Pressemitteilung Aktuell Libyen 15. Juli 2021

Libyen: Schwere Menschenrechtsverletzungen in Haftzentren für Schutzsuchende

In einem großen Raum liegen und sitzen mehrere junge Männer auf dem Boden.

Männer, Frauen und Kinder, die bei der Überquerung des Mittelmeers aufgegriffen und unter Zwang in libysche Haftzentren zurückgebracht werden, sind dort schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Dazu gehören systematische Folter, sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit. Amnesty International legt in einem neuen Bericht Belege vor, die die furchtbaren Folgen der Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Libyen verdeutlichen.

Der neue Amnesty-Bericht "'No one will look for you': Forcibly returned from sea to abusive detention in Libya" dokumentiert, wie die jahrzehntelangen Menschenrechtsverletzungen gegen geflüchtete Menschen in libyschen Haftzentren auch in den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 unvermindert weitergingen, trotz der wiederholten Versprechen, gegen diese vorzugehen. 

Der Bericht von Amnesty International dokumentiert Muster von Menschenrechtsverletzungen, darunter schwere Schläge, sexualisierte Gewalt, Erpressung, Zwangsarbeit und unmenschliche Bedingungen in sieben Haftzentren des libyschen Amts für die Bekämpfung illegaler Migration (DCIM). Im Abu-Issa-Zentrum in der Stadt al-Zawiya berichteten Häftlinge, dass ihnen gehaltvolle Nahrung verweigert wurde, bis manche von ihnen verhungerten. In Al-Mabani und zwei weiteren DCIM-Zentren dokumentierte Amnesty International den rechtswidrigen Einsatz tödlicher Gewalt, als Wachleute und andere bewaffnete Männer auf Häftlinge schossen und es dabei zu Verletzten und Toten kam.

Die neuen Recherchen von Amnesty International zeigen, dass Geflüchtete dort willkürlich in Haft genommen und systematisch Folter, sexualisierter Gewalt, Zwangsarbeit und anderer Ausbeutung ausgesetzt werden.

Katja
Müller-Fahlbusch
MENA-Expertin bei Amnesty International in Deutschland

"Die anhaltende Komplizenschaft europäischer Staaten mit Libyen ermöglicht es der libyschen Küstenwache, weiterhin Schutzsuchende auf See gewaltsam aufzugreifen und von dort nach Libyen zurück zu bringen. Die neuen Recherchen von Amnesty International zeigen, dass Geflüchtete dort willkürlich in Haft genommen und systematisch Folter, sexualisierter Gewalt, Zwangsarbeit und anderer Ausbeutung ausgesetzt werden. Die libyschen Behörden müssen alle Haftzentren sofort schließen und die willkürliche Inhaftierung von Schutzsuchenden beenden", sagt Katja Müller-Fahlbusch, MENA-Expertin bei Amnesty International in Deutschland. 

Anhaltende Misshandlungen in libyschen Haftanstalten

Der Bericht beschreibt detailliert die Erfahrungen von 53 Schutzsuchenden, die zuvor in Zentren festgehalten wurden, die nominell unter der Kontrolle des DCIM stehen. 49 von ihnen wurden direkt nach ihrem Aufgreifen auf See inhaftiert.

Im Rahmen der Recherchen zum Bericht stellte sich auch heraus, dass Libyens Amt für die Bekämpfung illegaler Migration seit Ende 2020 diesen Missbrauch sogar noch legitimiert hat: Seitdem sind der Behörde zwei neue Haftzentren unterstellt, in denen in den vergangenen Jahren Hunderte von Menschen durch die Hand von Milizen dem Verschwindenlassen zum Opfer fielen. In einem der Zentren, die seit kurzem dem DCIM unterstellt sind, sagten Überlebende, dass die Wärter Frauen vergewaltigten und sie sexualisierter Gewalt aussetzten, unter anderem indem sie sie im Austausch für Essen oder ihre Freiheit zu Sex zwangen. 

Ein Beispiel für die fest verwurzelte Straflosigkeit sind die informellen Gefangenenlager, die ursprünglich von Milizen betrieben wurden und nun legitimiert und in das DCIM integriert worden sind. Im Jahr 2020 waren Hunderte von Menschen, die zuvor nach Libyen zurückgebracht worden waren, an einem informellen Ort, der damals von einer Miliz kontrolliert wurde, "verschwunden". Inzwischen haben die libyschen Behörden den Ort in das DCIM integriert, ihm den Namen "Tripoli Gathering and Return Centre" gegeben, umgangssprachlich auch als "Al-Mabani" bekannt, und darüber hinaus den ehemaligen Direktor und andere Mitarbeiter_innen des nun geschlossenen DCIM-Zentrums Tajoura mit der Leitung betraut. Tajoura, das für Folter und andere Misshandlungen berüchtigt war, wurde im August 2019 geschlossen, einen Monat nach Luftangriffen, bei denen mindestens 53 Gefangene getötet wurden.

Zeichnung mit diffusen Strichen und einfachen Figuren, man erkennt Seile, und Stöcke

Das Zentrum Shara' al-Zawiya in Tripolis ist eine Einrichtung, die früher ebenfalls von Milizen betrieben und vor kurzem in das DCIM integriert wurde. Das Zentrum ist für besonders schutzbedürftige Personen bestimmt. Ehemalige Häftlinge dort sagten, dass die Wärter Frauen vergewaltigten und einige von ihnen im Austausch für ihre Freilassung oder für lebenswichtige Dinge wie sauberes Wasser zu Sex gezwungen wurden. "Grace" sagte, dass sie schwer geschlagen wurde, weil sie sich weigerte, einer solchen Forderung nachzukommen: "Ich sagte [dem Wärter] Nein. Er benutzte eine Pistole, um mich zu schlagen. Er benutzte einen ledernen Soldatenschuh ... um mich gegen die Hüfte zu [treten]."

Zwei junge Frauen in der Einrichtung versuchten aufgrund solcher Misshandlungen, sich das Leben zu nehmen. Drei Frauen berichteten auch, dass zwei Babys, die mit ihren Müttern nach einer versuchten Überfahrt über das Meer festgehalten wurden, Anfang 2021 starben, nachdem das Wachpersonal sich geweigert hatte, sie zu einer wichtigen medizinischen Behandlung in ein Krankenhaus zu bringen.

Libysche "Rettungs"-Einsätze gefährden Leben

Zwischen Januar und Juni 2021 hat die von der EU unterstützte libysche Küstenwache im Rahmen sogenannter "Rettungs"-Missionen rund 15.000 Menschen auf See abgefangen und nach Libyen zurückgeschickt – mehr als im gesamten Jahr 2020.

Von Amnesty International befragte Personen beschrieben das Verhalten der libyschen Küstenwache durchweg als fahrlässig und missbräuchlich. Überlebende schilderten, wie die libysche Küstenwache ihre Boote absichtlich beschädigte und in einigen Fällen zum Kentern brachte, was dazu führte, dass in mindestens zwei Fällen Menschen ertranken. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 sind mehr als 700 Schutzsuchende entlang der zentralen Mittelmeerroute ertrunken.

Trotz überwältigender Belege für das rechtswidrige Verhalten der libyschen Küstenwache auf See und systematische Menschenrechtsverletzungen in den Haftzentren in Libyen hält die Europäische Union aber an ihrer Kooperation mit Libyen fest.

Katja
Müller-Fahlbusch
MENA-Expertin bei Amnesty International in Deutschland

Überlebende berichteten Amnesty International, dass sie bei ihren Versuchen, das Meer zu überqueren, häufig Flugzeuge über dem Meer oder Schiffe in der Nähe sahen. Doch diese boten ihnen vor dem Eintreffen der libyschen Küstenwache keine Hilfe an.

Die europäische Grenzschutzagentur Frontex überwacht das Mittelmeer aus der Luft, um Boote von Schutzsuchende auf See zu identifizieren. Seit Mai 2021 setzt sie außerdem eine Drohne über dieser Route ein. Europäische Marineboote haben das zentrale Mittelmeer weitgehend verlassen, um Schutzsuchende in Seenot nicht retten zu müssen. 

Italien und andere EU-Mitgliedsstaaten gewähren der libyschen Küstenwache weiterhin materielle Unterstützung, darunter Schnellboote, und arbeiten an der Einrichtung eines maritimen Koordinationszentrums im Hafen von Tripolis, das größtenteils aus dem EU-Treuhandfonds für Afrika finanziert wird. In dieser Woche wird das italienische Parlament über die Fortsetzung der Bereitstellung von militärischer Unterstützung und Ressourcen für die libysche Küstenwache debattieren.

"Die Ergebnisse dieses jüngsten Berichts von Amnesty International sind leider für niemanden überraschend. Trotz überwältigender Belege für das rechtswidrige Verhalten der libyschen Küstenwache auf See und systematische Menschenrechtsverletzungen in den Haftzentren in Libyen hält die Europäische Union aber an ihrer Kooperation mit Libyen fest. Die europäischen Staaten müssen ihre Zusammenarbeit mit Libyen in den Bereichen Migration und Grenzkontrollen unverzüglich aussetzen und die Tausenden schutzbedürftigen Menschen, die in libyschen Haftzentren festsetzen, dringend evakuieren", fordert Müller-Fahlbusch.

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