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Ukraine/Polen: Frauen und Kinder sind auf der Flucht nur unzureichend geschützt
Am Bahnhof der polnischen Kleinstadt Przemysl kommen weiterhin jeden Tag Tausende mit Zügen geflüchtete Menschen aus der Ukraine an (21. März 2022).
© IMAGO / Reichwein
++ Dieser Artikel wurde am 22. März 2022 um 14:33 Uhr mit einer deutschen Übersetzung aktualisiert. ++
Ein Recherche-Team von Amnesty International hat in Polen die Lage geflüchteter Menschen aus der Ukraine untersucht. Ihr Fazit: Die Situation ist chaotisch und gefährlich für vulnerable Gruppen wie Frauen, Kinder und Minderjährige, die alleine unterwegs sind. Hinzu kommen zahlreiche Berichte über rassistisches Verhalten gegenüber Geflüchteten. "Alle Menschen, die aus der Ukraine fliehen, müssen die Möglichkeit haben – unabhängig von ihrem Pass – in Europa in Ruhe anzukommen und sich neu zu orientieren", erklärt Franziska Vilmar, Expertin für Asylpolitik bei Amnesty International in Deutschland.
Europa erlebt nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine die größte Fluchtbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Polen hat bisher die meisten der vor dem Krieg geflohenen Menschen aufgenommen und steht nun in der Verantwortung, deren Versorgung nicht mehr nur freiwilligen Helfer_innen zu überlassen.
"Nach der bisherigen überwältigenden privaten Unterstützung in Polen für Geflüchtete aus der Ukraine fordert Amnesty International die polnische Regierung auf, jetzt schnell staatliche Strukturen zu schaffen, um die Menschen über ihr Aufenthaltsrecht zu informieren und angemessen in Polen unterzubringen", sagt Amnesty-Expertin Franziska Vilmar.
Die lebensrettende Hilfe, die Nichtregierungsorganisationen und Freiwillige jetzt für Menschen auf der Flucht aus der Ukraine leisten, wurde zuvor an der Grenze zu Belarus behindert und kriminalisiert. Die Hauptverantwortung liegt dabei grösstenteils bei ganz gewöhnlichen Leuten, Nichtregierungsorganisationen und Kommunen, was zu enormen Herausforderungen führt, wie eine zehntägige Recherchereise von Amnesty International in Polen verdeutlicht.
"Die von den Freiwilligen in Polen gezeigte Solidarität ist bemerkenswert, aber ohne die Übernahme von Verantwortung durch die zentralen Behörden und ohne abgestimmte Massnahmen besteht die Gefahr, dass schutz- und hilfsbedürftige Menschen durch die Maschen fallen. Die Menschen, die aus der Ukraine fliehen, brauchen dringend verlässliche Informationen über Unterkünfte, Transportmöglichkeiten und ihren rechtlichen Status. Ohne Koordination besteht die Gefahr, dass ihnen diese elementaren Dinge vorenthalten und sie von Kriminellen belästigt oder ausgebeutet werden. Die polnische Regierung muss jetzt handeln, um diese Herausforderungen zu bewältigen und die Menschen in Sicherheit zu bringen", sagte Nils Muižnieks, Regionaldirektor für Europa bei Amnesty International.
Fehlende Informationen für Flüchtende
Tausende Freiwillige haben den Menschen an der polnischen Grenze zur Ukraine und in den Bahnhöfen Hilfe geleistet. Dazu gehörten Lebensmittelspenden, Unterkünfte, Übersetzungshilfe und das Angebot eines kostenlosen Transports in andere europäische Länder. An allen Orten, die Amnesty International besuchte, waren die Freiwilligen weitaus sichtbarer und aktiver als die staatlichen Behörden, auch bei den Aufnahmestellen in unmittelbarer Nähe von Medyka, dem wichtigsten Grenzübergang für Menschen, die aus der Ukraine fliehen, und Korczowa (Hala Kijowska), sowie in Aufnahmezentren und Bahnhöfen in Przemysl und Warschau.
Die Unterstützung von Geflüchteten kann jedoch nicht langfristig Freiwilligen übertragen werden. Die polnische Regierung muss schnell handeln, um eine ordnungsgemässe Registrierung, eine längerfristige Unterbringung, psychosoziale Unterstützung, Transport und andere Hilfe zu gewährleisten.
Trotz der lobenswerten Bemühungen der Freiwilligen gibt es nach wie vor kritische Lücken, unter anderem bei der Bereitstellung von Informationen über den rechtlichen Status der Betroffenen. Das Fehlen solcher Informationen führt zu erheblichen Ängsten, insbesondere bei nicht-ukrainischen Staatsangehörigen. Die Behörden sollten alle Menschen, die aus der Ukraine fliehen, über ihren rechtlichen Status in Polen oder die Möglichkeit, legal in andere EU-Länder zu reisen, informieren.
"Viele nicht-ukrainische Menschen, einschliesslich derjenigen, die internationalen Schutz benötigen, sind sich über ihren Status in Polen nicht sicher. Alle, die vor dem Konflikt fliehen, müssen mit Menschlichkeit behandelt werden und die Möglichkeit haben, ihr Leben weiterzuleben, unabhängig von ihrem Pass", sagte Nils Muižnieks.
Schutz vor Verbrechen und Gewalt nötig
Mangels staatlicher Intervention sind Menschen, die aus der Ukraine fliehen, auch Gewalt und Menschenhandel ausgesetzt. Amnesty International besuchte mehrere temporäre Aufnahmeeinrichtungen, unter anderem in Przemysl ("Tesco-Zentrum") und Korczowa (Hala Kijowska), nahe der Grenze zur Ukraine. Diese Einrichtungen waren darauf ausgerichtet, den Weitertransport so schnell wie möglich zu ermöglichen, wobei man sich häufig auf Privatpersonen verliess, die einen solchen Transport und/oder eine Unterkunft anboten. Die freiwilligen Helfer_innen haben sich bemüht, Neuankommende zu registrieren. Doch ohne formelle Verfahren zur Registrierung und Nachverfolgung sind die aus der Ukraine geflohenen Erwachsene und Kinder – insbesondere diejenigen, die weder Polnisch noch Englisch sprechen – potenziell dem Risiko des Missbrauchs durch kriminelle Personen oder Banden ausgesetzt, die die chaotische Situation ausnutzen wollen.
Die Delegation von Amnesty International konnte direkt beobachten, wie Menschen nach ihrer Ankunft in Polen wahllos Unterstützungsangebote von vermeintlichen "Helfer_innen" annahmen. Besonders besorgniserregend sind neue Berichte über geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen. So soll die Breslauer Polizei einen 49-jährigen polnischen Mann verhaftet haben, der eine ukrainische Frau sexuell missbraucht haben soll, nachdem er ihr einen Schlafplatz in seiner Wohnung angeboten hatte.
Polnische Menschenrechtsorganisationen erhielten weitere Berichte über Fälle sexualisierter Gewalt, die jedoch vertraulich bleiben. Die Organisationen sind besorgt, dass Menschen, die aus der Ukraine fliehen, darunter auch unbegleitete Kinder, Opfer von Menschenhandel werden könnten. "Kinder kommen aus der Ukraine nach Polen, aber die Behörden registrieren nicht, wo sie untergebracht werden. In einigen Fällen werden sie von den Eltern zu Verwandten in Polen geschickt. In einem Fall reiste eine 11-Jährige mit ihrem Onkel, doch der wurde an der Grenze aufgehalten. Also reiste sie allein weiter", sagte Irena Dawid-Olczyk, Vorsitzende der NGO La Strada. Karolina Wierzbińska von Homo Faber berichtete der Polizei, dass eine Frau Frauen und Kinder ansprach, die am Bahnhof von Lublin ankamen, und ihnen Geld anbot, wenn sie ihr ihre Pässe aushändigten. Mitarbeiter_innen ihrer Organisation hätten auch beobachtet, dass Männer in Lublin aggressiv auf Frauen zugehen, die aus der Ukraine kommen, und ihnen Transport und Unterkunft anbieten.
Amnesty International fordert die Einführung eines standardisierten, institutionellen Registrierungssystems für den Aufenthaltsort, die Familienzusammensetzung und das Reiseziel der Flüchtenden sowie für die Identität der Personen, die ihnen Transport oder Unterkunft anbieten.
Diskriminierung auf der Flucht
Das ukrainische Kriegsrecht verbietet es Männern zwischen 18 und 60 Jahren, das Land zu verlassen. Bei den Menschen, die die Ukraine verlassen, handelt es sich daher überwiegend um Frauen und Kinder. Das Ausreiseverbot hat besonders problematische Auswirkungen auf Männer mit Behinderung und Männer, die die alleinige Verantwortung für ihre Kinder tragen. Einigen Männern mit Behinderung, die im Besitz entsprechender Dokumente sind, wurde die Ausreise gestattet. Doch dies ist nicht immer der Fall.
"Mein Sohn hat in einem früheren Konfliktgebiet einen Arm und sein Gehör verloren. Wir waren mit ihm und meinem Mann im selben Auto, aber die ukrainischen Grenzbeamten liessen nur Frauen durch. Mein Sohn ist offiziell als Kriegsversehrter anerkannt, er kann nicht arbeiten, und trotzdem haben sie ihn nicht durchgelassen", erzählt Sofia, eine Friseurin aus Dnipro. Sie und zwei Frauen, die mit ihr reisten, berichteten von vielen anderen Männern, die von ukrainischen Grenzbeamten aufgehalten wurden. "Ein Mann reiste mit seinen beiden Kindern, vielleicht fünf und ein Jahr alt, und wurde zurückgewiesen. Es sah so aus, als ob er keine Frau hätte, vielleicht war er Witwer. Die ukrainischen Grenzbeamten sagten, sie [die Grenzbeamten] könnten die Kinder mitnehmen, aber nicht ihn."
Amnesty International sprach mit 27 nicht-ukrainischen Staatsangehörigen, die nach der russischen Invasion aus der Ukraine geflohen waren, darunter viele internationale Studierende und Menschen, die seit bis zu 20 Jahren in der Ukraine lebten. Menschen mit Rassismuserfahrung, insbesondere Schwarze Menschen, berichteten von Diskriminierung und Gewalt durch die ukrainischen Streitkräfte, während sie versuchten, das Land zu verlassen. Viele berichteten von diskriminierender Behandlung beim Einsteigen in Züge oder Busse und an den Grenzkontrollstellen, einige auch von körperlichen und verbalen Übergriffen durch ukrainische Sicherheitskräfte und Freiwillige.
Menschen mit Migrationshintergrund aus mehreren Ländern Afrikas, des Nahen Ostens und Südasiens berichteten, wie ukrainische Streitkräfte und andere Helfer_innen sie wiederholt daran hinderten, im Bahnhof von Lviv in Züge nach Polen einzusteigen. Es wurde ihnen gesagt, dass Frauen und Kinder Vorrang haben müssten, aber auch afrikanische und südasiatische Frauen durften Berichten zufolge in einigen Fällen nicht in die Züge einsteigen.
"Manche werden rassistisch behandelt, andere nicht, das hängt von der Hautfarbe und dem Geschlecht ab", sagte Bilal, ein 24-jähriger Student aus Pakistan. "Mein Freund, der Schwarz ist, war mit Rassismus konfrontiert... Wenn man weiße Ukrainer_in ist, kommt man leicht über die Grenze, wenn nicht, dauert es lange. Die Grenzbeamten haben meinen Freund mit einem Stock geschlagen, er wurde verletzt."
Während Polen und andere europäische Länder ihre Grenzen für Menschen aus der Ukraine geöffnet haben, hat Polen bei der Behandlung von Menschen, die aus anderen Konfliktgebieten kommen, eine schlechte Bilanz vorzuweisen. Zahlreiche Ausländer_innen sind bereits Opfer von Hass und Gewalt geworden, wie ein Angriff in Przemysl am 1. März zeigte, als eine Gruppe nationalistischer Männer drei indische Studierende angriff, die gerade aus der Ukraine gekommen waren.
"Die polnischen Behörden müssen sicherstellen, dass alle Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, mit dem gleichen Respekt behandelt werden, und ihre Menschenrechte und ihre Würde geschützt sind. Rassismus, Hassreden und Angriffe dürfen nicht toleriert werden und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden", sagte Nils Muižnieks von Amnesty International.
Lies hier auf pro-asyl.de auch die von Amnesty International, Brot für die Welt, Pro Asyl u.a. gemeinsame Forderung zur Schaffung von Perspektiven für international Studierende auf der Flucht aus der Ukraine.