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Zorn und Schönheit
Sie ist Fotografin, Filmemacherin und hat bei den Salzburger Festspielen inszeniert: Multitalent Shirin Neshat ist die bekannteste iranische Exilkünstlerin. Seit Jahrzehnten setzt sie sich für Frauenrechte und Demokratie in ihrer alten Heimat ein. Mit starken Bildern.
Von Cornelia Wegerhoff
Die Aussicht sorgte weltweit für Schlagzeilen: Vor der Skyline von New York, auf Roosevelt Island, "blickt" Ende November plötzlich ein überdimensionales Auge von einer Freitreppe. Es ist in Schwarz-Weiß auf zwei Dutzend Stufen aufgemalt, meterlang die Wimpernreihe und der schwarze Lidstrich. Das Augenweiß rund um Pupille und Iris ist kreisförmig mit Kalligrafie geschmückt, Gedichtzitate auf Farsi. Besonders die Luftaufnahmen sind spektakulär, denn aus der Vogelperspektive ist auch das Hauptquartier der Vereinten Nationen zu erkennen, direkt am gegenüberliegenden Ufer des East River. An die UN richtet sich die Forderung der Protestaktion: "Eyes on Iran!" Zehn Künstler*innen zeigten dafür bis Januar auf Roosevelt Island ihre Werke. Das riesige Auge war eine Installation von Shirin Neshat.
Solidarisch mit den Protestierenden
Die Weltgemeinschaft könne das brutale Vorgehen der Mullahs gegen das iranische Volk nicht weiter hinnehmen, fordert die iranische Exilkünstlerin. Die Fotografin und Filmemacherin setzt sich seit Jahrzehnten für Demokratie und Frauenrechte in ihrer alten Heimat ein. Das Auge ist ihr eigenes, zu Beginn der 1990er selbst fotografiert. "Unveiling", "Enthüllung", so der Titel dieser ersten Fotoserien, mit denen Neshat schon damals die Rolle des Schleiers hinterfragte. Auch Jina Mahsa Amini, deren Tod in Teheran Mitte September 2022 Auslöser der aktuellen Proteste war, soll bei ihrer Festnahme laut Sittenpolizei nicht ausreichend verhüllt gewesen sein. "Eine unschuldige junge Frau hat ihr Leben verloren – nur wegen ein paar Haaren", sagt Shirin Neshat. Die Künstlerin zeigte sich von Beginn an mit den jungen Demonstrierenden solidarisch. Im Oktober auch in Berlin, mit einer "Intervention" an der Fassade der Neuen Nationalgalerie.
1957 geboren, wuchs Shirin Neshat noch zu Zeiten des Schahs von Persien auf, in einem weltoffenen, liberalen Elternhaus. 1979, im Jahr der islamischen Revolution, ermöglichte ihr der Vater, ein angesehener Arzt, ein Kunststudium in den USA. Erst 1990, ein Jahr nach dem Tod des Revolutionsführers Ajatollah Chomeini, kehrte sie zurück. Es blieb bei wenigen Besuchen. Der radikale Wandel im Iran seit der Machtübernahme der Mullahs schockierte sie.
Ikonisch ist Shirin Neshats Selbstporträt 1993: Im schwarzen Tschador posiert sie für die Fotoserie "Women of Allah" mit einem Gewehrlauf vor dem Gesicht. Der weibliche Körper sei im Iran zum "Schlachtfeld der männlichen Rhetorik geworden, politisch, ideologisch und religiös", erklärt sie ihr Werk. Aber der schöne weibliche Körper bleibe eine "Quelle der Kraft". Mit den paradox-provokativen Fotos gelang Neshat der internationale Durchbruch. Es folgten Videoarbeiten, dann Filme. Ihre verschiedenen Auszeichnungen belegen Shirin Neshats Multitalent. 1999 erhielt die Künstlerin, die mittlerweile die US-Staatsbürgerschaft angenommen hatte, den Goldenen Löwen bei der Kunst-Biennale in Venedig. 2009 wurde sie dort bei den Filmfestspielen mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie geehrt. Ihr Spielfilm "Women without Men" ist ein Drama rund um iranische Frauen zur Zeit des Militärputsches 1953.
Oper und surrealer Roadtrip
Shirin Neshat, eine schmale Person mit leiser Stimme, schont sich nicht im Exil. Und gleichzeitig blickt sie mit einer Art Stolz auf alle, die geblieben sind: "Die Frauen im Iran, die ein so tragisches, schweres Leben erdulden müssen, sind dadurch gleichzeitig zu den stärksten und mutigsten Menschen auf der Erde geworden", sagt sie im persönlichen Gespräch.
2017 und 2022 inszenierte Shirin Neshat bei den Salzburger Festspielen die Verdi-Oper "Aida" mit der ihr eigenen visuellen Ästhetik. Unterdrückung und Gewalt waren auch dort ihr Thema. Ihr aktueller Film "Land of Dreams", besetzt mit Stars wie Matt Dillon und Isabella Rossellini, funktioniert optisch ähnlich, überrascht aber auch mit Humor. Der surreale Roadtrip durch die USA ist eine Satire. Der Zensus einer fiktiven Regierung dokumentiert den Inhalt von Träumen, um auch diese zu kontrollieren. Der Hintergrund ist ernst: Sie habe nicht vergessen, sagt Shirin Neshat, wie es sich anfühle, wenn ein reales autoritäres Regime versuche, seine Bürger*innen vollständig zu überwachen.
Seit Ende Januar zeigt die New Yorker Gladstone Gallery die Ausstellung "The Fury", in der Neshat an frühere Schwarz-Weiß-Fotografien anknüpft. Zu sehen sind zum Beispiel fünf Frauen im Ganzkörper-Porträt, alle verschieden, alle nackt. Sie sind entspannt, fühlen sich wohl in ihrer Haut. "Der Körper ist schön, unabhängig vom Alter, der Kleidergröße, dem Geschlecht", sagt Shirin Neshat. Sie könne keine künstlerische Arbeit erstellen, bei der diese Schönheit und die Würde des Menschen nicht im Fokus stünden.
"Die vermeintlich frommen Mullahs verüben brutalste Gewalt"
Aber die Schau heißt nicht umsonst "The Fury": Auf anderen Fotos bringen die Porträtierten Schmerz, Angst und Verzweiflung zum Ausdruck. "Stellvertretend für die Tausende von Frauen, die aus politischen Gründen in den iranischen Gefängnissen sind und waren", erklärt die 65-Jährige. Viele erholten sich mental nie wieder von diesem Trauma und begingen nach ihrer Freilassung Suizid. Ausstellungsbesucher*innen können mithilfe einer Videoinstallation die fiktionale Gefühlsreise einer jungen iranischen Frau miterleben, die im Gefängnis gefoltert und vergewaltigt wurde. Lange versucht sie, ihre Wut zu verdrängen, bis sie aus ihr herausbricht.
Die Arbeiten für "The Fury" entstanden im Juni 2022, drei Monate vor Beginn der Massenproteste im Iran. Eine bittere Ironie, stellt Neshat fest. Die Wirklichkeit habe sämtliche Vorstellungen überholt: Seit Beginn der Proteste im September wurden mehr als 20.000 Menschen inhaftiert, mehr als 500 getötet. "Wunderbare, mutige politische Aktivisten" seien hingerichtet worden, sagt Shirin Neshat, einzig und allein um den Rest der Bevölkerung davon abzuhalten, ebenfalls auf die Straße zu gehen. Besonders paradox sei, dass die vermeintlich frommen Mullahs die brutalste Gewalt verübten.
"Wir befinden uns jetzt in einer schwierigen Phase", stellt die Künstlerin fest. Die Euphorie der ersten Monate sei gedämpft durch tiefe Trauer. Viele Irane-r*innen fühlten sich hilflos, wie paralysiert. Aber der Protest sei nicht vorbei, es gebe auch andere Formen, Streik zum Beispiel. Die Iraner*innen müssten jetzt zusammenstehen. "Viele sagen: Legt eure Differenzen zur Seite", berichtet Neshat. Das Hauptziel sei doch, "diese schreckliche Regierung zu beseitigen und dann eine Form der Demokratie zu finden".
Einige Fotografien in "The Fury" hat die Exilkünstlerin wieder mit handgemalter Kalligrafie ergänzt. Es sind Zitate aus den Gedichten der 1967 verstorbenen iranischen Dichterin Forugh Farrochzad. Bereits deren Worte beschrieben einst das Dilemma der iranischen Frauen: "Mein Körper ist der Schrei der Schönheit", heißt es einerseits. Aber auch: "So oft kam der Frühling, aber ich blühte nicht auf." Shirin Neshat hat diese traurige Erkenntnis in schön geschwungenen Lettern auf die Brust einer iranischen Frau geschrieben.
Cornelia Wegerhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.