Amnesty Journal Syrien 26. Juli 2018

"Google hat alles möglich gemacht"

Ein Mann im Anzug steht in einem Gebäude mit ungewöhnlichen Formen im Hintergrund

Gründliche Recherchen. Eliot Higgins im Juni 2018 in Berlin.

Mit seinem Recherchenetzwerk Bellingcat ist der britische Blogger Eliot Higgins zu einem der bekanntesten digitalen Ermittler geworden. Unter anderem hat er Giftgasattacken in Syrien nachgewiesen – mithilfe von Open-Source-Material, das frei im Internet zur Verfügung steht.

Interview: Hannah El-Hitami

Was brachte Sie 2011 dazu, YouTube-Videos zu analysieren?

Ehrlich gesagt fing alles damit an, dass ich mich in Online-Foren herumstritt. Ich hatte damals einen Job bei einer Firma, die gerade ihren Hauptauftraggeber verloren hatte. Da ich noch für sechs Monate angestellt war, saß ich plötzlich in einem leeren Büro und hatte nichts zu tun. So verbrachte ich meine Zeit im Internet und postete Videos, zum Beispiel aus Libyen, bis mich eines Tages jemand fragte: Woher weißt du, wo das gefilmt wurde? Bisher hatte ich die Herkunft der Videos nie angezweifelt. Ich guckte also genauer hin und sah, dass dort eine Moschee neben einer Hauptstraße lag. Mithilfe von Google Earth konnte ich den genauen Ort bestimmen.

Und dann haben Sie einfach weitergemacht?

Genau. Ich fand es frustrierend, dass die traditionellen Medien soziale Medien als Quellen komplett ignorierten. Anfang 2012 begann ich, darüber zu bloggen – ohne jeden Anspruch, daraus eine menschenrechtsrelevante Arbeit zu machen. Ich fand es einfach spannend, die Videos anzugucken und zu vergleichen, wie sie mit den Nachrichten zusammenpassen. Mit der Zeit entwickelte ich neue Methoden und wollte das als ­Vollzeitjob machen.

Wie suchen Sie sich Ihre Recherchethemen aus?

Ich schaue mich in den sozialen Medien um. Vielleicht schreibt dort jemand etwas über einen Vorfall, den ich mir ­genauer ansehen möchte. Besonders spannend ist, wenn zwei unterschiedliche Versionen derselben Geschichte kursieren und wir herausfinden wollen, welche wahr ist. Zum Beispiel, als die Türkei im März behauptete, im nordsyrischen Afrin kein Krankenhaus bombardiert zu haben und dies mit einem Video belegen wollte, das wir als fehlerhaft identifizieren konnten.

Was ist der erste Schritt nach der Themenfindung?

Anfangs sammeln wir so viel Open-Source-Material wie möglich. Wir teilen den Prozess in drei Schritte ein: identifizieren, also das Material finden; verifizieren, das heißt herausfinden, wo und wann es entstanden ist; und publik machen, indem wir einen Bericht oder einen Tweet veröffentlichen.

Sie recherchieren viel zu Waffensystemen. Weshalb?

Als ich anfing, über Syrien zu bloggen, war einer meiner ers­ten Gedanken: Wo kommen die ganzen Waffen her? Ich wusste zwar nicht viel über Waffen, aber es gibt eine ganze Menge Informationen im Internet. Schon bald kontaktierten mich Waffenexperten, die daran interessiert waren, mit Open-Source-­Material zu arbeiten. So halfen wir uns gegenseitig. Man muss nur ganz genau hinsehen und die klitzekleinsten Bestandteile explodierter Bomben untersuchen, um herauszufinden, um welchen Bombentyp es sich handelt.

Wenn Sie das herausgefunden haben, wissen Sie aber noch nicht, wer sie abgeworfen hat.

Dafür arbeiten wir mit der Gruppe Sentry Syria zusammen, die den Flugverkehr über Syrien beobachtet. Wenn es zu einem Luftangriff kommt, der uns interessiert, fragen wir nach, welche Flugkörper sie an diesem bestimmten Tag in der Gegend gesehen haben – und von welcher Basis sie gestartet sind. Kurz vor einer Chlorgasattacke im April auf die östlich von Damaskus ­gelegene Stadt Duma etwa hatte Sentry Syria den Start zweier Helikopter in diese Richtung bestätigt, die nur von der Regierung genutzt werden. Und Chlorgas wird immer aus Hubschraubern abgeworfen.

Auf der Bellingcat-Website gibt es eine 18-seitige Liste mit Werkzeugen für Open-Source-Recherche. Was sind die wichtigs­ten?

Google Earth, Google Street View und die Google-Suche an sich sind essenzielle Werkzeuge für unsere Arbeit. Google hat Open-Source-Recherche eigentlich erst so richtig möglich gemacht.

Für Ihre Arbeit ist es praktisch, dass Google so viele Daten sammelt. Man kann das aber auch bedrohlich finden.

Das ist kein Google-spezifisches Problem. Mich beunruhigt eher die Entwicklung künstlicher Intelligenz. Bei dem Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine 2014 konnten wir allein durch die Analyse von Profilen in den sozialen Medien jeden einzelnen russischen Soldaten identifizieren, der daran beteiligt war. Das sind einfache Arbeitsschritte, aber Menschen brauchen dafür ein Jahr. Künstliche Intelligenz könnte solche Zusammenhänge in wenigen Tagen herstellen. Sie könnte jede einzelne Seite in den sozialen Medien innerhalb kürzester Zeit scannen und alle Informationen über jeden Soldaten der Welt sammeln. Doch was, wenn eine solche Technologie entwickelt wird und in die falschen Hände gerät? Was könnte man damit nicht alles anrichten! Ich sehe also eher eine Gefahr in der automatisierten Technologie, die zurzeit entwickelt wird und die auf solche Datenmengen zugreifen könnte.

Was bedeutet das für Ihre Nutzung sozialer Medien?

Ich halte mich da sehr zurück. Ich poste nichts über meine Familie. Ich nutze Twitter zwar sehr viel – hauptsächlich, um mit Leuten zu diskutieren –, aber wenn ich zum Beispiel heute in Berlin bin, dann schreibe ich nichts darüber und poste keine Bilder davon, bis ich den Ort wieder verlassen habe. Im Netz kursieren eine Menge Informationen über mich. Glücklicherweise sind darunter auch sehr viele Falschinformationen und Verschwörungstheorien. So entsteht eine Art Nebel um meine tatsächliche Person. Die Falschinformationen lenken die Spinner von meiner wahren Identität ab.

Was ist das Ziel Ihrer Recherche?

Beim Abschuss der MH17 haben wir eine Menge Material gesammelt, das nun Teil der offiziellen strafrechtlichen Ermittlungen ist. In dem Fall gibt es eine sehr aggressive Propagandakampagne seitens Russlands, das mit Falschinformationen versucht, die Ermittlungen zu diskreditieren. Es geht ja nicht nur um den strafrechtlichen Prozess, sondern auch darum, was die Gesellschaft darüber denkt. Durch unsere Recherche konnten wir dazu beitragen, dass weniger Zweifel an der Zuverlässigkeit der Ermittlungen bestanden.

Sie sehen sich sehr viel Videomaterial aus Kriegsgebieten an. Was macht das psychisch mit Ihnen?

Schwer zu sagen, denn vielleicht hat es einen Einfluss auf mich, ohne dass ich es merke. Ich habe keine Albträume oder ein offensichtliches Trauma. Ich denke aber, es ist wichtig, dass man darüber spricht. Bei den Saringas-Angriffen im syrischen Khan Sheikhoun haben wir mit 200 Videos gearbeitet. Viele zeigten schreckliche Bilder von Kindern, die an dem Saringas ­erstickten. Und wir mussten genau hinsehen, um zu erkennen, wie viele Kinder betroffen sind und welche Symptome sie haben. Das war wirklich hart. Wenn man dann sieht, wie auf Twitter behauptet wird, die Angriffe hätten gar nicht stattgefunden, ist das schwer zu ertragen. 

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