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Argentinien 2023
Protestmarsch der Madres de Plaza de Mayo ("Mütter der Plaza de Mayo") am 7. Dezember 2023 in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires zur Erinnerung an die Opfer der Diktatur
© Juan Mabromata/AFP via Getty Images
Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023
Auch 2023 waren geschlechtsspezifische Tötungen in Argentinien an der Tagesordnung und wurden nur selten geahndet. Der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen blieb trotz ihrer Ende 2020 erfolgten Entkriminalisierung in vielen Teilen des Landes schwierig. Rassistisch motivierte Gewaltanwendung seitens der Sicherheitskräfte war weit verbreitet. Proteste wurden weiterhin eingeschränkt und kriminalisiert. Die Klimaschutzmaßnahmen blieben hinter den Zielen zur Senkung der weltweiten Emissionen zurück.
Hintergrund
Argentinien befand sich weiterhin in einer wirtschaftlichen und sozialen Krise. Im Juni 2023 lebten 40,1 Prozent der Bevölkerung in Armut, und die Arbeitslosenquote betrug 6,2 Prozent. Im Oktober und November fanden Wahlen statt, bei denen die Partei La Libertad Avanza mit 55,65 Prozent der Stimmen gewann.
Im Dezember 2023 erließ Präsident Javier Milei ein Notfalldekret, mit dem er mehr als 70 Gesetze aufhob oder änderte. Außerdem legte er dem Kongress einen "Gesetzentwurf über Grundlagen und Ausgangspunkte für die Freiheit der Argentinier" vor, mit dem er den öffentlichen Notstand bis 31. Dezember 2025 ausrief und rückschrittliche Änderungen u. a. in den Bereichen Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungswesen, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie Geschlechterfragen vornahm.
Im Rahmen seiner Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung (UPR-Prozess) sprach der UN-Menschenrechtsrat 287 Empfehlungen für Argentinien aus. Einige davon bezogen sich auf den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, das Notstandsgesetz für indigene Gemeinschaften und die anhaltende institutionelle Gewalt.
Der UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen empfahl die Einrichtung einer bundesweiten staatlichen Stelle zur Koordinierung der Suche nach vermissten Personen.
Der Kongress hat seit 2009 keine Ombudsperson mehr ernannt. Der Oberste Gerichtshof bestand ausschließlich aus Männern und wies seit 2021 eine unbesetzte Stelle auf.
Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt
Laut Angaben verschiedener NGOs wurden im Jahr 2023 insgesamt 308 geschlechtsspezifische Tötungen registriert, 62 Prozent davon im häuslichen Umfeld. Die jüngsten verfügbaren offiziellen Statistiken zeigten, dass die Zahl der Hassverbrechen aufgrund der Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung für das Jahr 2022 auf 129 angestiegen war.
Die laufenden Ermittlungen zum Verschwinden und möglichen Femizid an der 28-jährigen Cecilia Strzyzowski in der Stadt Resistencia in der Provinz Chaco hatten bis Ende 2023 nur zu mäßigen Ergebnissen geführt.
Im April 2023 wurde Sofía Inés Fernández, eine 40-jährige trans Frau, tot in der Zelle einer Polizeiwache in der Kleinstadt Presidente Derqui aufgefunden. Sie war zuvor wegen eines mutmaßlichen Raubüberfalls inhaftiert worden. Die Polizist*innen behaupteten, sie habe sich das Leben genommen, die vorläufige Autopsie ergab jedoch, dass die Todesursache Ersticken war. Bis zum Jahresende wurde niemand wegen ihres Todes angeklagt.
Im Oktober 2023 billigte der Kongress einen Gesetzentwurf, der Gewalt im digitalen Raum in die Definition von Gewalt gegen Frauen mit aufnahm. Der Gesetzentwurf sah bestimmte Schutzmaßnahmen vor, so z. B. die Befugnis für Richter*innen, Online-Plattformen anzuweisen, gewalttätige Inhalte zu entfernen.
Die Fälle zweier Journalistinnen, die wegen Drangsalierungen und Gewalt im Internet vor Gericht gegangen waren, wurden Ende 2023 noch verhandelt.
Zwischen 2020 und 2021 wurden 3.219 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch registriert. 74,2 Prozent der Opfer waren von einer Person aus ihrem nahen Umfeld missbraucht worden.
Sexuelle und reproduktive Rechte
Es bestanden weiterhin erhebliche Hindernisse beim Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, obwohl ein Gesetz aus dem Jahr 2020 den Eingriff innerhalb der ersten 14 Schwangerschaftswochen legalisiert hatte.Nach Angaben des nationalen Gesundheitsministeriums waren im öffentlichen Gesundheitssystem seit Verabschiedung des Gesetzes bis Oktober 2023 insgesamt 245.015 Schwangerschaftsabbrüche registriert worden. Über die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche im privaten Sektor lagen keine offiziellen Angaben vor, obwohl 57 Prozent der Bevölkerung private Gesundheitsdienste nutzen.
Nach den jüngsten verfügbaren offiziellen Daten aus dem Jahr 2023 brachten im Jahr 2021 mindestens 1.394 Jugendliche, die das 15. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, Kinder zur Welt. Obwohl von 2016 bis 2021 die Zahl der Schwangerschaften bei Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 19 Jahren zurückging, kamen im Jahr 2021 noch mehr als 46.236 Kinder zur Welt, deren Mütter dieser Altersgruppe angehörten.
Exzessive Gewaltanwendung
Im Mai 2023 machte der UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD) darauf aufmerksam, dass die Sicherheitskräfte nach wie vor aus rassistischen Motiven übermäßige Gewalt anwandten, insbesondere gegen indigene und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen sowie gegen Migrant*innen und Flüchtlinge.
Die Untersuchung im Fall von Mauro Coronel, der im Jahr 2020 in der Provinz Santiago del Estero in Polizeigewahrsam gefoltert wurde und starb, machte keine wesentlichen Fortschritte. Niemand wurde wegen seines Todes angeklagt.
Im August 2023 wurde einer der sechs Polizisten, die wegen der Tötung des 16-jährigen Joaquín Paredes vor Gericht standen, in Cruz del Eje in der Provinz Córdoba zu lebenslanger Haft verurteilt. Joaquín Paredes hatte während der Coronapandemie unter Verstoß gegen Lockdownvorschriften mit Freund*innen auf der Straße einen Geburtstag gefeiert, als die Polizei das Feuer auf die Gruppe eröffnete und ihn erschoss.
Recht auf Privatsphäre
Das Videoportal Tiktok, das im Jahr 2023 mehr als 16,5 Mio. Nutzer*innen in Argentinien hatte, schützte die Rechte von Kindern auf Privatsphäre und Gesundheit nicht auf angemessene Weise. Die Erhebung personenbezogener Daten durch die Social-Media-Plattform war als Standardeinstellung aktiviert, und Tiktok griff trotz fehlender Einwilligung der Nutzer*innen auf den Einsatz von Geolokalisierung zurück.
Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit
Berichten zufolge ging die Polizei mit exzessiver und rechtswidriger Gewalt gegen Personen vor, die an Protesten gegen die am 15. Juni 2023 verabschiedete Reform der Verfassung der Provinz Jujuy teilnahmen. Joel Paredes verlor sein rechtes Auge durch ein Gummigeschoss, das die Polizei von Jujuy eingesetzt hatte. Die Reform schränkte das Recht auf Protest ein und beschnitt die Rechte indigener Gemeinschaften auf Konsultation, Teilhabe und Besitz ihres angestammten Territoriums. Dutzende Demonstrierende wurden willkürlich festgenommen und kriminalisiert, darunter auch der Menschenrechtsanwalt Alberto Nallar, der u. a. wegen Aufwiegelung angeklagt wurde. Der Straftatbestand der Aufwiegelung wird rechtswidrig zur Kriminalisierung abweichender Meinungen eingesetzt.
Am 15. Dezember 2023 erließ das Sicherheitsministerium das "Protokoll zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Falle von Straßenblockaden" (Resolution 943/2023). In dem Protokoll wird jede Demonstration, die mit Straßenblockaden einhergeht, als "Verbrechen in flagranti" eingestuft. Dies befugt die Sicherheitskräfte, den Protestort zu räumen oder die Demonstration aufzulösen. Außerdem enthält das Protokoll Bestimmungen zur Sammlung von Informationen sowie zur Kriminalisierung und Stigmatisierung von Organisator*innen und Teilnehmer*innen öffentlicher Demonstrationen.
Straflosigkeit
Die Verfahren vor Zivilgerichten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unter der Militärregierung der Jahre 1976 bis 1983 begangen worden waren, wurden fortgesetzt. Zwischen 2006 und September 2023 ergingen 307 Urteile, womit die Gesamtzahl der Verurteilungen bei 1.159 und die der Freisprüche bei 178 lag.
Ende 2023 stand das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte noch aus, bei dem es um die Straflosigkeit im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum der Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) im Jahr 1994 in Buenos Aires ging
Recht auf eine gesunde Umwelt
Argentinien ergriff u. a. im Verkehrs- und im Bausektor Maßnahmen zur Senkung der Emissionen. Dennoch basierte die Energiestrategie des Landes in erster Linie auf fossilen Brennstoffen. Die damit einhergehenden hohen Emissionen verhinderten, dass das Land seine Klimaziele erreichte.