Amnesty Journal China 01. August 2024

Perfide Unterdrückung

Illustration von einer Frau, die in einer Menschenmenge nervös um sich blickt, drei umstehende Menschen sind rot eingefärbt und haben den Blick auf sie gerichtet

Es ist still geworden um die schweren Menschenrechtsverletzungen in der chinesischen Provinz Xinjiang. Jene, die von dort noch Informationen bekommen, berichten von oberflächlichen Veränderungen.

Von Oliver Schulz

Vor fast zwei Jahren veröffentlichte die damalige UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet einen Bericht über Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der chinesischen Provinz Xinjiang. Die UN versicherten, die Verstöße gegen die Uigur*innen nicht ungestraft zu lassen. Doch passiert ist seither wenig. Außer, dass Bachelets Nachfolger Volker Türk China Anfang 2024 aufforderte, Gesetze zu ändern, die Grundrechte verletzen – dies gelte auch für die Regionen Xinjiang und Tibet. 

Auch die deutsche Kritik am chinesischen Vorgehen in Xinjiang ist sehr verhalten. Als Bundeskanzler Olaf Scholz im April dieses Jahres mit einer großen Wirtschaftsdelegation nach Peking reiste, blieben Menschenrechte eine Randnotiz. Immerhin kündigte das Industrieunternehmen BASF, das in Xinjiang im Rahmen ­eines Joint Ventures aktiv ist, im Februar seinen Rückzug an. VW erklärte, sein Engagement dort zu überprüfen.

Staatsführung beschönigt

Umso intensiver sind die Bemühungen der chinesischen Staatsführung, die Situation in Xinjiang zu beschönigen. Gleichzeitig nehmen die Menschenrechtsverletzungen perfidere Formen an und erstrecken sich zunehmend auch auf Uigur*innen im Ausland. Nach Angaben uigurischer Aktivist*innen wurden einige der Umerziehungslager, in denen bis 2019 etwa eine Million Menschen interniert waren, geschlossen. "Viele sind in offizielle Gefängnisse oder Internate umgewidmet worden, manche auch zu Fabriken, manche stehen leer", sagt Abduweli Ayup. Der im Exil lebende uigurische Menschenrechtler bekommt regelmäßig Informationen aus seiner Heimat. "Einige Insassen wurden aus den Umerziehungslagern entlassen. Nicht alle von ihnen wurden anschließend in Arbeitslager oder Gefängnisse gebracht." Allerdings könne er die Lage nur allgemein einschätzen: "Die genauen Zahlen kennen wir nicht."

Tausende Kinder müssen mittlerweile staatliche Internate besuchen, um dort Unterricht in Mandarin zu bekommen, der Sprache der Han-Chines*innen. Das System beginne direkt nach dem Kindergarten. Die Länge des Aufenthalts sei unterschiedlich: "Manche können wenigstens an Wochenenden und in den Ferien nach Hause, manche müssen jeden Tag im Internat sein", sagt Ayup. "Das betrifft vor allem Kinder, deren Eltern inhaftiert sind." 

Ein Mann mit Brille, mittelalt, kurze Haare, abgewetzte Socken, sitzt an einem kleinen runden Tisch auf dem ein Laptop aufgeklappt ist auf einem gepolsterten Stuhl.

Sammelt Informationen aus Xinjiang: Abduweli Ayup

Lockerungen gebe es in Xinjiang derzeit vor allem an der Oberfläche, sagt Ayup. So habe die Polizei besonders strenge Sicherheitsmaßnahmen eingestellt, die Überwachungskameras in den Städten zeichnen nun nicht mehr rund um die Uhr alles auf. Seinen Informant*innen zufolge gebe es auch weniger Polizeikontrollpunkte und Patrouillen als früher.

Erkin Sidick vom World Uyghur Congress, der ebenfalls ständig aktuelle Berichte aus Xinjiang erhält, beschreibt die Lage ähnlich. Er weist darauf hin, dass viele Schilder an Polizeistationen und Umerziehungslagern verschwunden seien: "Die Kommunistische Partei versucht auf diese Weise, die Welt über ihre Verbrechen zu täuschen", sagt Sidick. "Sie will die Lage der noch lebenden Uiguren verbessern, um ihre Herzen zu gewinnen – und sie den Völkermord vergessen zu lassen."

Auch scheinbare Lockerungen bei der Religionsausübung dienen diesem Zweck. "Kürzlich wurden zwei Moscheen in Kashgar wiedereröffnet", sagt Abduweli Ayup. "Man bestimmte vor allem ältere Männer, die dort öffentlich beten sollen, zum Beispiel pensionierte Offiziere und ehemalige Parteimitglieder." Aber das sei nichts als Show: "Sie tun es für die Touristen, die aus anderen Landesteilen Chinas kommen." Ähnliche Berichte gebe es auch aus der Stadt Urumqi.

Auch Exil-Uigur*innen unter Druck

Dass sich die Lage nur an der Oberfläche verändere, zeige sich auch daran, dass immer mehr Uigur*innen die Region verlassen, meint Erkin Sidick. Der Staat fördere das: "Viele ziehen zum Beispiel ins weit entfernte Qingdao. Einige kaufen dort Häuser – um der Unterdrückung in Xinjiang zu entkommen." Junge Uigur*innen verlegten ihre Unternehmen etwa nach Chengdu oder gründeten in anderen Landesteilen eine neue Firma. Die KP mache ihnen das leicht: "Ziel ist es, die Bevölkerung aus ihrem Heimatland zu vertreiben und in den Han-Provinzen zu zerstreuen."

Gleichzeitig versuchen die chinesischen Behörden offenbar verstärkt, auf die uigurische Diaspora einzuwirken. "Die Polizei ruft immer häufiger im Ausland lebende Uiguren an, manchmal vom Haus ihrer Eltern aus", so Sidick. Sie fordere sie auf, sich nicht politisch zu engagieren. "Zuletzt hat mich ein Betroffener kontaktiert, der große Angst hatte. Er rief mich um sieben Uhr morgens an, nachdem er einen Anruf eines Polizisten erhalten hatte." Ähnliches berichtet Ayup von einem Uiguren, der in den Niederlanden von der chinesischen Polizei angerufen und unter Druck gesetzt wurde.

Chinesische Institutionen starteten zudem eine Propagandakampagne in den Online-Netzwerken, die während des Fastenmonats Ramadan besonders forciert wurde. "Ein Propagandateam produziert Inhalte, die vermitteln sollen: Alles in der Region ist ganz normal." Die Strategie richte sich an die breite Masse: "Wer mitmacht, muss nichts Politisches von sich geben. Er muss nur erklären, dass das Leben ganz gewöhnlich läuft. Dass er in Xinjiang lebt und Getreide anbaut oder wie der Tagesablauf ist." Adressat*innen seien auch Exil-Uigur*innen: "Selbst Familien in Norwegen sind darauf hereingefallen und nach Xinjiang zurückgezogen."

Eine, die bezweifelt, dass die Inhaftierungen in der Region zurückgehen, ist Gulbahar Haitiwaji (Amnesty Journal 04/2022). Sie verbrachte drei Jahre in einem Umerziehungslager in Xinjiang, nachdem die chinesische Regierung sie 2016 mit einem Trick aus dem französischen Exil zurückgelockt hatte. "Ich weiß, dass es die Lager immer noch gibt und dass immer mehr Uiguren interniert werden. Einige kommen sogar nur tot dort heraus", sagt sie. Es überrasche sie auch nicht, dass die Regierung bestimmte Lager etwa in Gefängnisse umwandle, um die Inhaftierung zu "rechtfertigen".

Ich kontaktiere meine Familie nicht, aus Angst, sie in Schwierigkeiten zu bringen.

Gulbahar
Haitiwaji
Eine mittelalte Frau, es ist Gulbahar Haitiwaji, sitzt auf einem Sofa in einer Wohnung, stützt den Kopf auf den Händen ab, die Ellbogen auf den Knien, hinter ihr an der Wand über der Couch hängt ein gerahmtes Gemälde.

Misstraut der KP Chinas: Gulbahar Haitiwaji

Zu ihrer Familie in Xinjiang habe sie keinen Kontakt mehr. "Ich kontaktiere sie nicht, aus Angst, sie in Schwierigkeiten zu bringen." Die Folgen ihrer Haft spüre sie noch heute, sagt Haitiwaji. "Der physische Schaden ist umfassend: Aufgrund der Ketten und der Kälte habe ich ständig Rücken- und Gelenkschmerzen. Wegen des Neonlichts, das Tag und Nacht eingeschaltet war, habe ich ein schlechtes Sehvermögen. Generell ist mein Gesundheitszustand beeinträchtigt." Bis heute erschrecke sie sich, wenn ein Mitglied ihrer Familie sich ohne Vorwarnung nähere oder jemand an ihr vorbeilaufe. "Ich habe häufig Albträume und schlafe sehr schlecht. In meinen Albträumen befinde ich mich immer wieder in einer Zelle und wache schweißgebadet auf. Ich verlasse das Haus nie allein. Und wenn ich draußen bin, bin ich nie entspannt, sondern beobachte die Menschen um mich herum, um zu sehen, ob ich verfolgt werde."

Weitere Informationen über die Verfolgung der Uigur*innen finden Sie unter diesem Link:
amnesty.org/en/latest/research/2020/02/china-uyghurs-abroad-living-in-fear

Oliver Schulz ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Weitere Artikel