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Höchste Zeit für Rechtstaatlichkeit in der Türkei
Amnesty-Aktion für die in der Türkei angeklagten Menschenrechtsaktivist*innen am 5. Februar 2020 in Berlin.
© Amnesty International, Foto: Jarek Godlewski
+++ Update vom 22. November 2022 um 15:13 Uhr: Berufungsgericht hebt Urteile gegen Amnesty-Vertreter*innen auf – politisch motivierte Verfolgung dauert an. Hier mehr erfahren. +++
Günal Kurşun, İdil Eser, Özlem Dalkıran und Taner Kılıç setzen sich für die Menschenrechte in der Türkei ein. Dafür drohen ihnen nun in letzter Instanz mehrjährige Gefängnisstrafen. Vorangegangen ist ein mehr als fünf Jahre andauernder Kampf gegen absurde Anklagen im Zusammenhang mit "Terrorismus"-Vorwürfen. Der Prozess ist politisch motiviert und hat zum Ziel, die Zivilgesellschaft in der Türkei zum Schweigen zu bringen. Die Verurteilung der vier Aktivist*innen muss aufgehoben werden!
Taner Kılıç, der Ehrenvorsitzende der türkischen Amnesty-Sektion, die ehemalige Amnesty-Direktorin İdil Eser sowie die zwei langjährigen Amnesty-Mitglieder Özlem Dalkıran und Günal Kurşun waren am 3. Juli 2020 im sogenannten Büyükada-Verfahren, in dem auch der Berliner Peter Steudtner angeklagt war, zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Im Dezember 2020 bestätigte ein regionales Berufungsgericht die Urteile gegen die vier Menschenrechtsverteidiger*innen, die daraufhin beim obersten Berufungsgericht (dem Kassationsgerichtshof) Rechtsmittel einlegten.
Wie viele Prozesse in der Türkei, ist auch dieser rein politisch motiviert. Die "Terrorismus"-Vorwürfe gegen die Angeklagten konnten im Verlauf des Gerichtsverfahrens umfassend widerlegt werden, sogar durch eigene Beweise der türkischen Behörden. Im Mai 2022 entschied auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Untersuchungshaft von Taner Kılıç rechtswidrig war und dass es keine Belege für die gegen ihn erhobenen Vorwürfe gibt.
Sollte es zu einer Bestätigung der Urteile gegen die Menschenrechtsverteidiger*innen kommen, wäre dies auch ein schwerer Schlag für die unabhängige Zivilgesellschaft in der Türkei.
Wir fordern den Freispruch der vier Aktivist*innen. Es gibt keinen einzigen Beweis für ein Fehlverhalten!
Das Berufungsverfahren - Womit ist jetzt zu rechnen?
Am 12. März 2021, rund drei Monate nachdem das Berufungsgericht in Istanbul die Verurteilungen der vier Menschenrechtsverteidiger*innen bestätigt hatte, gab die Staatsanwaltschaft am Kassationsgerichtshof ihre Stellungnahme ab. Sie empfiehlt ohne nähere Begründung, die Verurteilung von Taner Kılıç ohne nähere Begründung aufrechtzuerhalten und die Verurteilungen der anderen drei Menschenrechtsverteidiger*innen aufzuheben.
Eine hoffnungsvolle Nachricht für İdil Eser, Günal Kurşun und Özlem Dalkıran, aber für Taner Kilic würde auch dies eine Haftstrafe bedeuten. Allerdings Zudem gibt es keine Garantie dafür, dass das Gericht der Forderung der Staatsanwaltschaft folgt. Und selbst eine Aufhebung durch den Kassationsgerichtshof würde noch keinen Freispruch bedeuten. Die Urteile würden dann an die erste Instanz zurückverwiesen und würden erneut verhandelt werden. Alle vier Angeklagten sind also weiter von Schuldspruch und Haftstrafe bedroht.
Taner Kılıç und Günal Kurşun würden im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung außerdem ihre Anwaltszulassungen verlieren. Sie befinden sich aktuell in der Türkei und müssten bei Bestätigung ihrer Urteile ihre Haftstrafen antreten.
Anfang September 2022 änderte sich der Status der Fälle am Kassationsgerichtshof von "im Archiv" zu "unter Prüfung", was bedeutet, dass eine Entscheidung in dieser Sache unmittelbar bevorstehen könnte.
Hintergrund: Der Büyükada-Prozess
Taner Kılıç, der damalige Vorstandsvorsitzende von Amnesty Türkei, wurde in den frühen Morgenstunden des 6. Juni 2017 in seinem Haus in İzmir festgenommen. Drei Tage später wurde er unter dem Vorwurf in Untersuchungshaft genommen, Mitglied der Gülen-Bewegung zu sein, die von den türkischen Behörden als Terrororganisation bezeichnet wird. Die Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, Drahtzieherin des gewaltsamen Putschversuchs von 2016 zu sein. Ohne jeglichen Beweis behaupteten die Behörden, Taner Kılıç habe die Messenger-App "ByLock" heruntergeladen, die der Regierung zufolge von der Gülen-Bewegung verwendet wurde.
Fast einen Monat später, am 5. Juli 2017, wurden zehn weitere Menschenrechtsverteidiger*innen (die sogenannten "Istanbul 10") in einem Hotel auf der Insel Büyükada in Istanbul festgenommen, wo sie an einem Menschenrechtsworkshop teilnahmen. Die Behörden warfen ihnen vor, an einem geheimen Treffen teilzunehmen. Acht der zehn Aktivist*innen wurden aufgrund dieser Beschuldigungen in Untersuchungshaft genommen.
İdil Eser, Peter Steudtner, Günal Kurşun, Özlem Dalkıran, Veli Acu, Ali Gharavi, Nalan Erkem und İlknur Üstün wurden nach 99 Tagen in Untersuchungshaft bei der ersten Anhörung ihres Falls am 25. Oktober 2017 in Istanbul aus der Haft entlassen.
Das Gericht in Istanbul beantragte, das Verfahren gegen Taner Kılıç nach Istanbul zu verlegen und mit dem der "Istanbul 10" zusammenzulegen. Als Begründung führte es an, Taner Kılıç habe das "geheime Treffen auf Büyükada" geleitet, obwohl er sich zum Zeitpunkt des Treffens im Gefängnis befand. Bei der ersten Anhörung von Taner Kılıç in İzmir, die am nächsten Tag, dem 26. Oktober 2017, stattfand, gab das dortige Gericht dem Antrag des Istanbuler Gerichts auf Verlegung statt und fasste die beiden getrennten Strafverfahren zu einem Fall in Istanbul zusammen. Das Gericht ordnete auch die Verlängerung der Untersuchungshaft von Taner Kılıç an.
Als "Beweismaterial" legte die Staatsanwaltschaft Informationen und Dokumente vor, die auf den beschlagnahmten Computern der "Istanbul 10" gefunden wurden. Die Dokumente belegen jedoch lediglich legitimes menschenrechtliches Engagement, wie zum Beispiel eine Kampagne gegen den Verkauf von Tränengas an die Türkei sowie weitere Dokumente von Amnesty International, ein Förderantrag für ein Menschenrechtsprojekt und eine Kampagne für die Freilassung inhaftierter Lehrkräfte im Hungerstreik.
Amnesty International hat eine umfassende Analyse der Anklageschrift (in englischer Sprache) mit Informationen zu allen Vorwürfen gegen die elf Angeklagten zusammengestellt.
Die elf im Büyükada-Prozess angeklagte Menschenrechtsaktivist*innen (v.l.n.r.): Taner Kılıç, İdil Eser, Günal Kurşun und Özlem Dalkıran, denen in letzter Instanz Haftstrafen drohen. Veli Acu, Ali Gharavi, Peter Steudtner, İlknur Üstün, Nalan Erkem, Şeyhmuz Özbekli und Nejat Taştan, die im Juli 2020 freigesprochen wurden.
Die Verurteilung in erster Instanz
Im November 2019 legte der Staatsanwalt sein Schlussplädoyer vor. Er forderte, Taner Kılıç wegen der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" und İdil Eser, Özlem Dalkıran, Günal Kurşun, Veli Acu und Nejat Taştan wegen der "wissentlichen und bereitwilligen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" schuldig zu sprechen. Des Weiteren forderte er Freisprüche für Peter Steudtner, Nalan Erkem, Ali Gharavi, İlknur Üstün und Şeyhmus Özbekli.
Das Resümee des Staatsanwalts liest sich wie eine Kopie der Anklageschrift. All die haltlosen Anschuldigungen, die in den vorherigen Anhörungen widerlegt wurden, werden darin wiedergegeben, als ob der gesamte Prozess gar nicht stattgefunden hätte.
Bei der folgenden Anhörung am 19. Februar 2020 rechneten wir mit einem Urteil, aber die Plädoyers der Verteidigung konnten nicht in der vom Gericht vorgegebenen Zeit zum Abschluss gebracht werden. Die Verhandlung wurde zunächst auf den 3. April 2020 und dann aufgrund der Corona-Pandemie auf den 3. Juli 2020 verschoben.
Im Juli 2020 endete der sogenannte Büyükada-Prozess gegen die elf Menschenrechtsverteidiger*innen mit der Verurteilung von Taner Kılıç zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen "Mitgliedschaft in der Terrororganisation Fethullah Gülen". İdil Eser, Günal Kurşun und Özlem Dalkıran wurden wegen "wissentlicher und willentlicher Unterstützung der Terrororganisation Fethullah Gülen" zu zwei Jahren und einem Monat Haft verurteilt. Die übrigen sieben Angeklagten wurden freigesprochen. Am 1. Dezember bestätigte ein regionales Berufungsgericht die Urteile gegen die vier Menschenrechtsverteidiger*innen, die daraufhin beim Obersten Berufungsgericht Rechtsmittel einlegten.
EGMR: Urteil gegen Taner Kılıç "rechtswidrig und willkürlich"
Im Mai 2022 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Türkei wegen der Inhaftierung von Taner Kılıç verurteilt. Die 2017 gegen ihn angeordnete Untersuchungshaft sei "rechtswidrig und willkürlich" gewesen. Seine Rechte auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) und auf Meinungsfreiheit (Art. 10) waren verletzt worden. Der EGMR ist außerdem der Auffassung, dass sowohl die Untersuchungshaft als auch das gegen Taner Kılıç eingeleitete Strafverfahren unmittelbar mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger zusammenhängen.
Die Türkei beantragte Ende August 2022 die Verweisung der Entscheidung an die Große Kammer und versuchte so, die Rechtskraft der Entscheidung zu verzögern. Der EGMR hat den Antrag Anfang Oktober 2022 abgelehnt.
Unabhängig von dieser Entscheidung hat der Kassationshof Kenntnis von der Entscheidung des EGMR und muss diese in sein Urteil einfließen lassen.
Demonstration für die in der Türkei angeklagten "Istanbul 10" in Brüssel im Juli 2017
© Amnesty International, Foto: Richard Burton
Solidarität mit den Menschenrechtsverteidiger*innen
Der Büyükada-Prozess hat weltweit für Aufsehen gesorgt und zu zahlreichen internationalen Solidaritätsbekundungen mit den Menschenrechtsverteidiger*innen geführt. Mehr als zwei Millionen Menschen haben die Petition unterschrieben, in der ihre Freilassung und das Fallenlassen der absurden Anschuldigungen gefordert wird.
Neben Regierungen, Institutionen und Politiker*innen aus der ganzen Welt forderten zahlreiche Künstler*innen und Prominente wie Ai Weiwei, Sting, Whoopi Goldberg, Bono, Ben Stiller, Jane Birkin, Juliette Binoche und Zoë Kravitz, die Angeklagten aus der Untersuchungshaft zu entlassen und die absurden Anschuldigungen gegen sie fallenzulassen.
Die weltweite Unterstützung hat den Aktivist*innen viel bedeutet und sie ermutigt, ihre Arbeit fortzusetzen. Wenn ihre Fälle nun vor einem Strafgericht in Istanbul neu verhandelt werden, bleiben wir natürlich am Ball. Die Justiz in der Türkei wird seit Jahren instrumentalisiert, um die Zivilgesellschaft einzuschüchtern und mundtot zu machen.