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Jede*r hat ein Geschlecht: das eigene
© Amnesty International, Foto: Chris Grodotzki
Von medizinisch nicht notwendigen, schädlichen Eingriffen bis hin zu alltäglichen Ausgrenzungen – intergeschlechtliche Menschen erfahren in Deutschland Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung. Sechs Personen teilen hier ihre individuellen Erfahrungen und ihre Wünsche nach politischen wie gesellschaftlichen Veränderungen. Ihre Perspektiven brauchen Gehör, um mehr Wissen und Akzeptanz zu schaffen. Bis allen klar wird: Jede*r hat ein Geschlecht: das eigene.
Lucie
© Amnesty International, Foto: Chris Grodotzki
Jeder Mensch kommt mit einer Geschlechtlichkeit auf die Welt: der eigenen.
Ich bin weder Frau noch Mann, sondern ein intergeschlechtlicher Mensch. Des halb möchte ich auch nicht als weiblicher oder männlicher Mensch angesprochen werden – darauf bestehe ich –, insbesondere in politischen Auseinandersetzungen.
Ich bin weder Frau noch Mann, sondern ein intergeschlechtlicher Mensch. Des halb möchte ich auch nicht als weiblicher oder männlicher Mensch angesprochen werden – darauf bestehe ich –, insbesondere in politischen Auseinandersetzungen. Und wenn ich dann zum dritten Mal sage: „Bitte nicht Frau Veith, bitte sprechen Sie mich mit Lucie Veith an!“, und die Person ignoriert es und will mich damit demütigen, dann werde ich widerständig: Eine Staatssekretärin habe ich als Reaktion mal als „Fräulein“ angesprochen. Ansonsten versuche ich es freundlich anzugehen: Nur die Liebe zählt.
Charlie
© Amnesty International, Foto: Chris Grodotzki
Wenn nicht darüber geredet wird, wenn es de facto totgeschwiegen wird, dann wird es für die Betroffenen unglaublich schwierig, sich selbst und den eigenen Körper zu akzeptieren – also zu sagen, mein Körper ist gut, wie er ist.
Du siehst aus wie eine Frau, also bist du eine Frau", sagen Leute manchmal, als ob sie mich als inter* Person wegleugnen könnten. Dann versuche ich klarzumachen, dass ich zwar so aussehe, mein Körper aber trotzdem besonders ist. Ich habe einen XY-Chromosomensatz und im Alter von einem Jahr wurden mir meine im Bauchraum liegenden Hoden entfernt.
Du siehst aus wie eine Frau, also bist du eine Frau“, sagen Leute manchmal, als ob sie mich als inter* Person wegleugnen könnten. Dann versuche ich klarzumachen, dass ich zwar so aussehe, mein Körper aber trotzdem besonders ist. Ich habe einen XY-Chromosomensatz und im Alter von einem Jahr wurden mir meine im Bauchraum liegenden Hoden entfernt. Die Operation war medizinisch nicht notwendig, die Folgen beschäftigen mich mein ganzes Leben. Mein Körper kann keine Geschlechtshormone mehr produzieren, deshalb substituiere ich seit dem zwölften Lebensjahr mit Östrogenen. Dafür versuche ich ein Bewusstsein zu schaffen – dort, wo es möglich ist.
Intergeschlechtlich – nicht männlich, nicht weiblich
© Alex jürgen
Intergeschlechtliche Menschen werden mit einer Variation der Geschlechtsmerkmale geboren. Ihre Körper lassen sich nicht den vorherrschenden Definitionen von männlich und weiblich zuordnen. So variieren etwa die Chromosomen, der Hormonhaushalt oder das Aussehen der Genitalien.
© Alex jürgen
Schätzungen zufolge kommen weltweit 1,7 Prozent der Menschen mit Geschlechtsmerkmalen zur Welt, die weder den konventionellen Vorstellungen eines Jungenkörpers noch denen eines Mädchenkörpers entsprechen.
© Alex jürgen
Abgesehen von wenigen Ausnahmen sind intergeschlechtliche Menschen gesund. Doch bisher durften nur wenige so aufwachsen, wie sie sind: Seit Mai 2021 gibt es in Deutschland eine gesetzliche Regelung, welche die Möglichkeit für Eltern einschränkt, Operationen durchführen zu lassen – wenn keine akute gesundheitliche Notwendigkeit vorliegt.
Anjo
© Amnesty International, Foto: Chris Grodotzki
Dass ich Hermaphrodit bin, fanden meine Eltern gleich total in Ordnung.
Wer meine alltäglichen Erfahrungen als Hermaphrodit nachempfinden will, kann einfach mal drei Monate konsequent auf das jeweilige öffentliche Klo gehen, das er*sie sonst nicht benutzt, und schauen, was passiert. Ich mag zum Beispiel nicht aufs Herrenklo gehen – das ist echt nicht meins. Das Damenklo zwar auch nicht, aber ich bin es zumindest gewohnt, von klein auf.
Wer meine alltäglichen Erfahrungen als Hermaphrodit nachempfinden will, kann einfach mal drei Monate konsequent auf das jeweilige öffentliche Klo gehen, das er*sie sonst nicht benutzt, und schauen, was passiert. Ich mag zum Beispiel nicht aufs Herrenklo gehen – das ist echt nicht meins. Das Damenklo zwar auch nicht, aber ich bin es zumindest gewohnt, von klein auf. An Bahnhöfen oder Raststätten ist das aber eine echte Quälerei à la „Das Männerklo ist nebenan!“ oder „Sind Sie hier falsch?“.
Steffi
© Amnesty International, Foto: Chris Grodotzki
Ich verorte mich eher als weiblich, manchmal auch als männlich – aber das kann auch von Minute zu Minute wechseln.
Mit neun Jahren habe ich gesagt, dass ich mich einsam fühle und mich mit anderen austauschen will. Da sagten die Ärzt*innen, dass es da niemanden gebe – was ich sei, wäre so selten, dass ich gar nicht erst danach zu suchen bräuchte.
Mit neun Jahren habe ich gesagt, dass ich mich einsam fühle und mich mit anderen austauschen will. Da sagten die Ärzt*innen, dass es da niemanden gebe – was ich sei, wäre so selten, dass ich gar nicht erst danach zu suchen bräuchte. Jahre später erfuhr ich dann durch Zufall, dass zeitgleich mit mir auch eine männlich zugewiesene intersexuelle Person an der Uniklinik von meinem Arzt behandelt worden war. Denn er hatte ohne Zustimmung unzensierte Ganzkörpernacktaufnahmen von uns beiden in einem Fachbeitrag veröffentlicht.
Menschenrechtsverletzende medizinische Eingriffe
© Alex jürgen
Die bisher gängige medizinische Praxis versuchte, eine vermeintliche "Normalisierung" derjenigen Kinder zu bewirken, deren Geschlechtsmerkmale als "uneindeutig" galten. Für die Betroffenen begann damit eine Tortur: Hoden wurden entfernt, eine vergrößerte Klitoris chirurgisch reduziert. Teils wurden Vagina oder Penis modelliert.
© Alex jürgen
Meist erfolgten mehrere Operationen über einen Zeitraum von Jahren. Sie sind die Ursache von Schmerzen, Narben und Nervenschäden und können zum Verlust der Sensibilität der Geschlechtsorgane führen.
© Alex jürgen
Die Entfernung von Keimdrüsen führt zu Unfruchtbarkeit und macht eine lebenslange künstliche Hormongabe notwendig. Aber vor allem sind die geschlechtszuweisenden Eingriffe unumkehrbar und verursachen gravierende, lebenslange körperliche und psychische Leiden für die betroffenen Menschen.
© Alex jürgen
Das Gesetz ist ein Meilenstein für den Schutz intergeschlechtlicher Kinder. Ungewiss ist, ob es ausreicht, um die bisher gängige medizinische Praxis vollständig zu beenden. Aus Sicht von Amnesty International handelt es sich bei Eingriffen ohne Zustimmung um Menschenrechtsverletzungen.
Eves
© Amnesty International, Foto: Chris Grodotzki
Die Gesellschaft muss offener werden für die ganze Vielfalt, die das Menschsein bedeutet. Und Kinder müssen so aufwachsen können, wie sie sind.
Vor einigen Jahren habe ich erkannt, wer ich bin. Bis dahin habe ich in einer Rolle gelebt, die mir als Kind zugewiesen wurde. Ich musste als Mädchen leben, obwohl ich immer wusste, dass ich keines bin. Mit 42 war es nicht mehr möglich, so weiterzuleben: Ich brach zusammen – körperlich und auch psychisch. Es war ein langer Weg – zu erkennen, wer ich bin.
Vor einigen Jahren habe ich erkannt, wer ich bin. Bis dahin habe ich in einer Rolle gelebt, die mir als Kind zugewiesen wurde. Ich musste als Mädchen leben, obwohl ich immer wusste, dass ich keines bin. Mit 42 war es nicht mehr möglich, so weiterzuleben: Ich brach zusammen – körperlich und auch psychisch. Es war ein langer Weg – zu erkennen, wer ich bin. Und zu entscheiden, wie ich leben will, damit öffentlich zu werden und mich und andere damit zu konfrontieren: meine Familie und Freund*innen, die Nachbar*innen, Kindergärtner*innen, Ärzt*innen. Und ich rede auch gern mit den Jäger*innen, wenn ich sie im Dorfladen treffe. Das ist für mich Öffentlichkeitsarbeit.
D.
© Amnesty International, Foto: Chris Grodotzki
Ich hatte insgesamt neun Operationen. Wie ich es heute sehe, haben alle diese Eingriffe versucht, mich medizinisch in die männliche Rolle hineinzudrängen. Und das war unnötig.
In Alltagssituationen erlebe ich zwar Irritationen, bei denen nicht ganz klar ist, ob es an meiner Intergeschlechtlichkeit liegt. Für die meisten Menschen gibt es eben nur Männer oder Frauen und Intergeschlechtlichkeit ist in den Köpfen der Menschen nicht so selbstverständlich wie die beiden binären Geschlechter.
In Alltagssituationen erlebe ich zwar Irritationen, bei denen nicht ganz klar ist, ob es an meiner Intergeschlechtlichkeit liegt. Für die meisten Menschen gibt es eben nur Männer oder Frauen und Intergeschlechtlichkeit ist in den Köpfen der Menschen nicht so selbstverständlich wie die beiden binären Geschlechter.
Recht auf Gesundheit und Schutz vor Diskriminierung
© Alex jürgen
Intergeschlechtliche Menschen haben ein Recht auf Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit und Gesundheit. Die Eingriffe an gesunden intergeschlechtlichen Kindern müssen beendet werden.
© Alex jürgen
Die Behandlungen sollten aufgeschoben werden: Wenn die Betroffenen alt genug sind, können sie aussagekräftig an der Entscheidungsfindung mitwirken und informiert sowie selbstbestimmt mögliche Eingriffe bewilligen. Doch auch für sie gilt: Der Druck ist groß, sich der herrschenden Norm der Zweigeschlechtlichkeit anzupassen.
© Alex jürgen
Im alltäglichen Leben sind intergeschlechtliche Menschen immer wieder mit Verwunderung, Unwissen und Ignoranz konfrontiert: Sei es während des Checkins am Flughafen, beim Bezahlen an der Supermarktkasse oder beim Anmelden in der Arztpraxis.
© Alex jürgen
Immer dann, wenn Ausweise vermeintlich nicht zur Person passen, sind in tergeschlechtliche Personen schnell in der Rolle, sich öffentlich erklären zu müssen. Das gilt auch oft dort, wo es keine All-Gender-Toiletten gibt.