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Feministische Vermessung der Welt

Globus der Ungleichheit: Der "Frauenatlas" zeigt unter anderem, wo Abtreibung illegal (lila), legal (blau) oder eingeschränkt (hellere Farbtöne) ist.
© Hanser Verlag
Mit zahlreichen Infografiken und Karten: Der "Frauenatlas" von Joni Seager macht die Diskriminierung von Frauen weltweit augenfällig.
Von Wera Reusch
"Was gezählt wird, zählt", lautet das Credo der US-amerikanischen Geografin Joni Seager. Sie machte sich bereits in den 1980er Jahren auf die Suche nach Statistiken zur Situation von Frauen weltweit. Mit den damals noch recht spärlichen Angaben publizierte sie 1987 ihren ersten "Frauenatlas". Inzwischen hat sich zwar die Datenlage deutlich verbessert, die Lage der Frauen jedoch nur bedingt. Zwar habe es in den vergangenen Jahrzehnten vor allem im Bereich Bildung deutliche Verbesserungen gegeben, so Seager, doch seien alle Fortschritte "fragil, umkehrbar und immer gefährdet".
2018 erschien daher die fünfte Ausgabe des Nachschlagewerks, das jetzt auch auf Deutsch vorliegt. Seagers Konzept ist so simpel wie genial: Sie hat unzählige Studien und Statistiken zu Diskriminierung, Arbeit, Gesundheit, Gewalt, Körper, Homosexualität, Eigentum, Bildung, Macht etc. ausgewertet und in anschauliche Infografiken umgesetzt.
Bietet viele Erkenntnisse
Die Vermessung der Welt aus Frauenperspektive bietet selbst gut informierten Menschen viele Erkenntnisse: So sind zum Beispiel im größten Teil der USA Kinderehen erlaubt. Die weltweit höchste Lebenserwartung haben Frauen in Hongkong mit 87 Jahren, in Swaziland liegt sie hingegen bei 48 Jahren. In Niger heiraten 76 Prozent der Mädchen, bevor sie 18 Jahre alt sind. In Südafrika wird alle sechs Stunden eine Frau von ihrem (Ex-)Partner ermordet. In allen Ländern leisten Frauen mehr unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit: In Deutschland sind es 4,4 Stunden täglich, während Männer dafür 2,7 Stunden aufbringen. Die Müttersterblichkeit geht in vielen Ländern zurück – in den USA steigt sie jedoch, vor allem unter schwarzen Frauen.
Die Professorin für Global Studies an der Bentley-Universität in Boston hat nicht nur traditionelle feministische Themen wie Abtreibung, Frauenmorde, Menschenhandel, Genitalverstümmelung etc. in ihren Atlas aufgenommen. Auch die Verfügbarkeit von Toiletten, Sport, Umweltverschmutzung, Handynutzung oder Informatikstudiengängen sind Gegenstand der Schaubilder. Interessant ist auch, dass Deutschland der größte Absatzmarkt für Kosmetik in ganz Europa ist und weltweit nach den USA, China, Japan und Brasilien auf Platz 5 liegt.
Teilweise veraltete Angaben
Dass der informative Band jetzt ins Deutsche übersetzt wurde, ist lobenswert; ärgerlich ist jedoch, dass sich der Verlag nicht die Mühe gemacht hat, das englische Original von 2018 in wichtigen Punkten zu aktualisieren. So wird die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen weltweit mit 48,5 Millionen angegeben, tatsächlich liegt sie mittlerweile bei 79,5 Millionen. Im Sudan ist Präsident Omar al-Bashir inzwischen gestürzt und Genitalverstümmelung verboten. In Angola und Botswana sind einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen seit 2019 legal, während Ecuador und Costa Rica die Homo-Ehe eingeführt haben – um nur einige Beispiele für veraltete Angaben zu nennen.
Unverändert gültig ist jedoch Joni Seagers Einschätzung, wonach die Unterdrückung von Frauen die Herrschenden bestenfalls "völlig kaltlässt". Schlimmstenfalls seien sie entschlossen, "Fortschritte bei der Selbstbestimmung von Frauen rückgängig zu machen".
Joni Seager: Der Frauenatlas. Ungleichheit verstehen. 164 Infografiken und Karten. Aus dem Englischen von Renate Weitbrecht und Gabriele Würdinger, Hanser Verlag, München 2020, 208 Seiten, 22 Euro.
WEITERE BUCHREZENSIONEN
"Mir scheint es, dass schwarze Menschen im Europa von heute entweder als überstilisierte Retro-Hipster-Dandys (…) oder als gefährliche Kapuzenpullis tragende Ghetto-Kids dargestellt werden." Um diesen Eindruck zu korrigieren, erkundete der britische Autor und Fotograf Johny Pitts fünf Monate lang die schwarze Diaspora in Paris, Brüssel, Amsterdam, Berlin, Stockholm, Moskau, Marseille und Lissabon. In seinen vielschichtigen Reportagen beschreibt er die koloniale Geschichte der Orte und die Erfahrungen ganz unterschiedlicher Menschen, die er dort trifft – ob Sozialarbeiter oder Musikerin, Schriftsteller oder Aktivistin, Türsteher, Rastafari oder Flüchtling. Er begibt sich auf die Spur von Legenden wie James Baldwin, Frantz Fanon oder Josephine Baker und streift durch afrikanisch geprägte Stadtbezirke wie Clichy-sous-Bois, Matongé, Rinkeby oder Cova da Moura. Pitts, der als Sohn einer weißen Mutter und eines afroamerikanischen Vaters in Sheffield geboren wurde, ist auf der Suche nach einer "afropäischen" Identität, doch wird ihm auf seiner Reise klar, dass die soziale Frage mindestens so bedeutend ist. Die Stärke seiner Reportagen liegt darin, dass er Facetten Europas beschreibt, die Weiße in der Regel nicht zur Kenntnis nehmen (wollen) und dass er den Leser teilhaben lässt an seiner persönlichen Auseinandersetzung mit der Vielfalt und Widersprüchlichkeit, die ihm begegnen.
Johny Pitts: Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 461 Seiten, 26 Euro
Die Linke habe Faktoren wie Religion, Kultur, Laizität, Identität oder Menschenrechte häufig vernachlässigt, stellt Cinzia Sciuto fest. Dies sei ein großer Fehler, denn diese würden das gesellschaftliche Gefüge mindestens ebenso stark beeinflussen wie wirtschaftliche Mechanismen. In ihrer Streitschrift "Die Fallen des Multikulturalismus" hat sich die italienische Philosophin deshalb genau dieser Faktoren angenommen. Sie plädiert für eine strikte Laizität des Staates, in der Religion reine Privatsache ist und es zum Beispiel auch keinen konfessionellen Unterricht an Schulen geben sollte. Sonderregelungen aus religiösen Gründen lehnt Sciuto strikt ab – das gilt für Kleidungsvorschriften ebenso wie für Gewissensvorbehalte von medizinischem Personal in Bezug auf Abtreibungen. Vielfältige Gesellschaften müssten auf einem Wertekern beharren, der auf individuellen – und nicht gruppenbezogenen – Rechten fußt, sonst sei die Demokratie bedroht. Forderungen nach spezifischen Rechten für Minderheiten seien ein "identitärer Holzweg", vor dem auch Feministinnen oder die LGBTQ-Bewegung nicht gefeit seien. Sciutos messerscharfe Argumentation ist deshalb interessant, weil sie auf blinde Flecken im linken Diskurs hinweist, gleichzeitig aber vollkommen ungeeignet dafür ist, von Rechten vereinnahmt zu werden.
Cinzia Sciuto: Die Fallen des Multikulturalismus. Laizität und Menschenrechte in einer vielfältigen Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Johannes von Vacano. Rotpunktverlag, Zürich 2020, 207 Seiten, 24 Euro.
"Ferman" nennt die Großmutter die Verfolgung, der die Jesiden seit Jahrhunderten ausgesetzt sind. Und Leyla, die in der Nähe von München zur Schule geht, lernt dieses Wort schon als kleines Mädchen, denn sie verbringt all ihre Sommerferien bei ihrer Großmutter in einem kleinen kurdischen Dorf im Norden Syriens. Ab 2011 ist dies jedoch nicht mehr möglich. Denn in Syrien ist der Arabische Frühling ausgebrochen, der sich schon bald in einen Alptraum verwandelt: Das Assad-Regime schlägt mit aller Gewalt zurück, und die Lage im Dorf wird immer bedrohlicher. Erst recht, als der Islamische Staat 2014 im benachbarten Nordirak unzählige Jesiden vertreibt, verschleppt und ermordet. Leyla ist inzwischen eine junge Frau, die einen tiefen Zwiespalt fühlt zwischen den dramatischen Ereignissen im Nahen Osten und ihrem Studentenleben in Deutschland. Erinnerungen an die Sommer ihrer Kindheit tauchen auf, und sie beginnt, sich mit der Geschichte ihrer Familie und der jesidischen Gemeinschaft zu beschäftigen. "Die Sommer" heißt der Roman von Ronya Othmann, die wie ihre Protagonistin als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-jesidischen Vaters in Bayern aufgewachsen ist. Ihre Erinnerungen an das Leben im Dorf sind berührend, insbesondere, wie sie ihre Großmutter schildert. Othmanns Debüt ist jedoch nicht nur ein Familienroman, die 27-jährige Autorin versucht auch, die Geschichte der Jesiden vor dem Vergessen zu bewahren.
Ronya Othmann: Die Sommer. Hanser Verlag, München 2020, 288 Seiten, 22 Euro.
Der Tod ist eine traurig dreinblickende Gestalt in Umhang. Er hat sich einer Gruppe von Tieren angeschlossen. Auch Giraffe, Löwe, Steinbock, Eisbär, Kröte, Wolf, Hase, Ente, Flamingo, Waschbär und die anderen tragen Kleider und gehen aufrecht. Ihre Habseligkeiten tragen sie in Bündeln und Koffern verstaut mit sich. Dass es sich hier nicht um einen Ausflug handelt, zeigen Blick, Mimik, Körperhaltung. Verunsicherung und Ausweglosigkeit sind ihr Antrieb, ebenso Hoffnung, die sich immer wieder andeutet. Auf schwarzem Grund, vor karger Kulisse, inszeniert die Illustratorin Issa Watanabe eine Fluchtgeschichte, die ebenso universell wie individuell ist. Ohne ein einziges Wort erzählt sie von Strapazen, Herausforderungen, Gefahren, Tod und Trauer, aber auch von Miteinander, Fürsorge und Neuanfang. Allein durch die Kraft ihrer Bilder lässt sie die Betrachterinnen und Leser spüren, was die Tiere durchleben. Was dieses textfreie Bilderbuch so eindrucksvoll macht, ist nicht zuletzt die Spannung zwischen der Ästhetik der Bilder und der Härte der Geschichte. Der Reichtum an Farben, die auf dem schwarzen Hintergrund leuchten, die Verbundenheit der Tiere wie auch die Figur des Todes, die an Wolf Erlbruchs Klassiker "Ente, Tod und Tulpe" erinnert, stehen bewusst im Kontrast zum Schicksal der Flüchtenden, provozieren Fragen und bieten Anlass zu Gesprächen.
Issa Watanabe: Flucht. Carl Hanser Verlag, München 2020. 40 Seiten, 16 Euro. Ab 5 Jahren.