicht-Kataris seit 2010 gemeint, wieder bezieht sich die Zahl weder auf die WM noch auf die Arbeitsbedingungen.

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Die jüngste Zahl 40 stammt von der FIFA, sie bezieht sich auf die an WM-Projekten gestorbenen Migrant*innen – und damit meint die FIFA nur die WM-Stadien, Trainingsstätten und akkreditierten Hotels. Davon seien aber nur drei in Zusammenhang mit der Arbeit gestorben, behauptet der Weltfußballverband.

Während man sich nun fragt, ob es drei, 40, 6.500 oder 15.021 Tote waren, bleibt der wahre Skandal außer Acht. Denn warum wissen wir diese Zahl nicht? Weil es sie nicht gibt. Und warum gibt es sie nicht? Weil es Katar, einem sehr reichen Land mit gutem Gesundheitswesen anscheinend egal ist, diese Todesfälle gründlich zu untersuchen, und die Verantwortlichen stattdessen als Todesursache oft pauschal "Herzversagen" angeben. Das erklärt aber gar nichts, denn letztendlich stirbt jeder Mensch an Herzversagen.

Woher aber wollen dann Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty wissen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt? Nun: Nicht nur wir sagen das. Auch Kardiolog*innen haben exemplarisch Tote untersucht und festgestellt, dass Hunderte den Hitzetod gestorben sein müssen. Auch wir haben den Tod von sechs jungen, gesunden Männern exemplarisch untersucht und kamen zu dem Ergebnis, dass in diesen Fällen Arbeit in großer Hitze vermutlich der Grund ihres Todes war. Es handelte sich um junge, gesunde Männer, sie mussten vor Einreise einen Gesundheitstest durchlaufen, wir haben mit ihren Familien und Kollegen gesprochen. Auf ihren Totenscheinen steht "Todesursache unbekannt", obwohl sie in den Tagen zuvor mehr als zwölf Stunden bei bis zu 40 Grad arbeiten mussten. Die gleiche Ungenauigkeit gilt für die Zahlen der FIFA: Laut unserer Recherchen waren in 18 Fällen auch hier die Todesursachen so unklar beschrieben, dass sich schlicht nicht sagen ließ, ob die Menschen bei der Arbeit gestorben sind.

Obwohl es klare, wissenschaftliche Belege gibt, dass Hitzestress bei hunderten von Arbeitsmigrant*innen die Todesursache war, werden die Toten so nicht als Arbeitsunfälle gezählt – zum Beispiel, weil sie morgens tot im Bett liegen und ihnen nicht während der Arbeitszeit ein Ziegel auf den Kopf gefallen ist. Das Ergebnis: Den Familien wird das Recht genommen, zu erfahren, wie ihre Geliebten gestorben sind und Entschädigung einzufordern.

Selbst wenn man die katarischen Zahlen nimmt, muss man feststellen, dass überproportional mehr Männer zwischen 20 und 49 Jahren an "unbekannten" Ursachen oder "Herzkreislauferkrankungen" sterben als Kataris: 43 Prozent gegenüber 28 Prozent. Das kann nun entweder heißen, dass die Kategorien zu ungenau sind. Oder dass die Lebensbedingungen von Arbeitsmigrant*innen zu mehr Toten führen. Beides ist nicht gut.

Und nebenbei: Den Migrant*innen und deren Angehörigen ist es egal, ob sie wegen der WM sterben oder wegen schlechter Arbeitsbedingungen anderswo in Katar. Nicht nur deshalb sollte unsere Aufmerksamkeit nicht weiterziehen, wenn es die WM-Karawane tut.  

 

Dieser Artikel wurde zuerst am 20. November 2022 auf tagesspiegel.de veröffentlicht. Für die Veröffentlichung auf amnesty.de wurde der Beitrag am 23. November 2022 um 10:40 Uhr korrigiert.  

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