Amnesty Report Bosnien und Herzegowina 24. April 2024

Bosnien und Herzegowina 2023

Im Vordergrund rote Damenschuhe, dahinter Menschen mit Plakaten

Protest gegen häusliche Gewalt und die Ermordung von Frauen in Bosnien-Herzegowina in der serbischen Stadt Novi Sad am 21. August 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Neue Gesetze drohten die Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung in der serbischen Teilrepublik (Republika Srpska) weiter zu untergraben. Tausende Migrant*innen saßen nach wie vor im Land fest. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) waren tätlichen Angriffen sowie diskriminierenden Äußerungen im Internet ausgesetzt. Nach der Live-Übertragung der Ermordung einer Frau durch ihren Partner in den Sozialen Medien kam es landesweit zu Protesten. Die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen machte nur langsam Fortschritte. Die starke Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen sorgte für eine besorgniserregend hohe Luftverschmutzung.

Hintergrund

Bosnien und Herzegowina befand sich nach wie vor in einer politischen Krise. Die Behörden der serbischen Teilrepublik (Republika Srpska) verabschiedeten Gesetze, die die verfassungsmäßige Ordnung von Bosnien und Herzegowina gefährdeten. Darunter befand sich ein Gesetz, mit dem die Entscheidungen des Verfassungsgerichts von Bosnien und Herzegowina in der Republika Srpska ausgesetzt wurden. Einem weiteren Gesetz zufolge sollten Entscheidungen des Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen für Bosnien und Herzegowina nicht mehr im Amtsblatt veröffentlicht werden, um zu verhindern, dass diese in Kraft treten können. Die EU wies warnend darauf hin, dass die Gesetze keine Rechtsgrundlage hätten und den Beitrittsprozess von Bosnien und Herzegowina untergraben würden. 

Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit

Der Journalist*innenverband BH Novinari verzeichnete eine Zunahme der Angriffe auf Journalist*innen. Im Jahr 2023 wurden mehr als 70 Fälle gemeldet, doch nur in weniger als 25 Prozent wurde ermittelt.

Im Juli 2023 verabschiedete die Nationalversammlung der Republika Srpska Änderungen am Strafgesetzbuch, um Verleumdung zu einer Straftat zu machen, die mit einem Bußgeld von bis zu 3.000 Konvertible Marks (etwa 1.500 Euro) geahndet werden kann. Die Vereinten Nationen, der Europarat und die EU verurteilten die Reformen als Verstoß gegen die internationalen Menschenrechtsverpflichtungen von Bosnien und Herzegowina. Laut dem Projekt Media Freedom Rapid Response stellten sie eine "existenzielle Bedrohung" für den unabhängigen Journalismus dar. Im September 2023 reichte der Journalist*innenclub von Banja Luka einen Antrag auf Anfechtung der Gesetzesänderung vor dem Verfassungsgericht der Republika Srpska ein.

Im September 2023 nahm die Nationalversammlung der Republika Srpska in erster Lesung ein Gesetz an, das Auflagen für die Arbeit von NGOs vorsah. Es diente der Einführung eines Sonderregisters für Organisationen, die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten und als "Agenten unter ausländischer Einflussnahme" eingestuft werden. Zudem waren umfassende Berichtspflichten vorgesehen und hohe Strafen bei deren Nichteinhaltung. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats sah in dem Gesetz eine weitere Beschränkung der Rechte von NGOs und Menschenrechtsverteidiger*innen, und die EU forderte seine Rücknahme. 

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Den Behörden zufolge trafen 2023 beinahe 35.000 Personen im Land ein, die meisten von ihnen kamen aus Afghanistan, Marokko und Syrien. Mehr als 2.500 Flüchtlinge und Migrant*innen saßen auch Ende des Jahres noch in Bosnien und Herzegowina fest, in der Mehrzahl im Kanton Una-Sana. 

Im Juni 2023 stoppten die Behörden den Bau einer von der EU finanzierten Hafteinrichtung auf dem Areal der Aufnahmeeinrichtung Lipa bei Bihać. Die Einrichtung war für die Unterbringung von Personen gedacht, deren Asylanträge in einem EU-Mitgliedstaat abgelehnt worden waren. Die Behörden dementierten, von dem Bauvorhaben gewusst zu haben. Der Minister für Menschenrechte und Flüchtlinge beschrieb die neue Einrichtung als "klassisches Gefängnis", das nicht auf das Gelände einer Einrichtung gehöre, in der auch Frauen und Kinder untergebracht seien. 

Obwohl sich die Geschwindigkeit bei der Bearbeitung von Asylanträgen erheblich verbesserte, blieb das Asylsystem weitgehend ineffektiv. Ein übermäßig restriktiver Ansatz bei der Prüfung von Anträgen führte dazu, dass bis November 2023 lediglich vier Personen der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden war.

Diskriminierung

Im August 2023 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Rechtssache Kovačević gegen Bosnien und Herzegowina, dass das Verfassungssystem des Landes, insbesondere die Wahlvorschriften, Menschen diskriminiert, die sich nicht als Angehörige eines der drei "konstituierenden Völker" (Bosniak*innen, Kroat*innen oder Serb*innen) betrachten, und ihnen eine angemessene Vertretung in Ämtern der Legislative und Exekutive verwehrt. Bosnien und Herzegowina setzte fünf vorherige Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht um, denen zufolge die in der Verfassung festgelegte Machtaufteilung diskriminierend ist. 

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Laut einer vom Meinungsforschungsinstitut Gallup in 123 Ländern durchgeführten Umfrage war Bosnien und Herzegowina eines der LGBTI-feindlichsten Länder der Welt.

Im März 2023 verbot die Polizei der Republika Srpska eine von LGBTI-Gruppen in Banja Luka organisierte Filmvorführung unter Verweis auf Drohungen gewalttätiger Gruppierungen. Die Organisator*innen, die an einem anderen Ort Zuflucht suchten, wurden schließlich von einer Gruppe Männer angegriffen. Aktivist*innen gaben an, dass Polizisten, die sich in der Nähe aufhielten, sie nicht geschützt hätten. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats wies darauf hin, dass die Behörden die Pflicht haben, das Recht von LGBTI+ auf friedliche Versammlung zu schützen.

Bei einem anderen Vorfall wurden die Teilnehmerinnen einer Demonstration für Frauenrechte am 8. März körperlich und verbal angegriffen, weil eine Demonstrantin eine Regenbogenfahne hochhielt. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats verurteilte die Gewalt und forderte die Polizei auf, den Vorfall zu untersuchen.

Im Vorfeld der alljährlichen Pride-Veranstaltung in Sarajevo im Juni 2023 sahen sich LGBTI-Aktivist*innen mit diskriminierenden Äußerungen auf Social-Media-Plattformen konfrontiert, auch vonseiten öffentlicher Amtsträger*innen.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Nach der Ermordung einer Frau durch ihren Partner, der den Mord in den Sozialen Medien live übertragen hatte, demonstrierten im August 2023 Tausende Menschen im ganzen Land gegen häusliche Gewalt. Sie forderten die Kriminalisierung von Femizid, härtere Strafen für häusliche Gewalt und mehr Notunterkünfte für betroffene Frauen. 

Eine offizielle Statistik der Behörden zur Erfassung von Femiziden gab es nicht. 

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen verlief auch weiterhin schleppend. Im November verlängerte der Ministerrat die ursprünglich für Dezember 2023 festgelegte Frist zur Bearbeitung der verbleibenden komplexen Fälle von Kriegsverbrechen bis 2025.

Im Mai 2023 bestätigte der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe die ursprünglichen Schuldsprüche für Jovica Stanišić und Franko Simatović, ehemalige Angehörige der serbischen Staatssicherheit, und erhöhte ihre Haftstrafen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in sechs Gemeinden in Bosnien und Herzegowina von zwölf auf 15 Jahre. Mehr als 7.500 Menschen wurden infolge des bewaffneten Konflikts weiterhin vermisst.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Die starke Abhängigkeit von der Kohle- und Holzverbrennung führte zu einer alarmierend hohen Luftverschmutzung: Im Winter 2023 wurde in einigen Städten Bosnien und Herzegowinas die höchste Luftverschmutzung weltweit gemessen.

Trotz der Verpflichtungen, die sie 2020 im Rahmen der Erklärung von Sofia über eine Grüne Agenda für den Westbalkan eingegangen waren, erzielten die Behörden nur geringe Fortschritte bei der Reduzierung der Kohlenstoffemissionen.

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