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Marokko / Westsahara 2023
© Amnesty International
- Hintergrund
- Recht auf freie Meinungsäußerung
- Unterdrückung Andersdenkender
- Folter und andere Misshandlungen
- Frauenrechte
- Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)
- Straflosigkeit
- Recht auf Wasser
- Recht auf eine gesunde Umwelt
- Todesstrafe
- Veröffentlichungen von Amnesty International
Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023
Die Behörden verurteilten mindestens sechs Personen, darunter Aktivist*innen, Journalisten und einen Rechtsanwalt, im Zusammenhang mit der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung. Zudem gingen sie mehrmals gegen Andersdenkende in der Westsahara vor. Mehrere vermeintliche Kritiker*innen der Regierung wurden gefoltert oder anderweitig misshandelt. Nationale Gesetze verfestigten weiterhin die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und stellten einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen sowie Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe. Im Zusammenhang mit dem Tod von mindestens 37 Migrant*innen und dem "Verschwinden" von 76 Personen, die am 24. Juni 2022 versucht hatten, die Grenze zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla zu überqueren, war auch 2023 noch niemand zur Verantwortung gezogen worden.
Hintergrund
Am 19. Januar 2023 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution zur Lage von Journalist*innen in Marokko und forderte die Behörden auf, das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit zu achten.
Im April 2023 schloss der UN-Menschenrechtsrat seine jüngste Allgemeine Regelmäßige Überprüfung Marokkos ab (UPR-Prozess). Das Land akzeptierte mehrere Empfehlungen, darunter eine zur Stärkung des Schutzes der Rechte von Migrant*innen. Die Empfehlungen zur strafrechtlichen Verfolgung von Vergewaltigung in der Ehe und zur Entkriminalisierung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen lehnte es jedoch ab.
Am 8. September 2023 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 6,8 die Region Al Haouz im Südwesten Marokkos. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren in der Stadt Marrakesch und im Hohen Atlas-Gebirge mehr als 300.000 Menschen von dem Erdbeben betroffen. Laut den marokkanischen Behörden kamen 2.901 Menschen ums Leben, und Tausende weitere wurden verletzt.
Am 31. Oktober verlängerte der UN-Sicherheitsrat das Mandat der UN-Mission für das Referendum in der Westsahara (MINURSO) um ein weiteres Jahr. Das Mandat enthielt jedoch nach wie vor keine Bestimmungen zur Überwachung der Menschenrechtslage.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Die Gerichte zeigten sich auch 2023 intolerant gegenüber dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Mindestens sechs Personen, darunter Aktivist*innen, Journalisten und ein Rechtsanwalt, wurden verurteilt, weil sie ihre Ansichten geäußert hatten.
Am 20. Februar 2023 verurteilte ein Berufungsgericht den Menschenrechtsverteidiger Rida Benotmane zu einer 18-monatigen Haftstrafe. Die gegen ihn erhobenen Anklagen hingen mit Beiträgen in den Sozialen Medien und Youtube-Videos aus dem Jahr 2021 zusammen, in denen er Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte angeprangert, die Freilassung von politischen Gefangenen gefordert und die Regierung beschuldigt hatte, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken.
Im Mai 2023 verurteilte ein erstinstanzliches Gericht die Aktivistin Saida El Alami zu zwei Jahren Haft und einer Geldstrafe wegen "Beleidigung des Königs". Sie bestritt die gegen sie erhobenen Vorwürfe. Am 17. Mai 2023 bestätigte dasselbe Gericht im Berufungsverfahren eine dreijährige Haftstrafe gegen den Rechtsanwalt Mohamed Ziane wegen "Beleidigung" von Amtsträger*innen und Institutionen im Zusammenhang mit einem auf Youtube veröffentlichten Video, in dem er den Chef der Sicherheitskräfte kritisiert hatte.
Am 20. Juli lehnte das Kassationsgericht, das höchste Gericht Marokkos, die Rechtsmittel der Journalisten Omar Radi und Soulaiman Raissouni ab und bestätigte damit deren Verurteilung zu sechs bzw. fünf Jahren Haft.
Am 27. November 2023 verurteilte das Berufungsgericht in Casablanca Said Boukioud zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe, weil er im Dezember 2020 in Facebook-Posts die Beziehungen der Regierung zu Israel kritisiert hatte.
Unterdrückung Andersdenkender
Bei mehreren Gelegenheiten schränkten die Behörden in der Westsahara das Recht auf friedliche Versammlung ein und gingen gegen abweichende Meinungen vor.
Zwischen dem 4. Mai und dem 20. Juni 2023 überwachte die Polizei das Haus der saharauischen Aktivistin Mahfouda Lefkir in der Stadt Laayoune im Norden der Westsahara, nachdem sie die Stadt Dakhla im Süden der Westsahara aus Solidarität für die dortigen Aktivist*innen besucht hatte. Ordnungskräfte folgten ihr, sobald sie das Haus verließ, und beschimpften und beleidigten sie und ihre Familie. Zudem hielten sie Aktivist*innen davon ab, sie zu besuchen, indem sie diese vor dem Haus verprügelten.
Am 14. Mai 2023 wiesen die Behörden den italienischen Staatsangehörigen Roberto Cantoni aus der Westsahara aus. Der Forscher, der sich mit der Nutzung erneuerbarer Energien in Marokko und der Westsahara befasste, wurde ohne ordnungsgemäßes Verfahren von Laayoune nach Agadir, einer Küstenstadt im Süden Marokkos, gebracht.
Am 4. September lösten Ordnungskräfte in Laayoune (Westsahara) eine friedliche Protestaktion gewaltsam auf. Es handelte sich um den ersten Tag des ersten Besuchs von Staffan De Mistura, dem persönlichen Gesandten des UN-Generalsekretärs für die Westsahara, in der Region. Die Sicherheitskräfte griffen mindestens 23 saharauische Demonstrierende, darunter die beiden Aktivistinnen Salha Boutenkiza und Mahfouda Lefkir sowie Bouchri Ben Taleb, tätlich und verbal an. Demonstrierende wurden über den Boden geschleift, geschlagen und bedroht. Am 7. September nahmen Ordnungskräfte in der Stadt Dakhla willkürlich mindestens vier saharauische Aktivisten fest, darunter Hassan Zerouali und Rachid Sghayer, und hielten sie sieben Stunden lang in der Polizeistation von Oum Bir fest, sodass ein geplantes Treffen mit Staffan De Mistura nicht zustande kommen konnte.
Am 21. Oktober 2023 hinderten Ordnungskräfte die saharauische Menschenrechtsorganisation CODESA daran, ihren ersten nationalen Kongress in Laayoune abzuhalten. Teilnehmende berichteten Amnesty International, dass Ordnungskräfte tätliche Gewalt gegen sie angewandt hätten.
Die Behörden erhielten die 2022 angeordnete Schließung des Hauptsitzes der Saharauischen Vereinigung der Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen durch den marokkanischen Staat in Laayoune (L’Association sahraouie des victimes de graves violations des droits de l’homme commises par l’État marocain – ASVDH) aufrecht.
Folter und andere Misshandlungen
Die Behörden setzten 2023 Folter und anderweitige Misshandlungen gegen mehrere Personen ein, die als Kritiker*innen betrachtet wurden.
Am 18. April 2023 wurde Abd El Tawab El Terkzi in Laayoune willkürlich 90 Minuten lang von Ordnungskräften festgehalten, nachdem er in einem Video mit einem spanischen Touristen zu sehen gewesen war. In dem Video hatte er sich als stolzen Sahraoui bezeichnet und die Selbstbestimmung seines Volkes befürwortet. Die Polizisten folterten und misshandelten ihn, indem sie ihm Handschellen anlegten und eine Kapuze über das Gesicht zogen, ihm ins Gesicht schlugen, ihn anspuckten und drohten, ihn zu vergewaltigen und mit Säure zu töten.
Bis Mai 2023 wurde mindestens fünf Personen im Gefängnis das Recht auf Lesen und Schreiben verweigert: Rida Benotmane, einem Schriftsteller und Angehörigen der marokkanischen Vereinigung zur Verteidigung der Menschenrechte (Association Marocaine des Droits Humains), dem 80-jährigen Menschenrechtsanwalt und ehemaligen Minister für Menschenrechte in Marokko Mohamed Ziane sowie den drei Journalisten Taoufik Bouachrine, Omar Radi und Soulaiman Raissouni (siehe "Recht auf freie Meinungsäußerung").
Im Februar 2023 schob Marokko den saudi-arabischen Staatsbürger Hassan Al Rabea ohne ordnungsgemäßes Verfahren nach Saudi-Arabien ab, wo ihm Folter und andere Menschenrechtsverletzungen drohten. Marokkanische Sicherheitskräfte hatten ihn am 14. Januar am Flughafen von Marrakesch auf Ersuchen der Behörden in Saudi-Arabien festgenommen, wo ihm terroristische Straftaten vorgeworfen werden.
Frauenrechte
In Marokko war die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auch 2023 gesetzlich verankert, u. a. in Bezug auf das Erbrecht und das Sorgerecht.
Das Strafgesetzbuch stellte Schwangerschaftsabbrüche weiterhin unter Strafe. Erlaubt waren sie nur dann, wenn sie notwendig waren, um "die Gesundheit oder das Leben der Mutter" zu retten, und von Ärzt*innen oder Chirurg*innen durchgeführt wurden. Frauen, die außerhalb dieser gesetzlichen Ausnahmen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließen oder dies versuchten, drohten Haftstrafen von sechs Monaten bis zu zwei Jahren und eine Geldstrafe. Laut Strafgesetzbuch machten sich auch alle Personen, die an der Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs beteiligt waren, strafbar und mussten mit einer Haftstrafe von einem bis zu fünf Jahren und einer Geldstrafe rechnen. Die Haftstrafe verdoppelte sich dabei, wenn jemand regelmäßig Schwangerschaftsabbrüche durchführte.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)
Paragraf 489 des Strafgesetzbuchs stellte gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen oder "unnatürliche" Handlungen unter Strafe. Bei einer Verurteilung konnten Geldstrafen oder auch Haftstrafen zwischen sechs Monaten und drei Jahren verhängt werden.
Im April 2023 berichtete die marokkanische News-Website Le Desk, dass eine französische Schule in Kenitra, einer Stadt im Nordwesten Marokkos, eine Lehrerin entlassen hatte, nachdem eine Gruppe von Eltern im Februar 2023 Anzeige wegen "Verteidigung von Homosexualität" erstattet hatte. Die Lehrerin hatte die Schüler*innen ermutigt, gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen zu akzeptieren.
Straflosigkeit
Den Behörden gelang es auch 2023 nicht, die Verantwortlichen für den Tod von mindestens 37 Migrant*innen und für das Verschwinden von 76 weiteren Personen am 24. Juni 2022 zur Rechenschaft zu ziehen. An diesem Tag waren marokkanische und spanische Sicherheitskräfte mit exzessiver Gewalt gegen rund 2.000 Migrant*innen aus Ländern südlich der Sahara vorgegangen, die versucht hatten, die Grenze zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla zu überqueren.
Recht auf Wasser
Im Rahmen ihrer Bewertung der weltweiten Wassersicherheit (Global Water Security Assessment) 2023 stellte die Universität der Vereinten Nationen fest, dass viele Menschen in Marokko keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser haben (water insecure). Die im Land herrschende Wasserknappheit, die größtenteils auf den Klimawandel zurückzuführen war, näherte sich mit hoher Geschwindigkeit der Schwelle zur absoluten Wasserknappheit.
Im Februar 2023 veröffentlichte der Nationale Menschenrechtsrat Marokkos (Conceil National des Droits de l’Homme, Royaume du Maroc) einen Bericht, in dem vor dem Rückgang der Wasserressourcen im Land gewarnt wird. Der Rat forderte die Behörden auf, dringend Maßnahmen zu ergreifen, um z. B gegen Wasserverschmutzung vorzugehen und in Ausbaumaßnahmen in den Bereichen Wasserinfrastruktur und alternative Wasserquellen wie Abwasseraufbereitung und Entsalzung zu investieren. Auch sollten nach Ansicht des Rates die Folgen der Landwirtschaft für die Wasservorräte untersucht werden, insbesondere was Anbauprodukte mit hohem Wasserverbrauch wie Wassermelonen und Avocados anbelangt. Unter Berufung auf die Allgemeine Bemerkung Nr. 15 des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erinnerte der Menschenrechtsrat die marokkanischen Behörden an ihre Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass jeder Mensch über "ausreichendes, sicheres, annehmbares, räumlich zugängliches sowie bezahlbares Wasser für den persönlichen und häuslichen Gebrauch" verfügt.
Recht auf eine gesunde Umwelt
Die Forschungsinitiative World Weather Attribution erklärte, dass die extremen Hitzewellen in Marokko auf den Klimawandel zurückzuführen seien. Im April 2023 wurden in mehreren Teilen des Landes Hitzerekorde gebrochen; in einigen Städten stiegen die Temperaturen auf über 41 °C. Am 11. August 2023 verzeichnete die Generaldirektion für Meteorologie in Agadir eine Temperatur von 50,4 °C – das ist der höchste jemals in Marokko gemessene Wert.
Todesstrafe
Die Gerichte verhängten auch 2023 weiterhin Todesurteile. Die letzte Hinrichtung fand 1993 statt.
Veröffentlichungen von Amnesty International
- Morocco: Man at risk of forcible return and torture: Hassan Al Rabea, 31 January
- Morocco/Western Sahara: Further information: Human rights defender’s conviction upheld: Rida Benotmane, 28 February
- Morocco: Authorities must ensure Omar Radi’s fair trial rights, 3 March
- Morocco: Further information: Human rights lawyer’s case to be reviewed: Mohamed Ziane, 28 April
- Morocco: Denying imprisoned academics and journalists access to read and write violates their right to freedom of expression, 3 May