Amnesty Report Vietnam 24. April 2024

Vietnam 2023

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die Behörden gingen weiterhin mit Härte gegen abweichende Meinungen vor, indem sie z. B. Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen unter Verletzung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftierten. Die vietnamesischen Behörden waren in die Entführung eines in Thailand lebenden vietnamesischen Flüchtlings verwickelt. Es gab Berichte über Hinrichtungen, doch unterlag der Vollzug der Todesstrafe der Geheimhaltung. Überwachung durch die Regierung war weit verbreitet, und Untersuchungen zeigten, dass Überwachungstechnologien gezielt eingesetzt wurden, um gegen Kritiker*innen und andere Personen vorzugehen, die sich mit Themen beschäftigten, die von der vietnamesischen Regierung als politisch sensibel angesehen wurden. 

Hintergrund

Im Januar 2023 nahm Vietnam seinen Sitz im UN-Menschenrechtsrat ein. Seit der Ankündigung der Kandidatur des Landes im Februar 2021 sind zahlreiche Journalist*innen, NGO-Sprecher*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und weitere Personen willkürlich festgenommen und inhaftiert worden. Võ Văn Thưởng löste im März 2023 Nguyễn Xuân Phúc als Präsidenten ab, doch brachte der Wechsel keine Verbesserung der Menschenrechtslage.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Journalist*innen sowie Personen, die sich für politische, ökologische und andere Belange einsetzten, wurden auch 2023 wegen ihrer Ansichten festgenommen und strafrechtlich verfolgt. Am 12. April verurteilte das Volksgericht in der Hauptstadt Hanoi den bekannten Aktivisten und unabhängigen Journalisten Nguyễn Lân Thắng in einer nichtöffentlichen Verhandlung zu sechs Jahren Gefängnis. Er war am 5. Juli 2022 auf Grundlage von Paragraf 117 des Strafgesetzbuchs von 2015 festgenommen worden, weil er "gegen den Staat gerichtete Informationen, Dokumente und Gegenstände hergestellt, gespeichert, verteilt oder verbreitet" haben soll. Nguyễn Lân Thắng wurde nach seiner Festnahme mehr als sieben Monate lang im Haftzentrum Nr. 1 in Hanoi festgehalten und durfte erst am 16. Februar 2023 zum ersten Mal seinen Rechtsbeistand treffen.

Im März 2023 wurde der Menschenrechtsverteidiger Trương Văn Dũng der Verbreitung von "Propaganda gegen die Regierung" für schuldig befunden und nach Paragraf 88 des Strafgesetzbuchs in der zum Zeitpunkt seiner ursprünglichen Anklage noch geltenden früheren Fassung von 1999 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Er war am 21. Mai 2022 festgenommen worden, weil man ihm vorwarf, ausländischen Medien Interviews gegeben und zwei "illegal gedruckte Bücher" besessen zu haben. Während seines Gerichtsverfahrens erhob Trương Văn Dũng den Vorwurf, die Polizei habe ihn geschlagen. Soweit bekannt, wurden diese Vorwürfe nicht untersucht.

Am 6. April 2023 wurde die Ehefrau des Aktivisten Bùi Tuấn Lâm von den Behörden darüber informiert, dass die Ermittlungen gegen ihren Mann abgeschlossen seien und er nach Paragraf 117 des Strafgesetzbuchs von 2015 wegen "Verbreitung von Propaganda gegen den Staat" vor Gericht gestellt würde. Die Vorwürfe bezogen sich auf Videos, die er auf Facebook und Youtube gepostet hatte. Bùi Tuấn Lâm, der für seine satirischen Videos über Menschenrechte und soziale Themen bekannt ist, wurde erstmals im November 2021 von der Polizei der Stadt Da Nang vernommen. Der Grund war ein auf Facebook viral gegangenes Video, in dem er sich über den Besuch des Ministers für öffentliche Sicherheit in einem teuren Londoner Restaurant lustig gemacht hatte. Am 25. Mai 2023 wurde Bùi Tuấn Lâm zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Am 5. Juli 2023 gab die vietnamesische Polizei bekannt, dass sich der Youtuber Đường Văn Thái in Untersuchungshaft befinde, nachdem er nach Paragraf 117 des Strafgesetzbuchs von 2015 angeklagt worden sei. Đường Văn Thái hatte im Jahr 2020 den Flüchtlingsstatus in Thailand erhalten, verschwand aber am 13. April 2023 in der thailändischen Hauptstadt Bangkok. Zeugenaussagen und Indizien deuteten darauf hin, dass er von vietnamesischen Sicherheitskräften aus Thailand nach Vietnam entführt worden war.

Am 28. September 2023 verurteilte das Gericht von Ho-Chi-Minh-Stadt die Umweltschützerin Hoàng Thị Minh Hồng unter dem konstruierten Vorwurf der Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Sie war die fünfte bekannte Umweltschützerin, die seit 2021 wegen Steuerhinterziehung angeklagt wurde. 

Der inhaftierte Journalist Lê Hữu Minh Tuấn gab bei einem Familienbesuch im Dezember 2023 an, dass sich sein Gesundheitszustand stark verschlechtert habe und er befürchte, sterben zu müssen, wenn er nicht die nötige medizinische Versorgung erhalte. Lê Hữu Minh Tuấn verbüßt eine elfjährige Haftstrafe wegen "Propaganda gegen den Staat". Berichten zufolge leidet er u. a. an einer Dickdarmentzündung und an Hepatitis.

Todesstrafe

Die Zahlen zu Hinrichtungen und Todesurteilen wurden 2023 weiterhin als Staatsgeheimnis eingestuft, sodass eine unabhängige Überprüfung nicht möglich war. Es gab jedoch mindestens zwei Fälle, in denen Familien über die Hinrichtung bzw. bevorstehende Hinrichtung von Angehörigen informiert wurden. Die Familie von Nguyễn Văn Chưởng, der im Juli 2007 zum Tode verurteilt worden war, erhielt am 4. August 2023 vom Volksgericht von Hải Phòng die Anweisung, Vorkehrungen für die Überführung seiner sterblichen Überreste zu treffen.

Am 18. September 2023 wurde der Familie von Lê Văn Mạnh mitgeteilt, dass die Entscheidung, ihn hinzurichten, bestätigt worden sei. Später wurden die Angehörigen darüber informiert, dass er am 22. September 2023 exekutiert worden war. Man hatte ihnen nicht die Gelegenheit gegeben, ihn vorher zu besuchen.

Sowohl Nguyễn Văn Chưởng als auch Lê Văn Mạnh hatten ausgesagt, dass sie die Straftaten, für die sie verurteilt wurden, unter polizeilicher Folter "gestanden" hatten.

Rechtswidrige Überwachung

Recherchen von Amnesty International deckten auf, dass zwischen Februar und Juni 2023 mindestens 50 Social-Media-Konten mit Spionagesoftware ins Visier genommen wurden; die Konten gehörten 27 Einzelpersonen und 23 Institutionen, darunter einige vietnamesische. Für den Angriff kam offenbar die Spyware Predator des Konsortiums Intellexa zum Einsatz. Amnesty International fand heraus, dass Intellexa-Tools an vietnamesische Unternehmen verkauft wurden, die Geschäftsverbindungen zum vietnamesischen Ministerium für öffentliche Sicherheit hatten. Die Recherchen legten nahe, dass vietnamesische Regierungsbedienstete hinter der Ausspähkampagne stecken könnten.

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