Amnesty Journal Japan 25. April 2024

Da fehlt gar nichts

Eine Frau, auf Kissen gebettet, geschminkt, Fingernagellack, Kurzhaarschnitt in Unterwäsche, ihr fehlt das linke Bein knieabwärts sowie der rechte Fuß.

Beherrscht die Kunst der Inszenierung: Mari Katayama in "you’re mine#001"

Mari Katayama ist die wohl bekannteste Künstlerin Japans, die eine körperliche Behinderung hat. Indem sie diese ins Zentrum ihrer Werke stellt, ist sie auch eine Kämpferin für Gleichheit.

Von Felix Lill

Mari Katayama erinnert sich noch gut an den Anruf eines Google-Vertreters: "Sie sind doch behindert, oder?", habe der PR-Verantwortliche des Techkonzerns als Erstes gefragt. Das war noch im vergangenen Jahrzehnt. Katayama, heute 36 Jahre alt, hatte mit ihren ersten Ausstellungen in Japan bereits einiges Aufsehen erregt. Für 2020, als in Tokio die Olympischen und Paralympischen Spiele stattfinden sollten, suchte Google offenbar nach einem Postergirl für eine Werbekampagne, die das Unternehmen fortschrittlich darstellen sollte.

Mari Katayama hätte sich freuen können: Kein Ereignis rückt Menschen mit einer Behinderung so in den Vordergrund wie die Paralympischen Spiele – zumal mit einem Werbepartner wie Google. Aber die junge Frau lehnte ab und legte auf: "Für die mache ich keine Kampagne", erklärte sie später. Sie habe Wichtigeres zu tun als mit Leuten zusammenzuarbeiten, die sie auf ihre Behinderung reduzierten. Zumal: Wer mit so einer Frage ins Gespräch einsteige, habe vermutlich noch keines ihrer Kunstwerke gesehen.

Kunst der Selbstinszenierung

Heute dürfte ein Großteil der Bevölkerung in Japan zumindest einmal ein Bild von Mari Katayama vor Augen gehabt haben. Denn sie fungierte nicht nur als Gesicht der renommierten Tokioter Ausstellung "Roppongi Crossing", sondern stellte ihre Fotografien auch in vielen weiteren japanischen Museen und Häusern im Ausland aus, so in der Londoner Tate Modern oder im Pariser Maison Européenne de la Photographie. All das, obwohl sie eine Behinderung hat. Oder weil sie eine hat?

"Ich finde meinen Körper lustig", sagt Katayama im Gespräch und muss lachen. Beim Blick auf ihre Fotos kann man so einen Satz schnell verstehen: Mal inszeniert sie sich in ihren Selbstporträts wie ein Krakenwesen am Strand, garniert mit Tentakeln aus Stoff am Körper. Dann wieder zieht sie, wie eine Femme fatale in Strapsen, lasziv an einer Zigarette. Ebenso schnell wie der betrachtende Blick die Erotik erkennt, springen auch die Beinprothesen unterm Netzstoff ins Auge. ­Alles ist harmonisch. Mari Katayama beherrscht die Kunst, sich zu inszenieren, mit ihrem Körper zu spielen.

Das gilt auch für ihr bekanntestes Foto "you’re mine #001": Da räkelt sich Katayama im Negligé auf weißen Laken, ihr kühler Blick und ihr kantiger Haarschnitt lenken die Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht. Aber man blickt auch auf ihre Beinstümpfe, die ohne Prothese ­daliegen. "Ich stelle das dar, was ich durch meinen Körper erlebe", sagt sie. Das Bild überrascht, weil es nicht viele Künst­ler*in­nen gibt, die ihren Körper mit einer sichtbaren Behinderung auf erotische Weise darstellen.

Man muss lernen, mit seinen eigenen Besonderheiten klarzukommen. Sonst hat man ein Problem.

Mari
Katayama
Künstlerin
Jemand hält ein Foto in der linken Hand, die nur zwei Finger hat. Auf dem Foto: Eine Frau in Unterwäsche, die auf einem Stuhl sitzt, ihr fehlen Wade und Fuß, sie hat Prothesen, die in hochhackigen Schuhen stecken.

Viel mehr als eine originelle Künstlerin: Mari Katayama

Mari Katayama hat damit Erfolg. Simon Baker, der als Kurator in der Tate Modern arbeitete, sagte über Katayama: "Ihre Bilder kommunizieren auf ganz eigene Weise. Da spricht diese unglaublich starke Stimme." Natsumi Araki, die Kuratorin des Mori Art Museums in Tokio, sieht in Katayamas Werken "die Schönheit des Verlusts". Die Künstlerin selbst sagt: "Man muss lernen, mit seinen eigenen Besonderheiten klarzukommen. Sonst hat man ein Problem."

Ihre Besonderheiten sind populär geworden. Katayama ist jedoch viel mehr als eine originelle Künstlerin. Schon ihre Ablehnung der Google-Anfrage bewies, dass sie auch in gesellschaftspolitischen Kategorien denkt. Katayama erhebt den Zeigefinger gegen Diskriminierung – auf subtile Weise. Denn Fragen der Ästhetik und die Dekonstruktion von Schönheitsidealen sind gerade in Zeiten von Instagram höchst politisch.

Braucht man Füße oder Waden, um sexy zu sein?

Katayama gelingt es, mit ihrer Kunst so zu überraschen, dass der Betrachter schon im Moment des Anblicks etablierte Idealvorstellungen verwirft. Braucht man Füße oder Waden, um sexy zu sein? Und wenn man einen sexy Körper haben kann, ohne über einige meist als wesentlich angesehene Körperteile zu verfügen – ist dann nicht grundsätzlich alles möglich? "Man muss an sich glauben", sagt die Künstlerin. Sonst tue es niemand.

Mari Katayama lernte das früh in ihrem Leben. Als Schülerin wurde an ihr eine Tibiale Hemimelie entdeckt, eine angeborene Unterentwicklung der Schienbeine sowie ihrer linken Hand. Mit neun musste Mari entscheiden, ob sie ihr Leben im Rollstuhl verbringen oder sich die Beine amputieren lassen würde. "Für mich war das klar. Nur mit der Amputation würde ich eines Tages wieder laufen können." Nur hatte sie damit nicht nur ihre Beine verloren, sondern auch viele Freund*innen. Sie wurde zum Ziel von Mobbing.

Weil es im ländlichen Japan der 1990er Jahre, wo sie aufwuchs, keine inklusiven Kleidungsgeschäfte gab, lernte Mari schon als Kind das Nähen. "Meine Klamotten haben meine Mutter und ich gemeinsam hergestellt." Mari fertigte ihre eigenen Kuscheltiere und Kissen, auch Imitationen ihrer Beine, die sie nicht mehr hatte und Entwürfe von ­Schuhen, die sie theoretisch nicht mehr brauchte. Eines Tages, in der Anfangszeit der Online-Netzwerke, postete die Pubertierende auf der Plattform MySpace ein Foto. Um den Maßstab ihrer Näherzeugnisse zu zeigen, stellte sie sich in ihrem Kinderzimmer selbst mit ins Bild. Die Beinstümpfe waren sichtbar, die Prothesen daneben abgestellt. Die Reaktionen, die von Verwunderung bis Begeisterung reichten, bezogen sich weniger auf ihre genähten Kuscheltiere als auf die Bildkomposition, in der Mari die Hauptperson war. Ihr wurde klar, dass ihr Aussehen kein Makel sein müsse. Und dass sie nicht versuchen sollte, überkommenen Schönheitsidealen zu entsprechen.

Nähen gegen das Mobbing

Gerade in Japan ist diese Erkenntnis von großer Bedeutung – längst nicht nur für Personen, die eine Behinderung haben. "Normal" sein, nicht aus der Masse herausstechen, gilt in dem Land als wichtige Tugend. Das motiviert einerseits nicht unbedingt zu Höchstleistungen, gibt aber andererseits einen starren Rahmen vor, was Aussehen, Verhalten, Herkunft und weitere persönliche Merkmale betrifft. Doch das über lange Zeit dominante Narrativ von Japan als "homogener Gesellschaft", in der sich alle ähnlich sind, hat in den vergangenen Jahren an Überzeugungskraft verloren.

Weil die Gesellschaft altert und das Land aufgrund des zunehmenden Arbeitskräftemangels dringend auf Einwanderung angewiesen ist, betonen Unternehmen und Politiker*innen nun vermehrt den Wert von Vielfalt. Im Zuge der Olympischen und Paralympischen Spiele, die inmitten der Pandemie erst 2021 stattfanden, lancierten die Veranstalter eine große Kampagne unter dem Motto "Einheit in Vielfalt". Seither ändert sich in Japan tatsächlich einiges. Personen mit Behinderung sind heute etwas häufiger in den Medien zu sehen als früher. Zumindest in der Hauptstadt Tokio wurde die Infrastruktur barrierefrei ausgebaut, Diskussionen über Anti-Diskriminierungsgesetze werden häufiger geführt.

Hat Mari Katayama jemals bereut, nicht ein Gesicht der Paralympischen Spiele geworden zu sein? Die Künstlerin winkt ab. Sie sei stolz, dass sie so ein Event nicht brauche, um ihre Kunst bekannt zu machen. Denn von Diversität sprachen ihre Werke schon lange, bevor sich in Tokio irgendwer eine PR-Kampagne ausdachte.

Felix Lill ist freier Südostasien-Korrespondent. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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