Amnesty Journal 01. November 2019

Mafia, Madames und Mädchen

Mehrere dunkelhäutige Frauen, in der Mitte stehnd eine junge Frau.

Eine "Madame" begutachtet ein Mädchen, das aus Nigeria nach Wien gekommen ist. Szene aus "Joy", einem Film der österreichischen Regisseurin Sudabeh Mortezai.

Der Spielfilm "Joy" erzählt von Menschenhandel und Zwangsprostitution nigerianischer Frauen in Europa. Ein System der Ausbeutung, dem Tausende Migrantinnen Jahr für Jahr zum Opfer fallen.

Aus Wien Benjamin Breitegger

Mit nacktem Oberkörper spricht der Priester seine Schwüre. In einer rostigen Hütte irgendwo in Nigeria schneidet er einem Hahn die Kehle durch, spritzt dessen Blut auf einen Schrein vor ihm. Daneben steht eine junge Frau. Sie nimmt eine Rasierklinge und schneidet sich Zehennägel ab. Zum Schluss nagelt sie einen Beutel mit einem Gemisch aus dem Hahnenblut, ihren Nägeln und ein paar Haaren an die Wand. "If you pay, me go help you", sagt der Priester.

Mit dieser Szene eröffnet der preisgekrönte Film "Joy" der österreichischen Regisseurin Sudabeh Mortezai, der auf Netflix zu sehen ist. "Joy", Freude, ist der Name der Hauptdarstellerin, aber es geht um das Gegenteil: Die junge Frau kommt aus Nigeria nach Österreich, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch sie findet sich in einem System der Abhängigkeit wieder: Ältere nigerianische Frauen zwingen sie, sich zu prostituieren. Nur so, wird ihr vermittelt, könne sie ihre Zehntausende Euro Schulden für die Reise nach Europa zurückzahlen. Die Geschichte ist fiktional, doch sehr nahe an der Realität. Regisseurin Mortezai ist für die Recherche nicht nur nach Benin City gereist, wo die meisten Frauen herkommen. Sie hat ihre Schauspielerinnen aus der nigerianischen Gemeinschaft Wiens gecastet. Es sind Laiendarstellerinnen, die Dialoge improvisiert. Der Spielfilm gewinnt damit Dokumentarcharakter. Wegen seiner gesellschaftlichen Relevanz wurde er dieses Jahr mit dem Max Ophüls Filmpreis ausgezeichnet.

Joys Biografie steht exemplarisch für die Schicksale Tausender nigerianischer Frauen in Europa. Der Traum vom besseren Leben endet oft in einem Albtraum, auf einem Straßenstrich einer der Großstädte des Kontinents – in Wien, Mailand, Berlin. Rund 11.000 Nigerianerinnen kamen allein 2016 mit dem Boot über das Mittelmeer nach Italien. 80 Prozent der nigerianischen Frauen sind der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge potenzielle Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. In Europa angekommen stellen viele Frauen einen Asylantrag, der wenig Aussicht auf Erfolg hat. Und die Verfahren dauern meist Jahre. Es sind Jahre der Ausbeutung und Erniedrigungen.

Die Frauen werden zur Sexarbeit gezwungen, oft schon für zwanzig Euro pro Freier. Den Lohn müssen sie an ihre Zuhälterinnen abliefern. Diese sind ebenfalls Nigerianerinnen. Sogenannte Madames organisieren den Menschenhandel und wachen über die jungen Frauen, viele von ihnen Analphabetinnen. Die meisten hält der Fluch eines Priesters davon ab, sich Hilfe zu holen. Sollten sie den Schwur brechen, drohen ihnen oder ihren Verwandten in Nigeria Tod, Krankheit oder Leid – so reden es ihnen die Priester und Madames ein. "I will pay", schwört denn auch die Protagonistin Joy in der Anfangsszene des Films. Der Juju-Kult dient hier als Kontrollinstrument.

"Viele Frauen glauben bis heute, dass etwas Böses geschieht, wenn sie zur Polizei gehen", sagt die Aktivistin Joana Adesuwa Reiterer. Außerdem sähen sie sich nicht als Opfer von Menschenhandel. Sie wüssten nur, dass es ihnen nicht gut gehe. "Alle Frauen haben sexuelle Gewalt in Nigeria erlebt, ihr Leben in Europa ist nur eine Fortsetzung", sagt die 38-Jährige.

Reiterer sitzt in einem Einkaufszentrum in Wien, sie hat diese Art der Ausbeutung hautnah mitbekommen. 2003, damals war sie 21 Jahre alt und frisch verheiratet, folgte sie ihrem Mann aus Nigeria nach Wien. In Österreich habe sie gemerkt, dass alles, was sie über ihn wusste, falsch war, erzählt sie. Ihr Mann, der behauptete, Reiseunternehmer zu sein, schleppte in Wahrheit nigerianische Frauen nach Europa. Er schickte sie auf den Strich oder verkaufte sie weiter. Als Reiterer das herausfand, kam es zum Streit, er nahm ihr Pass und Geld ab. Doch die junge Frau suchte sich Hilfe – und das Thema ließ sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr los.

2006 gründete sie den Verein Exit, um Frauenhandel aus ­Nigeria zu bekämpfen. Sie recherchierte gemeinsam mit zwei Journalistinnen, und 2008 erschien das Buch "Ware Frau". Reiterer beriet Frauen, hielt Vorträge und klärt bis heute Polizisten in Workshops auf. Mit einem Modelabel in Nigeria schaffte sie Einkommensmöglichkeiten für Frauen, damit sie das Land nicht verlassen, sondern dort als Näherinnen arbeiten können. Bis heute melden sich Nigerianerinnen bei ihr, die Hilfe suchen, aber auch Freier, die sich informieren wollen. "Die größte Arbeit ist, die Frauen davon zu überzeugen, sich zu wehren", sagt Reiterer. Viele hätten Angst vor den Folgen, ihr Umfeld setze sie unter Druck.

Wenn sie soweit sind, sich aus ihrer Zwangslage befreien zu wollen, vermittelt Reiterer. In Wien kümmert sich der Verein Lefö um Opfer von Menschenhandel, indem er etwa Prozesse juristisch begleitet. Die kirchliche Hilfsorganisation Solwodi bietet psychosoziale Beratung und betreibt Wohngemeinschaften für Aussteigerinnen. In Deutschland betreute Solwodi im Vorjahr in 18 Beratungsstellen insgesamt 521 Klientinnen aus Nigeria, überwiegend Opfer von Menschenhandel. "Die meisten kommen erst, wenn sie aus der Hölle der erzwungenen Prostitution raus sind", sagt Margit Forster, die Leiterin der Beratungsstelle in Berlin. Es gebe wenig Wissen über die eigenen Rechte, vielen sei jahrelang Angst eingetrichtert worden. Zudem würden Ermittlungsverfahren oft eingestellt.

Und es gibt eine weitere Tragik im System des Menschenhandels: Die Opfer werden nach Abzahlung ihrer Schulden oft selbst zu Täterinnen. Sie übernehmen die profitable Rolle der Madames, bestellen sich nun selbst Frauen aus Nigeria. Manche sehen wenig andere Perspektiven und keinen Ausweg aus der engen Community, die ihnen oft die einzigen sozialen Kontakte in Europa bietet. Im Film soll Joy, die hofft, sich bald von ihrer Madame freikaufen zu können, ein junges Mädchen namens Precious nach dessen Ankunft in Europa in seine Rolle als Prostituierte einführen.

Die Heimat von Joy und Precious im Film ist der nigerianische Bundesstaat Edo, dessen Hauptstadt Benin City ist. Dort gibt es einen König, der Oba von Benin, eine gesellschaftliche Instanz. Im März 2018 trat er öffentlich auf. Der Oba verurteilte den Menschenhandel und erklärte geleistete Juju-Schwüre für ungültig. Die Nachricht verbreitete sich unter den betroffenen Frauen sehr schnell, auch in Deutschland. Viele haben sich gefreut, erzählt Solwodi-Mitarbeiterin Forster. Doch die Nachfrage nach billigem Sex ist nach wie vor da, erklärt Aktivistin Reiterer. Also bringt die nigerianische Mafia weiter Frauen nach Europa – Frauen wie Joy.

Joy. A 2018. Regie & Buch: Sudabeh Mortezai. Darsteller: Joy Alphonsus, Mariam Sanusi. Zu sehen bei Netflix

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