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Armenien 2023
Flüchtlinge aus Bergkarabach mit ihren Habseligkeiten in der armenischen Stadt Goris am 29. September 2023
© 2023 SOPA Images
- Hintergrund
- Exzessive Gewaltanwendung
- Recht auf freie Meinungsäußerung
- Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht
- Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
- Recht auf ein faires Gerichtsverfahren
- Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)
- Recht auf eine gesunde Umwelt
- Todesstrafe
Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023
Die Sicherheitskräfte setzten bei regierungskritischen Protesten rechtswidrige Gewalt ein. Journalist*innen waren Drangsalierungen und Gewalt durch Regierungsunterstützer*innen ausgesetzt. Bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen und anderen völkerrechtlichen Verbrechen während des bewaffneten Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 wurden keine Fortschritte erzielt. Nach wie vor wurden lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI+) diskriminiert. Mehrere Rechtsbeistände gaben an, beim Besuch ihrer Mandanten in Hafteinrichtungen misshandelt worden zu sein. Umweltschützer*innen erlebten weiterhin Drangsalierungen. Die Todesstrafe wurde vollständig abgeschafft.
Hintergrund
Der Umgang der Regierung mit den Spannungen zwischen Armenien und dem benachbarten Aserbaidschan führte 2023 zu einer zunehmenden Unzufriedenheit der Öffentlichkeit und zu Protesten. Unter anderem ging es um die Reaktion der Regierung auf die Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan und die anschließende Übernahme der Region durch das aserbaidschanische Militär (siehe Länderkapitel Aserbaidschan). Die abtrünnige Region gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, war jedoch bis zu Aserbaidschans Militäroffensive im September 2023 mehrheitlich von ethnischen Armenier*innen bewohnt. Ein Zustrom von mehr als 100.000 Flüchtlingen aus Bergkarabach verstärkte die wirtschaftlichen und humanitären Schwierigkeiten in Armenien. Es kam zu einer drastischen Verschlechterung der Beziehungen zu Russland, das zuvor als Sicherheitsgarant für Armenien betrachtet worden war. Die armenische Wirtschaft blieb jedoch weiterhin stark von Russland abhängig, u. a. was Rücküberweisungen und den Import grundlegender Güter betraf. Im Dezember 2023 ließ Armenien zwei aserbaidschanische Kriegsgefangene frei, nachdem es sich bereit erklärt hatte, auf ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan hinzuarbeiten.
Exzessive Gewaltanwendung
In Verbindung mit den großflächigen Straßenprotesten gab es immer wieder Berichte über Gewalt durch Protestierende sowie über unnötige, unverhältnismäßige und manchmal willkürliche Gewaltanwendung durch die Polizei.
Am 19. September 2023 versammelten sich Tausende Menschen in der Hauptstadt Jerewan, um den Rücktritt des Premierministers zu fordern und gegen die Militäroffensive Aserbaidschans in Bergkarabach zu protestieren. Einige Protestierende schlugen Fenster von Regierungsgebäuden ein und gerieten in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei. Das armenische Helsinki-Komitee beobachtete die Proteste und berichtete, dass die Polizei in einigen Fällen "unverhältnismäßige und unterschiedslose Gewalt" angewandt habe. Die NGO sprach u. a. von Schlägen und dem unangekündigten Abfeuern von Blendgranaten in die Menschenmenge. Mehr als 140 Protestierende wurden Berichten zufolge inhaftiert und mehr als 30 verletzt. Die meisten der Inhaftierten kamen ohne Anklage wieder frei. Gegen einige wurden jedoch Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten eingeleitet. Bis Ende 2023 war der mutmaßliche Einsatz rechtswidriger Gewalt durch die Polizei nicht wirksam untersucht worden.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Die Medienlandschaft blieb weitestgehend frei und pluralistisch. Es herrschte jedoch eine starke Polarisierung hinsichtlich der Ereignisse in Bergkarabach und des Konflikts mit Aserbaidschan. Internationale Beobachter*innen berichteten zudem von einem beispiellosen Ausmaß an Desinformation und Hassrede. Im März 2023 begrüßte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) die Entkriminalisierung der Beleidigung von Staatsbediensteten und Personen des öffentlichen Lebens. Der entsprechende Paragraf wurde mit dem im Juli 2022 in Kraft getretenen neuen Strafgesetzbuch abgeschafft. Journalist*innen konnten sich nach wie vor nicht sicher fühlen und wurden regelmäßig von Regierungsunterstützer*innen beleidigt, angegriffen oder unter Druck gesetzt. Mindestens zwei Journalistinnen berichteten, im Internet massiv drangsaliert und bedroht worden zu sein, u. a. durch Staatsbedienstete. Auslöser war ihre kritische Befragung des Premierministers zu den Geschehnissen in Bergkarabach während einer Pressekonferenz am 25. Juli 2023 gewesen. Die Untersuchungen zu diesem mutmaßlichen Eingriff in journalistische Aktivitäten waren Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.
Nach internationaler Kritik wurden von der Regierung im Dezember 2022 eingebrachte Entwürfe für Gesetzesänderungen, mit denen die Meinungsfreiheit im Internet eingeschränkt werden sollte, zurückgestellt. Die geplanten Änderungen hätten der Regierung die Möglichkeit gegeben, in Zeiten, in denen das Kriegsrecht gilt, Online-Inhalte zu zensieren, Webseiten zu blockieren und den Zugang zum Internet einzuschränken.
Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht
Die Ermittlungen zu Kriegsverbrechen und anderen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht während des bewaffneten Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 und unmittelbar danach machten keine nennenswerten Fortschritte. Gleiches galt für die Bemühungen, die mutmaßlich Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Am 3. Oktober 2023 stimmte das armenische Parlament für die Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs.
Landminen, die in der Vergangenheit von armenischen Streitkräften in und um Bergkarabach gelegt wurden, stellten nach wie vor eine tödliche Gefahr dar und verhinderten die sichere Rückkehr Vertriebener. Laut der aserbaidschanischen Behörde für Minenräumung waren seit dem bewaffneten Konflikt von 2020 bis August 2023 insgesamt 303 Personen durch Minen verletzt oder getötet worden, unter ihnen auch Zivilpersonen. Im Juli 2023 berichteten aserbaidschanische Medien, dass die Genauigkeit der von Armenien bereitgestellten Minenfeldkarten nur bei 25 Prozent liege und entsprechende Karten für 600.000 Minen noch immer fehlten.
Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen
Nach der Militäroffensive Aserbaidschans flohen im September und Oktober 2023 mehr als 100.000 Menschen – und damit praktisch alle ethnischen Armenier*innen – in einem Zeitraum von nur wenigen Tagen aus Bergkarabach nach Armenien. Den armenischen Behörden gelang es im Großen und Ganzen, die vorläufige Versorgung der großen Anzahl an Flüchtlingen sicherzustellen. Es blieben jedoch Bedenken bezüglich der Bereitstellung dauerhafter Lösungen und des Zugangs zu angemessenen Unterkünften, Einkommen und Beschäftigung für die Geflüchteten.
Recht auf ein faires Gerichtsverfahren
Mehrere Rechtsbeistände berichteten, sie seien drangsaliert oder misshandelt worden, als sie ihre Mandant*innen in Hafteinrichtungen der Polizei besuchten und ihren beruflichen Aufgaben nachgingen.
Die beiden Anwälte Marzpet Avagyan und Emanuel Ananyan gaben an, am 9. Februar 2023 in der Polizeistation der Hauptstadt Jerewan von einer Gruppe Polizisten beleidigt, getreten und geschlagen worden zu sein. Die Anwälte erklärten, dass man sie angegriffen habe, als sie sich für die Rechte ihrer minderjährigen Mandanten einsetzten, die ebenfalls von denselben Polizisten gefoltert und anderweitig misshandelt worden waren.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)
LGBTI+ waren nach wie vor im Alltag von Diskriminierung und sozialer Stigmatisierung aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Sexualität betroffen.
In einem im März 2023 angenommenen Bericht erklärte die ECRI, dass LGBTI+ in Armenien weiterhin Diskriminierung, Ausgrenzung, Angriffen und Schikanen ausgesetzt waren. Die Kommission empfahl die schnelle Einführung von Gesetzen gegen Diskriminierung aus jeglichen Gründen, einschließlich sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität. Zudem forderte ECRI die armenische Regierung auf, Maßnahmen zu ergreifen, damit Homosexualität nicht länger als psychische Störung stigmatisiert wird, und jeglichem weiteren homofeindlichen Diskurs entgegenzuwirken.
Recht auf eine gesunde Umwelt
Trotz der bestehenden Bedenken hinsichtlich möglicher Umweltschäden gaben die Behörden im Februar 2023 bekannt, dass die Almusar-Goldmine in Südarmenien wieder in Betrieb genommen werde. Aktivist*innen, die sich gegen das Vorhaben wehrten, wurden weiterhin drangsaliert, u. a. durch unverhältnismäßig hohe Schadensersatzforderungen wegen ihrer Warnungen vor möglichen Umweltfolgen.
Todesstrafe
Im Oktober 2023 ratifizierte Armenien das Protokoll Nr. 13 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Damit schaffte das Land die Todesstrafe vollständig und unter allen Umständen ab, d. h. auch für Taten, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden.