Deutschland 26. Oktober 2018

Anjo

Porträtfoto von Anjo an einer Skulptur

Wer meine alltäglichen Erfahrungen als Hermaphrodit nachempfinden will, kann einfach mal drei Monate konsequent auf das jeweilige öffentliche Klo gehen, das er*sie sonst nicht benutzt, und schauen, was passiert.

Ich mag zum Beispiel nicht aufs Her­renklo gehen – das ist echt nicht meins. Das Damenklo zwar auch nicht, aber ich bin es zumindest gewohnt, von klein auf. An Bahnhöfen oder Raststätten ist das aber eine echte Quälerei à la "Das Männerklo ist nebenan!" oder "Sind Sie hier falsch?". Wenn ich sage, dass ich richtig bin, blicken mir die Leute meist auf die Oberweite. Dann sind sie plötzlich zufrieden. Inzwischen habe ich einen sogenannten Euroschlüssel, um auf barrierefreie Toiletten auszuweichen, die ja geschlechtsneutral sind.

Ähnlich kompliziert ist es beim Einkaufen, wenn man im Internet nur die Anrede Frau oder Herr auswählen kann. Oder im Gottesdienst, wenn Frauen und Männer ei­nen Psalm im Wechsel beten sollen, dann gehe ich halt mal einen Moment raus.

Weitere Beispiele gäbe es zuhauf, also diese sture Zweigeschlechtlichkeit in den Köpfen der Leute prasselt jeden Tag auf mich herab. Ich wache damit morgens auf, ich gehe damit abends zu Bett. Das Problem wird erst dann gelöst sein, wenn die Leute denken: Ist es ein Mann oder eine Frau oder haben wir da jetzt gerade einen Diversen?

Wenn wir mal so weit wären, käme auch niemand auf die Idee, gesunde Kinder zu verändern: Es gäbe keine ungefragten Operationen und keine Hormonbehandlungen mehr. Wenn ein Mädchen geboren wird, wird ja auch nicht einfach ein Junge draus gemacht. Das gäbe zu Recht einen Aufschrei. Und mit uns Intermenschen kann man das eben auch nicht machen. Es wurde aber getan und ist auch noch nicht ganz vor­bei. Auch mir ist es ja passiert.

Ich war 17, und da wurde mir Östrogen verschrieben, weil meine Pubertät ausge­blieben war. Das habe ich brav mitgemacht, weil ich dachte, dann werde ich weiblich. Das hat nicht funktioniert, auch wenn es der Arzt so dargestellt hat. Mit Mitte 20 kam bei mir das Gefühl auf, dass etwas nicht stimmt.

Und mit 33 wurde es mir dann klar, dass da wirklich etwas unerledigt ist: Ich habe eine Selbsthilfegruppe gefunden und damit auch eine Identität. Statt Östrogen nahm ich Testosteron. Das entspricht auch meinem XY­-Chromosomensatz. Erst so begann meine eigentliche Pubertät.

Ich bin dann mit 45 erwachsen geworden. Vorher hatte ich 30 Jahre lang versucht, in dieser Erwachsenenwelt zu leben, und war eigentlich noch Kind oder Jugendliche*r.

Ich sitze jetzt nicht da und hadere, aber mir ist bewusst: Das hätte anders laufen können. Auch für viele andere Menschen.

Denn es gibt Personen, die nach einer In­tersex-­Diagnose und folgender Genitaloperation bei einer Erektion Schmerzen haben, weil dann eine Narbe spannt. Oder Menschen, denen bei solchen Genital-­OPs Nerven durchtrennt wurden, sodass sie Erregung verspüren, aber keine Befriedigung erleben können.

Porträtfoto von Anjo

Wenn das keine Menschenrechtsverletzungen sind, dann weiß ich auch nicht weiter. Ich bin Aktivist*in, um das anderen Menschen zu ersparen und die Gesell­schaft voranzubringen.

Wir finden inzwischen Gehör, aber mehr Unterstützung und Förderung wäre extrem hilfreich. Denn es gibt viel zu tun. Neben all dem medizinischen gibt es ja etwa auch den alltäglichen, elterlichen Dünkel im Sinne von "Ich will mein Mädchen behalten". Bei meinen Eltern war das ganz anders: Die waren zwar bei vielem etwas verkrampft und immer bedacht darauf, was andere denken, aber dass ich Hermaphrodit bin, fanden sie gleich total in Ordnung. Mein Vater ist inzwischen leider verstorben, aber meine Mutter nennt mich bei meinem neuen Vornamen und benutzt das Pronomen "es" – so wie ich es mir auch von allen anderen wünsche.

Protokoll: Andreas Koob

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