Deutschland 26. Oktober 2018

Lucie

Porträtfoto von Lucie

Ich bin weder Frau noch Mann, sondern ein intergeschlechtlicher Mensch. Des­halb möchte ich auch nicht als weiblicher oder männlicher Mensch angesprochen werden – darauf bestehe ich –, insbesondere in politischen Auseinandersetzungen.

Und wenn ich dann zum dritten Mal sage: "Bitte nicht Frau Veith, bitte sprechen Sie mich mit Lucie Veith an!", und die Person ignoriert es und will mich damit demüti­gen, dann werde ich widerständig: Eine Staatssekretärin habe ich als Reaktion mal als "Fräulein" angesprochen. Ansonsten versuche ich es freundlich anzugehen: Nur die Liebe zählt.

Ich möchte niemandem etwas nehmen, darum geht es nicht, sondern schlicht nicht vortäuschen, etwas zu sein, was ich nicht bin. Denn gibst du vor, einer Norm zu entsprechen, folgen daraus Zuschreibungen und es werden von dir bestimmte Dinge erwartet. Aber wenn du gar nicht in der Lage bist, sie zu erfüllen, dann stellst du dir selbst ein Bein. Das muss keine*r.

Jeder Mensch kommt mit einer Geschlechtlichkeit auf die Welt: der eigenen.

Und alle werden mit den gleichen Rechten geboren. Warum leben wir das nicht und set­zen es konsequent um? Als ich 22 war, wurden mir ohne medizinische Notwendigkeit die Hoden entfernt. Über die Konsequenzen bin ich vorab nicht aufgeklärt worden.

Dass ich fruchtbar gewesen bin, habe ich erst 20 Jahre später erfahren. Ich durfte nicht zeugend sein, weil ich einen intergeschlechtlichen Körper habe. Das ist eine schwere Diskriminierung wegen des Geschlechts. Es ist in mein Selbstbestimmungs recht eingegriffen worden und auch in meine Familie – ich war zu dem Zeitpunkt schon verheiratet.

In diese ganz persönliche Beziehung zu dem Menschen, den ich liebe und begehr­te, drängte sich auf einmal eine Norm. Mein Mann hat sehr schön reagiert: Er zog sich drei Tage zurück und sagte dann, dass keine Operation und keine Diagnose sich zwischen uns stellen könne, schließlich sei ich derselbe Mensch. Ihm bin ich heute noch dankbar dafür.

Porträtfoto von Lucie

Darüber, dass ich mit dem Verlust meiner Hoden auch die Lust an meinem eigenen Körper und auch meine Libido verliere, über die vielen hormonellen Auswirkungen, über all das informierte uns niemand. Es hat mein soziales Leben und meine Beziehung völlig verändert. Das Recht, derart in eine Beziehung einzugreifen, hat niemand. Das ging ja nur uns beide an. Und hätte mit uns verhandelt werden müssen, ist es aber nicht.

Erst viele Jahre später erkannte ich, dass das, was mir passiert war, eine struk­turelle Dimension hat, dass es ein struktureller, ein geplanter Übergriff ist, der sich gegen eine ganze Gruppe von Menschen richtet. Damit wurde mir klar, dass ich mich dagegen wehren muss und ich mich mit vielen Menschen solidarisieren kann.

Wir brauchen eine rechtliche Norm und eine Rechtsumsetzung, die alle Kinder vor un­ nötigen Operationen an den Genitalen schützt.

Früher hieß es immer, man müsse intergeschlechtliche Kinder operieren, damit sie nicht diskriminiert werden – das ist Blödsinn. In der Praxis sehen wir Kinder aufwachsen, die intergeschlechtlich geboren sind und die gut beschützt, gut aufgeklärt aufwachsen mit einem Umfeld, das informiert ist und den nötigen Schutz auch gewährleistet.

Ich bin mit meinem Mann zurück nach Friesland gezogen, wo ich aufgewachsen bin. Ich hatte Sehnsucht nach dem weiten Himmel und dem Geruch des Meeres. Hier lebe ich völlig offen in einem kleinen Dorf mit einer wunderbaren Nachbarschaft, die mich so akzeptiert, wie ich bin. Ich will nicht flüchten, ich bin des Flüchtens müde. Ich möchte das sein, was ich bin. Das Leben ist so schön und bunt, auch hier auf dem Land.

Protokoll: Andreas Koob

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