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Usbekistan 2022
© Amnesty International
Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022
Die Sicherheitskräfte setzten unverhältnismäßige Gewalt ein, um überwiegend friedliche Proteste in der Republik Karakalpakistan zu unterdrücken. 22 vermeintliche Organisator*innen der Proteste wurden wegen politisch motivierter Vorwürfe in einem unfairen Verfahren vor Gericht gestellt. Gesetzesreformen sorgten für eine bessere Einbindung der Zivilgesellschaft in die öffentliche Politik, doch die Wahrnehmung der Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit unterlag nach wie vor strenger Kontrolle. Diskriminierende Geschlechterstereotype beeinträchtigten den Zugang von Frauen und Mädchen sowie lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LGBTI+) zu Schutz vor Gewalt und zur Justiz. Einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Männern blieben strafbar.
Hintergrund
Unter den im Juni 2022 vorgeschlagenen Verfassungsänderungen befand sich auch ein Vorschlag, der Karakalpakistan seiner Autonomie innerhalb Usbekistans berauben würde. Dies löste in ganz Karakalpakistan beispiellose öffentliche Massenproteste aus, zu denen sich Zehntausende Menschen am 1. Juli friedlich im Zentrum von Nukus, der Hauptstadt der Region, versammelten. Als Sicherheitskräfte die Protestveranstaltung auflösten, wurden Hunderte Menschen verletzt und mindestens 21 getötet, darunter vier Polizisten. Die Verfassungsänderung wurde anschließend zurückgezogen. 22 vermeintliche Organisator*innen der Proteste mussten sich ab dem 28. November 2022 in der Stadt Buchara außerhalb von Karakalpakistan wegen politisch motivierter Anklagen verantworten.
Exzessive Gewaltanwendung
Im November 2022 von der NGO Human Rights Watch veröffentlichte Recherchen unterstützten die Angaben von Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen, wonach die Sicherheitskräfte exzessive Gewalt und "ungerechtfertigte tödliche Gewalt" angewandt hatten, um die überwiegend friedlich Protestierenden in Nukus und anderen Orten in Karakalpakistan auseinanderzutreiben. Human Rights Watch legte Nachweise für "den Einsatz von Handfeuerwaffen und verschiedenen Granaten" vor – "Waffen, die zu schweren Verletzungen und Tod führen können, wenn sie unverantwortlich eingesetzt werden". Von unabhängigen Expert*innen überprüfte Videoaufnahmen zeigten Protestierende mit schweren Verletzungen wie etwa Schnitt- und Fleischwunden, wie sie von Sprengkörpern wie Granaten verursacht werden können. Hunderte Protestierende wurden willkürlich inhaftiert. Viele von ihnen wurden ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten und waren Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt.
Nach einer Anfrage des im Juli 2022 eingerichteten parlamentarischen Ermittlungsausschusses bestätigte der Generalstaatsanwalt im Dezember, dass zu den Berichten über den exzessiven Einsatz von Gewalt separate Ermittlungen eingeleitet worden waren.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Gesetzesreformen sahen eine umfassendere Anhörung der Öffentlichkeit in Bezug auf gesetzgeberische, politische und soziale Reformen sowie einen engeren Austausch zwischen der Regierung und zivilgesellschaftlichen Organisationen vor. Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung blieben jedoch auch 2022 bestehen. Der Entwurf für ein Informationsgesetz schlug vor, Informationen zu regulieren, die "kränkend" oder "respektlos gegenüber der Gesellschaft und dem Staat" sind. Personen, die sich kritisch äußerten, vor allem Blogger*innen, waren nach wie vor mit Strafverfolgung, Geldbußen und Haftstrafen konfrontiert. Medienunternehmen übten sich weiter in Selbstzensur.
Nach den Massenprotesten in Karakalpakistan kontrollierten die Behörden faktisch den Zugang zu Informationen und nahmen karakalpakische Blogger*innen und Journalist*innen ins Visier, die auf ihren Medienplattformen die Verfassungsänderungen kritisiert oder an den Protesten teilgenommen hatten.
Die unabhängige karakalpakische Journalistin Lolagul Kallykhanova wurde im Juli 2022 in der Hauptstadt Taschkent festgenommen und bis zum Beginn des Gruppenverfahrens gegen die mutmaßlichen Protestorganisator*innen im November in Buchara ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Unterstützer*innen gaben an, dass man die Journalistin gefoltert habe, um sie zu dem "Geständnis" zu zwingen, den gewaltsamen Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung geplant zu haben.
Die Behörden beschuldigten den Anwalt und früheren Zeitungsredakteur Daulatemurat Tazhimuratov, Anführer einer karakalpakischen "Separatistengruppe" zu sein. Er habe die Proteste in Absprache mit im Ausland ansässigen "Agenten" organisiert, um die Macht an sich zu reißen. Am 1. Juli 2022 in Nukus aufgezeichnetes Videomaterial zeigte, wie er die versammelten Menschen ermahnte, auf Gewalt zu verzichten. Daulatemurat Tazhimuratov wurde am 2. Juli festgenommen und in der nordwestlichen Region Choresm ohne Kontakt zur Außenwelt in Untersuchungshaft gehalten. Er gab vor Gericht an, in der Haft gefoltert worden zu sein.
Recht auf Vereinigungsfreiheit
Im November 2022 appellierte ein Zusammenschluss aus NGOs und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen an die Regierung, eine Verordnung zurückzunehmen, unter der NGOs von der Regierung ernannte "nationale Partner" haben müssen, um Projekte zu koordinieren und Finanzhilfen aus dem Ausland annehmen zu können. Die Organisationen äußerten sich besorgt darüber, dass die im Juni 2022 ohne vorherige öffentliche Anhörung verabschiedete Verordnung zusätzliche und übermäßige bürokratische Anforderungen an das ohnehin bereits mühsame Verfahren für die Bewilligung von Geldmitteln aus dem Ausland stelle.
Diskriminierung
Aufgrund der herrschenden Geschlechterstereotypen und der Betonung diskriminierender traditioneller Familienwerte und kultureller Normen hatten Frauen, Mädchen und LGBTI+ nach wie vor Schwierigkeiten bei der Durchsetzung ihrer Rechte.
Im August 2022 schlug das Innenministerium ein neues Gesetz vor, durch das die Polizei befugt wäre, "gefährliche Personengruppen" einem obligatorischen Test auf sexuell übertragbare Infektionen zu unterziehen. In diese Kategorie fielen Sexarbeiter*innen sowie Männer, die Sex mit Männern haben, und Personen, die Drogen nehmen.
Am 11. November verhängte ein Gericht in Taschkent fünf Tage Verwaltungshaft gegen die Bloggerin Sevinch Sadullayeva, weil sie Videos und Fotos gepostet hatte, in denen sie nach Ansicht der Behörden gegen gesellschaftliche und kulturelle Verhaltens- und Kleidungsnormen für Frauen verstieß. Sie wurde einen Tag früher freigelassen, nachdem sie versprochen hatte, sämtliches Material zu löschen.
Geschlechtsspezifische Gewalt
Die Behörden räumten ein, dass Gewalt gegen Frauen, darunter auch häusliche Gewalt, nach wie vor weit verbreitet war. Sie beteuerten jedoch, dass ein besserer Zugang von Frauen zur Justiz und zu Schutzeinrichtungen zu den politischen Prioritäten zähle.
Ein Präsidialdekret über die beschleunigte Bereitstellung von "systemischer Unterstützung für Familien und Frauen" sollte vorgeblich für den "Schutz der Rechte und der legitimen Interessen von Frauen" sorgen. In Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt wurde dabei jedoch statt auf eine Strafverfolgung der Verantwortlichen auf innerfamiliäre Mediation und Versöhnung gesetzt. Dies geschah trotz einer gegenteiligen Empfehlung des UN-Ausschusses zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau im März 2022.
Ebenfalls im März empfahl der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) den Behörden, die Verabschiedung des Gesetzentwurfs über häusliche Gewalt zu beschleunigen, bis Dezember gab es dahingehend jedoch keine Fortschritte.
Das Innenministerium erklärte, dass es bis Oktober 2022 Schutzanordnungen für 32.783 Frauen und Mädchen erlassen habe, die Gewalt ausgesetzt waren. Frauenrechtler*innen merkten an, dass die erfassten Zahlen nur einen Bruchteil aller Fälle darstellten, da Scham und Angst vor Vergeltung viele Frauen davon abhielten, Misshandlungen anzuzeigen.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)
Etwa 30 Männer blieben wegen einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen inhaftiert. Der CESCR drängte die Behörden, solche Beziehungen straffrei zu stellen und zeigte sich weiter tief besorgt über "das Ausmaß der Einschüchterung, Schikane, Gewalt und Stigmatisierung von LGBTI+". Im Dezember 2022 schlugen die Behörden vor, die Förderung von "unnatürlichen gleichgeschlechtlichen Beziehungen" zu verbieten.
Klimakrise
Das dramatische Schrumpfen des Aralsees hatte nach wie vor für Millionen Menschen gravierende ökologische, soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Auswirkungen. Die Behörden versuchten, die Folgen des Klimawandels durch groß angelegte Umweltprojekte abzumildern, knüpften den Klimaschutz jedoch an das Wirtschaftswachstum. Im März 2022 berichtete der CESCR, dass Usbekistan "unzureichende Anpassungsmaßnahmen" ergriffen habe, "um die Auswirkungen des Klimawandels auf die Bevölkerung anzugehen". Aktivist*innen zeigten sich weiter besorgt über das Ausbleiben wirksamer Konsultationen mit denjenigen, die am schwersten vom Klimawandel betroffen sind.