Aktuell Ukraine 03. Mai 2024

Krieg gegen die Ukraine: "Die Menschen in den russisch besetzten Gebieten können kein freies Leben führen"

Das Foto zeigt ein mehrstöckiges Gebäude, dessen Dach in Flammen steht. Das Gebäude steht nicht weit entfernt vom Ufer eines großen Gewässers.

Bei einem russischen Raketenangriff auf dieses zivile Verwaltungsgebäude in der ukrainischen Hafenstadt Odessa wurden lauten Behördenangaben mehrere Personen getötet (29. April 2024).

Seit Februar 2022 führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Noch immer werden fast täglich Menschen durch russische Angriffe getötet. Anna Wright ist Amnesty-Researcherin für die Ukraine, Belarus und Moldau und stammt aus der ukrainischen Stadt Donezk. Im Interview spricht sie über ihre herausfordernde Arbeit in Kriegs- und Krisengebieten und die Folgen der Angriffe für die ukrainische Zivilbevölkerung.

Fragen: Ralf Rebmann

Der russische Krieg gegen die Ukraine dauert nun schon seit mehr als zwei Jahren an, ein baldiges Ende ist nicht in Sicht. Was macht Ihnen derzeit besonders Sorgen?

Mich beunruhigt, dass immer mehr Menschen zu glauben scheinen, die Situation und der Krieg in der Ukraine hätten sich beruhigt. Vielleicht liegt es daran, dass die Berichterstattung darüber abgenommen hat. Vor ein paar Tagen fragte mich ein Mann in London an einer Bushaltestelle: "Woher kommen Sie?" Und ich sagte, ich komme aus der Ukraine, und er sagte: "Gott sei Dank, dass der Krieg dort vorbei ist". Der Krieg ist aber noch nicht zu Ende. Jeden Tag sterben Menschen. Täglich werden Städte zerstört. Daran sollten wir immer noch denken und darüber sprechen.

Das Bild zeigt das Porträtfoto einer Frau

Amnesty-Researcherin Anna Wright im Sekretariat der deutschen Amnesty-Sektion in Berlin im April 2024

Wie ist die aktuelle Situation im Osten des Landes?

An der Frontlinie wird an vielen Stellen heftig gekämpft. Diese Gebiete liegen im Südosten und Osten des Landes. Zurzeit wird außerdem die Stadt Charkiw aufgrund ihrer geografischen Lage und ihrer Bedeutung täglich aus der Luft angegriffen. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und liegt etwa 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die russische Armee führt seit einigen Wochen außerdem vermehrt sogenannte Doppelschläge durch. Dabei werden Ziele in dicht besiedelten Gebieten bombardiert. Noch während die Rettungsarbeiten laufen, folgt der zweite Angriff, der gezielt noch mehr Menschen tötet. Das ist eine sehr beunruhigende Entwicklung und möglicherweise ein Kriegsverbrechen.

Wie geht es den Ukrainer*innen, die in den von Russland besetzten Gebieten im Osten der Ukraine leben?

Sie haben immer weniger Freiheiten. Ihre Menschenrechte werden immer mehr unterdrückt. Zivilpersonen werden willkürlich inhaftiert, weil die Besatzungsbehörden ihnen Verbindungen zu ukrainischen Behörden oder Streitkräften vorwerfen. Die Betroffenen werden in den besetzten Gebieten oder in Russland festgehalten und haben meist keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Wir erleben außerdem eine sehr starke Indoktrinierung der Bevölkerung, zum Beispiel der Schulkinder. Das Vermögen derjenigen, die sich weigern, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wird beschlagnahmt. Es gibt Zwangsrekrutierungen von Bewohnern der besetzten Gebiete in die russischen Streitkräfte. Auch die Reisefreiheit ist stark eingeschränkt. Wer keinen russischen Pass besitzt, hat kaum Möglichkeiten, die Gebiete zu verlassen.

Ukrainische Kinder werden gezwungen, Unterstützungsbriefe an russische Soldaten zu schreiben.

Amnesty-Researcherin Anna Wright                         

Inwiefern nehmen die Besatzungsbehörden Einfluss auf den Schulunterricht?

In den besetzten Gebieten werden alle Schulen gezwungen, nach russischem Lehrplan zu unterrichten. Schulbücher wurden neu aufgelegt und umgeschrieben, vor allem Geschichtsbücher. Diese Bücher erzählen eine rein subjektive russische Version, zum Beispiel: Die Krim sei immer russisch gewesen, die ukrainische Regierung unterdrücke die russische Bevölkerung im Land. Amnesty hat im Dezember 2023 einen Bericht über die Situation an den Schulen in den besetzten Gebieten veröffentlicht. Darin wird sehr deutlich, wie Familien, Kinder und Lehrkräfte eingeschüchtert werden. Kinder werden auch gezwungen, Unterstützungsbriefe an russische Soldaten zu schreiben.                             

Wie gehen Sie vor, um solche Informationen zu sammeln und auszuwerten?

Im Vorfeld der Recherche zu den Schulen war viel Organisation nötig: Telefonate, E-Mails, SMS und Erklärungen, was genau unsere Menschenrechtsorganisation macht und warum wir plötzlich aus London kommen und über Schulen sprechen wollen. Wir haben verschiedene Quellen kontaktiert, unter anderem das ukrainische Bildungsministerium. Sie haben uns geholfen, mit Schulleiter*innen in Kontakt zu kommen. So konnten wir mit Eltern und ihren Kindern sprechen, die kürzlich die besetzten Gebiete verlassen hatten. Wir haben auch Lehrer*innen befragt, die in den von der russischen Besatzungsmacht eröffneten Schulen arbeiten mussten.

Wie lassen sich Informationen in Krisengebieten verifizieren?

Mir persönlich hilft es, dass ich Ukrainerin bin und die Sprache spreche - das macht vieles einfacher. Das hilft mir auch bei der Auswertung von Videomaterial: Ich weiß, wie die ukrainischen Streitkräfte oder ukrainische Schulen aussehen. Ich kann auch beurteilen, welchen Dialekt jemand spricht. Nicht zuletzt muss man die Dinge analytisch und pragmatisch betrachten. Ergibt das einen Sinn? Was ist hier passiert? Was wissen wir mit Sicherheit? Wir führen mit vielen verschiedenen Personen Interviews und können so Informationen abgleichen und bitten Personen, uns Dokumente zeigen, die untermauern, was sie uns erzählen. 

Das Bild zeigt mehrere Menschen, auchJugendliche, die Trümmer aus dem Weg räumen

Menschen räumen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew nach einem russischen Raketenangriff Trümmer beiseite (3. Januar 2024).

Wie bereitet man sich auf eine Recherche-Reise in ein Kriegsgebiet vor?

Wir absolvieren im Vorfeld ein spezielles Training mit den wichtigsten Verhaltensregeln und Erste-Hilfe-Übungen. Vor Ort stehen wir in ständigem Kontakt mit unserem Sicherheitsteam. Im Land selbst haben wir an jedem Einsatzort Ansprechpartner*innen, die uns mit Informationen versorgen: Wie war die Nacht? Ist es sicher? Sind die Menschen bereit, mit uns zu sprechen? Für den Fall, dass wir unter Beschuss geraten und Schutz suchen müssen, nehmen wir ausreichend Proviant, Batterien für Handys und Laptops mit. Wenn wir in die Nähe der Frontlinie fahren, ist es zum Beispiel wichtig, genügend Benzin dabei zu haben, da es dort keine funktionierenden Tankstellen gibt. Das alles zu organisieren braucht Zeit.

Wie gehen Sie mit der emotionalen Belastung auf solchen Reisen um? 

Wenn Menschen über erlebte Grausamkeiten sprechen, ist es nicht immer möglich, die eigene Reaktion vorherzusehen. Manchmal kann man es gut verarbeiten. Dann hört man etwas, das weniger schlimm erscheint, aber einen in Tränen ausbrechen lässt. Ich habe gelernt, mein Handy zu bestimmten Zeiten auszuschalten, um mich zu schützen. Ein gutes Team hilft enorm. Und wenn es nur bedeutet, dass man nach den Interviews ins Auto steigt, der Fahrer einen Witz erzählt oder das Lieblingslied im Radio läuft. Schwieriger finde ich die Abreise nach getaner Arbeit. Wir leben unser normales Leben weiter, während die Betroffenen im Kriegsgebiet bleiben.

Was motiviert Sie, diese Arbeit zu machen?

Die Ukraine ist meine Heimat. Ich möchte der Welt erzählen, was dort passiert. Eine alte Frau aus einem besetzten Dorf im Osten des Landes hat kaum eine Möglichkeit, die Öffentlichkeit mit ihrer Geschichte zu erreichen. Unsere Aufgabe ist es, die Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, um später Beweise zu haben: Zum Beispiel, dass die Menschen in den russisch besetzten Gebieten kein normales, freies Leben führen können. Diese Informationen müssen an die Öffentlichkeit. Mir persönlich hilft dabei auch die Rückmeldung von Menschen, denen wir begegnen. Sie bedanken sich, weil sie spüren, dass sie nicht vergessen sind. Sie spüren, dass wir an ihrer Seite stehen und uns für sie einsetzen.

 

Zur Person:

Anna Wright arbeitet seit Mai 2023 als "Regional Researcherin" im Regionalbüro Osteuropa und Zentralasien von Amnesty International und ist verantwortlich für die Arbeit zur Situation in der Ukraine, Belarus und Moldau. Zuvor arbeitete sie für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), das Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR). Sie hat einen Master-Abschluss in internationalem öffentlichem Recht vom Institut für internationale Beziehungen der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Anna Wright stammt aus der ukrainischen Stadt Donezk und lebt derzeit in Großbritannien. 

 

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