Corona und der digitale Schub

Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.
© Bernd Hartung
Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion, über die Gestaltung digitaler Räume in Zeiten der Pandemie.
"Tötet die Kakerlaken nicht mit einer Kugel. Hackt sie in Stücke." Mit diesen Worten forderte der ruandische Radiosender "RTLM" 1994 seine Hörer auf, Angehörige der Tutsi – ob Männer, Frauen oder Kinder – zu massakrieren. Innerhalb von 100 Tagen wurden bis zu eine Million Menschen auf grausame Weise ermordet, unter den Augen der Weltgemeinschaft, die nicht eingriff, was den damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan Zeit seines Lebens nicht mehr losließ.
Alltägliche Drohungen und Hetze
Die Hetze des ruandischen Völkermordes und die Hasspropaganda der Nazis sind uns heute Mahnung beim Blick auf alltägliche Hetze und Drohungen in vielen Ländern – egal ob sie sich gegen die offene und vielfältige Gesellschaft richten, gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen oder gezielt gegen Einzelpersonen.
Selbst überzeugten Social-Media-Jüngern im Silicon Valley dämmert inzwischen, dass sich etwas ändern muss, wenn "soziale Netzwerke" unser öffentlich-digitaler Marktplatz sein sollen, dass Rechtsprinzipien auch im digitalen Raum verbindlich sein müssen. Die Beteiligung zahlreicher Unternehmen an der "Stop Hate for Profit"-Kampagne kann vielleicht das Bewusstsein befördern. Sie wollen keine Anzeigen mehr auf Facebook schalten, so lange das Online-Netzwerk "Hate Speech" duldet.
Gestaltung in die Hand nehmen
Corona ist ein guter Anlass, um die Gestaltung der digitalen "öffentlichen" Räume in die Hand zu nehmen. Die Pandemie hat die Digitalisierung auf vielfältige Weise beschleunigt. Videokonferenzen, Streamingdienste und andere digitale Angebote sind für viele von uns inzwischen Teil des neuen, möglichst kontaktlosen Pandemie-Alltags geworden. Mit dem bitteren Beigeschmack, dass wir uns bei diesen Diensten nicht auf Transparenz, rechtstaatliche Kontrolle und Persönlichkeitsschutz verlassen können. Dies gilt oftmals auch für staatliche Initiativen in zahlreichen Ländern – von Corona-Apps bis hin zu Systemen, die mithilfe von Google, Palantir und anderen Tech-Konzernen in die Gesundheitsvorsorge (und deren Datenpool) vordringen wollen.
Wir tun gut daran, grundlegende Prinzipien wie Transparenz und unabhängige Kontrolle sowie einen verbindlichen rechtlichen Rahmen für diesen digitalen Innovationsschub einzufordern. Wir brauchen eine digitale Infrastruktur, die nicht allein wirtschaftlichen Interessen folgt. Wir brauchen eine Regulierung neuer Technologien wie Künstlicher Intelligenz oder Gesichtserkennung in kritischen Anwendungsgebieten – Amnesty fordert beispielsweise ein Verbot von sogenannten Killer-Robotern. Wir sollten die Corona-Konjunkturprogramme als Gelegenheit begreifen, Menschen und Gesellschaften weltweit digitale Angebote zu machen, mit denen sie sich weder dem Ausverkauf ihrer Daten an Google & Co. noch repressiven staatlichen Kontrollsystemen ausliefern müssen.
Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.