Amnesty Report Saudi-Arabien 28. März 2023

Saudi-Arabien 2022

Die Grafik zeigt Portraits von zehn Menschen, worunter der Hashtag LetThemFly steht.

Im Rahmen der Aktion "#LetThemFly" setzte sich Amnesty im Mai 2022 für 30 saudi-arabische Menschenrechtsverteidiger*innen ein. Sie waren in grob unfairen Verfahren zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Daüberhinaus verfügten die Behörden gegen die Verurteilten direkt nach dem Ende ihrer Haftstrafe ein Reiseverbot.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

Die Behörden gingen auch 2022 hart gegen Personen vor, die lediglich ihre Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit wahrnahmen. Das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten verurteilte Menschen, die sich friedlich geäußert oder auf kommunaler Ebene Organisationen gegründet hatten, nach grob unfairen Verfahren zu langen Freiheitsstrafen. Menschenrechtsverteidiger*innen wurden im Gefängnis schikaniert und kamen nach Verbüßen ihrer Strafe nur unter restriktiven Auflagen, wie z. B. willkürlichen Reiseverboten, frei. Gerichte verhängten nach grob unfairen Verfahren Todesurteile, auch gegen Personen, die zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Straftat noch minderjährig waren. Menschen wurden für eine Vielzahl von Straftaten hingerichtet. In der Küstenstadt Dschidda waren Tausende Einwohner*innen von rechtswidrigen Zwangsräumungen betroffen. Arbeitsmigrant*innen unterlagen weiterhin dem Sponsorensystem (Kafala) und liefen Gefahr, ausgebeutet zu werden. Tausende von ihnen wurden willkürlich unter unmenschlichen Bedingungen in Haft gehalten, gefoltert oder anderweitig misshandelt und im Zuge landesweiter harter Maßnahmen gegen Migrant*innen ohne gültige Papiere gegen ihren Willen in ihre Heimatländer abgeschoben. Das erste Personenstandsgesetz des Landes, das 2022 in Kraft trat, schrieb die männliche Vormundschaft und die Diskriminierung von Frauen fest.

Hintergrund

Am 27. September 2022 ernannte König Salman den Kronprinzen Mohammed bin Salman zum Ministerpräsidenten und machte damit eine Ausnahme vom saudi-arabischen Gesetz über Regierungsführung. Zuvor hatte der König als Staatsoberhaupt auch das Amt des Ministerpräsidenten innegehabt.

Im März 2022 gaben führende Abgeordnete des Europäischen Parlaments eine Erklärung zur Menschenrechtslage in Saudi-Arabien ab. Darin verurteilten sie eine Massenhinrichtung, die am 12. März stattgefunden hatte, und forderten die Regierung auf, umgehend ein Hinrichtungsmoratorium zu verhängen.

Im Juli 2022 besuchte US-Präsident Joe Biden das Land. Anschließend veröffentlichte Saudi-Arabien das sogenannte Dschidda-Communique. Die gemeinsame Erklärung unterstreicht die strategische Partnerschaft der beiden Länder, menschenrechtliche Pflichten Saudi-Arabiens werden jedoch nicht erwähnt.

Am 6. November 2022 fand in der Hauptstadt Riad der zweite Menschenrechtsdialog zwischen Saudi-Arabien und der Europäischen Union statt. Die EU äußerte sich besorgt über den starken Anstieg der Zahl der Hinrichtungen und kritisierte Verstöße gegen die Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie den Einsatz von Reiseverboten.

In dem seit Jahren andauernden bewaffneten Konflikt im Jemen war die von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz 2022 weiterhin an Kriegsverbrechen und anderen schweren Verstößen gegen das Völkerrecht beteiligt (siehe Länderkapitel Jemen).

Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit

Das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten verurteilte mindestens 15 saudi-arabische und ausländische Staatsangehörige, die u. a. auf Twitter friedlich ihre Rechte auf Meinungs- oder Vereinigungsfreiheit ausgeübt hatten, nach grob unfairen Verfahren zu Haftstrafen zwischen 15 und 45 Jahren. Gegen mindestens zwei Frauenrechtlerinnen ergingen beispiellos lange Freiheitsstrafen.

Das Sonderstrafgericht und andere Gerichte verhängten gegen Personen, die im Laufe des Jahres nach Verbüßen ihrer Strafe freigelassen wurden, weiterhin restriktive Auflagen wie Reiseverbote und die Schließung ihrer Konten in den Sozialen Medien.

Am 9. August 2022 verurteilte das Sonderstrafgericht in einem Berufungsverfahren die Doktorandin und Aktivistin Salma al-Shehab zu 34 Jahren Gefängnis, gefolgt von einem 34-jährigen Reiseverbot. Anlass waren ihre Schriften und friedlichen Twitter-Beiträge zur Unterstützung von Frauenrechten in Saudi-Arabien. Nachdem die Aktivistin zunächst zu sechs Jahren Haft verurteilt worden war, hatte die Staatsanwaltschaft eine härtere Strafe gefordert. Die Erhöhung des Strafmaßes lag im Ermessen des Richters, der sie damit wegen "Störung der öffentlichen Ordnung und Destabilisierung der staatlichen Sicherheit und Stabilität" durch die Veröffentlichung von Tweets bestrafte. Er berief sich dabei auf die Paragrafen 34, 38, 43 und 44 des Antiterrorgesetzes sowie auf Paragraf 6 des Gesetzes zur Internetkriminalität.

Nach einem grob unfairen Verfahren verurteilte das Sonderstrafgericht am 11. Oktober 2022 zehn ägyptisch-nubische Männer, die eine friedliche Gedenkveranstaltung organisiert hatten, zu Haftstrafen zwischen 10 und 18 Jahren. Sie hatten zuvor mehr als zwei Jahre in willkürlicher Untersuchungshaft verbracht.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Menschenrechtsorganisationen waren auch 2022 gemäß dem Vereinigungsgesetz verboten. Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen wurden weiterhin willkürlich inhaftiert, in der Haft schikaniert und nach ihrer Freilassung mit willkürlichen Reiseverboten belegt, die ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkten. Zahlreiche Aktivist*innen verbüßten weiterhin Freiheitsstrafen, weil sie für die Menschenrechte eingetreten waren.

Im März 2022 kam der Blogger und Aktivist Raif Badawi nach Ableisten einer zehnjährigen Haftstrafe unter Auflagen auf freien Fuß. Er hatte ein Online-Diskussionsforum eingerichtet und war deshalb beschuldigt worden, den Islam diffamiert zu haben. An seine Freilassung schloss sich ein zehnjähriges Reiseverbot an, das Teil seiner Strafe war.

Der inhaftierte Menschenrechtsverteidiger Mohammad al-Qahtani, ein Gründungsmitglied der inzwischen aufgelösten Menschenrechtsorganisation Saudi Civil and Political Rights Association (ACPRA), durfte von Oktober bis Ende des Jahres keinen Kontakt zu seiner Familie aufnehmen. Im Mai wurde er von einem Mitgefangenen, der im selben Trakt untergebracht war und unter psychischen Problemen litt, tätlich angegriffen.

Todesstrafe

Die Justiz verhängte auch 2022 nach grob unfairen Verfahren Todesurteile wegen Mord, Raub, Vergewaltigung, Drogenschmuggel und terroristischen Straftaten und richtete Verurteilte hin. Im Februar teilte die staatliche Menschenrechtskommission Amnesty International mit, dass Saudi-Arabien keine Personen mehr hinrichte, die zur Tatzeit minderjährig waren, und dass alle entsprechenden Todesurteile umgewandelt worden seien. Das Sonderstrafgericht und ein weiteres Gericht bestätigten jedoch zwischen Juni und Oktober die Todesurteile dreier junger Männer, die zum Zeitpunkt der ihnen zur Last gelegten Kapitalverbrechen noch keine 18 Jahre alt waren.

Am 12. März 2022 wurden 81 saudi-arabische und ausländische Staatsangehörige hingerichtet. Es handelte sich um die größte Massenhinrichtung seit Jahrzehnten. Nach Angaben des Innenministeriums waren die Männer u. a. wegen terroristischer Straftaten, Mordes, bewaffneten Raubüberfalls und Waffenschmuggels schuldig gesprochen worden. Einige waren jedoch auch wegen "Störung des sozialen Gefüges und des nationalen Zusammenhalts" und "Teilnahme an und Anstiftung zu Sitzstreiks und Protesten" zum Tode verurteilt worden, was Handlungen beschreibt, die durch die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit geschützt sind. 41 der Hingerichteten gehörten der schiitischen Minderheit an.

Im November 2022 richteten die Behörden 20 Menschen wegen Drogendelikten hin. Es waren die ersten Hinrichtungen dieser Art, seit die staatliche Menschenrechtskommission im Januar 2021 ein Moratorium für die Anwendung der Todesstrafe bei Drogendelikten angekündigt hatte.

Unfaire Gerichtsverfahren

Im März 2022 verurteilte ein Strafgericht in der Stadt Tabuk in einem Wiederaufnahmeverfahren Abdullah al-Huwaiti erneut zum Tode. Das Gericht hatte bereits im Oktober 2019 ein Todesurteil gegen ihn gefällt, das jedoch im November 2021 vor dem Obersten Gerichtshof wieder aufgehoben worden war. Abdullah al-Huwaiti war 2017 im Alter von 14 Jahren festgenommen und anschließend in Einzelhaft gehalten worden. Die Behörden hatten ihm den Zugang zu einem Rechtsbeistand verweigert und ihn unter Zwang zu einem "Geständnis" genötigt. Ihm wurden u. a. bewaffneter Raubüberfall und Mord an einem Angehörigen der Sicherheitskräfte zur Last gelegt. Im Juni 2022 bestätigte ein Berufungsgericht in Tabuk das Todesurteil gegen ihn.

Im April 2022 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Todesurteile gegen zwei schiitische Männer aus Bahrain, denen "Terrorismus" und Straftaten in Zusammenhang mit Protestaktionen zur Last gelegt wurden. Die Behörden hatten sie am 8. Mai 2015 festgenommen und dreieinhalb Monate lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Einzelhaft gehalten. Im Oktober 2021 hatte das Sonderstrafgericht sie nach einem grob unfairen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt. Sollte der König die Hinrichtungsbefehle unterzeichnen, würde den Männern unmittelbar die Exekution drohen.

Rechtswidrige Zwangsräumungen

In Dschidda ließen die Behörden von Januar bis Oktober 2022 massenhaft Häuser abreißen, um Stadtentwicklungspläne umzusetzen. Dabei wurden Tausende Menschen Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen, darunter auch ausländische Staatsangehörige. Eine regierungsnahe Zeitung kündigte am 31. Januar eine Entschädigungsregelung für die Betroffenen an. Ausländische Staatsangehörige, die 47 Prozent der Vertriebenen ausmachten, waren davon jedoch ausgenommen. Die Bewohner*innen wurden erst sehr spät über die Zwangsräumungen informiert – manche sechs Wochen vorher, andere lediglich am Vortag. Obwohl die Planung bereits drei Jahre zuvor abgeschlossen worden war, hatten die Behörden die Bewohner*innen vor dem Abriss weder in das Projekt einbezogen noch angemessen darüber informiert. Auch hatten sie im Vorfeld weder die Höhe der Entschädigung bekannt gegeben noch diese ausgezahlt.

Rechte von Migrant*innen

Im Juli 2022 kündigte das Arbeitsministerium im Zuge einer begrenzten Reform des Kafala-Systems eine Neuregelung für Hausangestellte an. Dieser zufolge können sie die Stelle ohne Erlaubnis ihrer Arbeitgeber*innen wechseln, wenn sie ihren Arbeitsvertrag während der Probezeit kündigen oder wenn es Beweise dafür gibt, dass sie ihre Dienste bereits ohne Wissen oder Zustimmung ihrer vorherigen Arbeitgeber*in für eine*n neue*n Arbeitgeber*in erbringen. Die Neuregelung bot Hausangestellten jedoch keinerlei Schutz gegen weitere Menschenrechtsverletzungen, denen sie unvermindert ausgesetzt waren, wie z. B. verbale und tätliche Angriffe, die Einbehaltung ihrer Pässe oder unregelmäßige bzw. ausbleibende Lohnzahlungen.

Die Schutzvorschriften des saudi-arabischen Arbeitsrechts galten nach wie vor nicht für Migrant*innen, die als Hausangestellte arbeiteten.

Die Behörden gingen weiterhin hart gegen Personen vor, denen sie Verstöße gegen Arbeits-, Aufenthalts- oder Grenzschutzbestimmungen zur Last legten, und nahmen sie willkürlich fest. Zehntausende äthiopische Migrant*innen wurden allein deshalb abgeschoben, weil sie keinen regulären Aufenthaltsstatus hatten (siehe "Folter und andere Misshandlungen").

Nach Angaben des Innenministeriums wurden von Januar bis November 2022 von 678.000 festgenommenen ausländischen Staatsangehörigen mindestens 479.000 wegen Verstößen gegen Arbeits-, Aufenthalts- oder Grenzschutzbestimmungen in ihr Heimatland abgeschoben. Im selben Zeitraum inhaftierten die Behörden 14.511 ausländische Staatsangehörige, überwiegend aus Äthiopien und dem Jemen, die ohne die notwendigen Papiere aus dem Jemen nach Saudi-Arabien eingereist waren.

Folter und andere Misshandlungen

Zehntausende äthiopische Erwachsene und Kinder waren, nur weil sie keinen regulären Aufenthaltsstatus hatten, bis zu 18 Monate lang unter unmenschlichen Bedingungen willkürlich inhaftiert, bevor die Behörden sie nach Äthiopien abschoben, die meisten von ihnen im April und Mai 2022. Die Inhaftierten wurden gefoltert und anderweitig misshandelt. Sie waren in zwei Haftanstalten in überbelegten Zellen untergebracht und hatten keinen ausreichenden Zugang zu Nahrung, Wasser, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Mindestens zwölf Männer starben in der Haft.

Rechte von Frauen und Mädchen

Im März 2022 verabschiedete der Ministerrat ein Personenstandsgesetz, das im Juni in Kraft trat. Das erste derartige Gesetz in der Geschichte des Landes schreibt die Diskriminierung von Frauen fest, u. a. durch die männliche Vormundschaft. Frauen benötigen demnach die Erlaubnis eines männlichen Vormunds, um zu heiraten, und sind verpflichtet, ihrem Ehemann zu gehorchen. Darüber hinaus haben Männer und Frauen unter diesem Gesetz nicht die gleichen Rechte in Bezug auf gemeinsame Kinder nach einer Trennung. Der Mutter wird automatisch das Sorgerecht zugesprochen, während der Vater als Erziehungsberechtigter angesehen wird, ohne das Kindeswohl dabei angemessen zu berücksichtigen.

Klimakrise

Die Regierung hatte 2022 noch keinen neuen nationalen Klimabeitrag gemäß dem Pariser Klimaabkommen von 2015 vorgelegt.

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