Aktuell China 02. Oktober 2025

China: Wie das Justizsystem systematisch Menschenrechtsverteidiger*innen unterdrückt

Das Bild zeigt ein großes Gebäude

"Unterdrückung statt Gerechtigkeit": Das Volksgericht Nr. 2 in Fangzhuang, einem Vorort der chinesischen Hauptstadt Peking (Archivbild).

Ein neuer Amnesty-Bericht analysiert über 100 Gerichtsdokumente und belegt, wie in China Menschenrechtsverteidiger*innen systematisch mit vage gefassten Gesetzen verfolgt und für ihren friedlichen Einsatz verurteilt werden. Amnesty fordert ein Ende der Drangsalierung und Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidiger*innen durch die chinesische Justiz. 

Chinas Justiz wird als Waffe gegen die Meinungsfreiheit eingesetzt. Ein neuer, umfassender Bericht von Amnesty International deckt auf, wie die chinesische Regierung das eigene Justizsystem gezielt als Instrument nutzt, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. 

Anhand von über 100 offiziellen Gerichtsdokumenten belegt der Bericht, dass vage formulierte Gesetze systematisch genutzt werden, um Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Anwält*innen zu inhaftieren.  

Die Recherche zeigt, wie friedlicher Aktivismus und internationale Kontakte ausreichen, um in China langjährige Haftstrafen zu erhalten, und wie die Justiz zur zentralen Stütze der staatlichen Repression geworden ist.  

Die Recherche von Amnesty basiert auf der Untersuchung von 102 Anklagen und Urteilen aus 68 Fällen, die 64 Menschenrechtsverteidiger*innen in China betreffen. Die Urteile ergingen im Zeitraum zwischen 2014 und 2024. 

"Die chinesische Führung spricht gerne über internationale Zusammenarbeit und ihren Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit. Doch in Wirklichkeit steckt hinter dieser Maske ein System, in dem chinesische Gerichte sich in Unterdrückung statt in Gerechtigkeit üben, wenn politisch brisante Fälle verhandelt werden", so Sarah Brooks, für China zuständige Direktorin bei Amnesty International.  
 

Was sind die wichtigsten Ergebnisse des Amnesty-Berichts? 

  • Verurteilungsrate: In allen 67 Fällen, in denen bereits ein Urteil verkündet wurde, sprachen die Gerichte die Angeklagten schuldig – dies entspricht einer Verurteilungsrate von 100 Prozent innerhalb dieser Stichprobe. Bis auf drei Personen wurden alle zu Gefängnisstrafen zwischen 18 Monaten und 19 Jahren verurteilt.
  • "Bedrohung der nationalen Sicherheit": Die große Mehrheit der Fälle (über 90 Prozent) betraf die Anwendung von Bestimmungen des Strafrechts, die angeblich dem Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dienen. Diese Bestimmungen enthalten sehr vage Definitionen, sind übermäßig weit gefasst und laufen internationalen Standards zuwider.
  • Willkürliche Inhaftierung: Alle 68 untersuchten Fälle beinhalteten die willkürliche Inhaftierung von Menschenrechtsverteidiger*innen.
  • Foltervorwürfe: In elf Fällen gab es Foltervorwürfe. Die Gerichte lehnten es in all diesen Fällen ab, die auf illegalem Wege erlangten "Beweise" auszuschließen.

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Die drei am häufigsten verwendeten Straftatbestände zur Verurteilung von Menschenrechtsverteidiger*innen im chinesischen Strafgesetz sind: 

  1. Artikel 105(2): " Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" (22 der von Amnesty recherchierten Fälle)
  2. Artikel 293: "Provokation von Streit und Sabotage der gesellschaftlichen Ordnung" (17 der von Amnesty recherchierten Fälle)
  3. Artikel 105(1): "Untergrabung der Staatsgewalt" (14 der von Amnesty recherchierten Fälle) 

Menschenrechtler*innen in China werden als Staatsfeind*innen behandelt, weil sie ihre Meinung geäußert, sich friedlich organisiert oder mit der Außenwelt Kontakt aufgenommen haben. Ihr Mut wird mit Gefängnis, Folter und Scheinprozessen bestraft. 

Häufig zogen die Gerichte Online-Inhalte wie Blogbeiträge, Kommentare in den sozialen Medien oder das Teilen von Menschenrechtsartikeln als Beweis für "Untergrabung der Staatsgewalt" heran. 

Internationale Aktivitäten wurden routinemäßig als kriminell gebrandmarkt. So wurden beispielsweise Interviews mit ausländischen Medien, die Veröffentlichung von Artikeln auf ausländischen Websites oder die Teilnahme an Schulungen von NGOs im Ausland als Beweise für eine "geheime Absprache mit ausländischen Kräften" angeführt. 

Zhao Weis schockierender Bericht über "erzwungenen Verschleppung"

Eine der Methoden zur Zermürbung von Menschenrechtsverteidiger*innen ist die sogenannte "Überwachung an einem dafür vorgesehenen Ort" – eine Praxis, die dem Verschwindenlassen gleichkommt und in manchen Fällen als Folter und andere Misshandlung eingestuft werden kann.  

Die chinesische Aktivistin Zhao Wei wurde dieser Art des Verschwindenlassens ausgesetzt. Gegenüber Amnesty erzählte sie von der allgegenwärtigen Angst, die Ermittler*innen ihr machten: "Niemand weiß, dass du hier bist. Was auch immer dir hier zustößt - Niemand wird es je erfahren. Deine Familie wird einfach denken, du seiest verschwunden." 

Zhao Wei erläutert auch, wie systematische Misshandlung zu einem erzwungenen Geständnis führen kann: Ihre Behandlung und das Essen wurden je nach den Antworten, die sie den Ermittler*innen gab, angepasst. Widerstand verschlechterte die Haftbedingungen.  

Zhao Wei sagte gegenüber Amnesty: "Schließlich hatte ich das Gefühl, die einzige Möglichkeit zu überleben und aus dem Verhörraum herauszukommen, sei das Geständnis – die Anklagen so zuzugeben, wie sie es wollten." 

Eine große Menschenmenge protestiert, in der Mitte ein großes Porträt von Liu Xiaobo

Demonstration in Hongkong am 15. Juli 2017 in Gedenken an den wenige Tage zuvor verstorbenen chinesischen Menschenrechtsverteidiger und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo

Kritik an Regierung wird mit Bedrohung der nationalen Sicherheit gleichgesetzt 

Die Recherche von Amnesty ergab, dass chinesische Gerichte legitime Kritik an der Regierung systematisch mit einer Bedrohung der nationalen Sicherheit gleichsetzten. Das zeigen folgende Fälle:  

  • In einem Fall wurde ein Menschenrechtsanwalt wegen "Untergrabung der Staatsgewalt" verurteilt, nachdem er Personen in politisch sensiblen Fällen vertreten und die Familien von Inhaftierten unterstützt hatte.
  • Ein weiteres Beispiel ist der mittlerweile verstorbene Nobelpreisträger Liu Xiaobo, der zu elf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er die Charta 08 mitverfasst hatte – ein politisches Manifest, das Reformen einforderte.
  • Auch Frauen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, werden ins Visier genommen. Eine Aktivistin wurde wegen "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" schuldig gesprochen, weil sie Artikel über Frauen- und Landrechte verfasst hatte. 

"[Die Behörden] können jedes Verhalten oder jede Handlung als kriminell einstufen", sagte eine chinesische Menschenrechtsanwältin, mit der Amnesty für den Bericht gesprochen hat. 

Amnesty dokumentierte zudem die strafrechtliche Verfolgung von Arbeitsrechtsaktivist*innen, weil sie Arbeitnehmer*innen bei Tarifverhandlungen unterstützt hatten, und von Petitionssteller*innen, die ihre Anliegen bei höheren Behörden vorgebracht hatten. Friedliche Versammlungen wurden routinemäßig unter dem Deckmantel der "Störung der sozialen Ordnung" verfolgt.  

 

Internationale Aktivitäten und Kontakte als "Indizien" für Verbrechen 

In mehr als der Hälfte der geprüften Fälle setzten die Gerichte internationale Aktivitäten mit Kriminalität gleich. Die Angeklagten wurden der "geheimen Absprache" beschuldigt, weil sie bescheidene Finanzmittel von NGOs erhalten, mit ausländischen Journalist*innen gesprochen oder auch nur Server im Ausland gemietet hatten. 

In einem Fall argumentierten die Behörden, dass die Veröffentlichung von Artikeln auf einer gesperrten ausländischen Website eine "Störung der öffentlichen Ordnung in China darstellte, obwohl die gesamte Website dort aufgrund der Zensur gar nicht zugänglich war. In einem anderen Fall wurde der Besitz von öffentlich zugänglichen politischen Dokumenten als "illegale Weitergabe von Staatsgeheimnissen an das Ausland" angesehen. 

"Indem die chinesische Regierung fast jede Form von Kontakt mit der internationalen Gemeinschaft unter Strafe stellt, versucht sie, Menschenrechtler*innen in China von der Außenwelt abzuschneiden. Hier geht es nicht um die nationale Sicherheit, sondern um reine politische Kontrolle", sagte Sarah Brooks. 
 

Systematische Verweigerung von fairen Verfahren 

In allen geprüften Fällen stellte Amnesty International Verstöße gegen die Verfahrensrechte fest: 

  • Alle 64 Angeklagten wurden willkürlich in Gewahrsam gehalten.
  • Mindestens 15 von ihnen erlitten "Überwachung an einem dafür vorgesehenen Ort".
  • Viele befanden sich monatelang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft.
  • In elf Fällen mit Foltervorwürfen wiesen die Gerichte diese ohne Untersuchung zurück.
  • Unter dem Vorwand von "Staatsgeheimnissen" wurden Familien, Medien und Diplomat*innen routinemäßig von Gerichtsverhandlungen ausgeschlossen.
  • Als zusätzliche Strafe wurde oft ein "Entzug der politischen Rechte" verfügt, sodass die Betroffenen auch nach ihrer Freilassung nicht mehr die Möglichkeit hatten, ihre Meinung zu äußern. 

"Die chinesische Regierung muss all jene umgehend und bedingungslos freilassen, die lediglich aufgrund der friedlichen Wahrnehmung ihrer Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- oder Versammlungsfreiheit inhaftiert sind", so Sarah Brooks. 

"Wenn Rechtsbeistände inhaftiert werden, weil sie ihre Mandant*innen verteidigt haben, wenn Petitionssteller*innen bestraft werden, weil sie sich um Gerechtigkeit bemüht haben, und wenn Autor*innen für ihre Worte ins Gefängnis kommen, dann ist die Botschaft klar: Niemand ist sicher. Trotz alledem bleiben chinesische Menschenrechtsverteidiger*innen standhaft – und die Welt muss ihnen zur Seite stehen."  

 

Was fordert Amnesty International von der chinesischen Regierung? 

  • Amnesty International fordert die chinesische Regierung erneut auf, die vagen und übermäßig weit gefassten Bestimmungen des Strafgesetzes – wie "Untergrabung der Staatsgewalt" und "Provokation von Streit und Sabotage der gesellschaftlichen Ordnung" – sowie das Gesetz über die Nationale Sicherheit von 2015 aufzuheben oder grundlegend zu überarbeiten.
  • Die Praxis der "Überwachung an einem dafür vorgesehenen Ort" und aller Formen der Haft ohne Kontakt zur Außenwelt muss abgeschafft werden.
  • Das Recht der Angeklagten auf ein faires Gerichtsverfahren muss gewährleistet werden. Hierzu zählen der Zugang zu Rechtsbeiständen ihrer Wahl und der Ausschluss von Beweisen, die mittels Folter erlangt wurden. Allen Foltervorwürfen muss eine ordnungsgemäße Untersuchung folgen. 

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