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Einschränkung Palästina-solidarischer Proteste in Deutschland: "Am Ende betrifft es alle"
Palästina-solidarische Demonstration am 13. April 2024 in Berlin
© IMAGO / snapshot
Ein Jahr ist seit dem Hamas-Angriff auf israelische Zivilist*innen und Militärposten entlang der Grenze zu Gaza vergangen. Seitdem hat Israels militärisches Vorgehen in Gaza weltweit eine beispiellose Solidaritätsbewegung mit der palästinensischen Bevölkerung hervorgerufen. Der deutsche Staat begegnete dieser von Anfang an mit Repressionen. Rechtsanwalt Alexander Gorski unterstützt Menschen, die davon betroffen sind. Im Interview erklärt er, warum diese Grundrechtseinschränkungen eine Gefahr für die ganze Gesellschaft sind.
Ein Interview von Hannah El-Hitami mit Alexander Gorski:
Hannah El-Hitami: Seit dem 7. Oktober 2023 sieht sich die propalästinensische Bewegung in Deutschland mehr denn je mit Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit konfrontiert. Was haben Sie beobachtet?
Alexander Gorski: Im Laufe des Jahres haben sich verschiedene Bausteine der Repression herausentwickelt. Das Erste war das Versammlungsrecht. In Hamburg wurden von Oktober bis Dezember 2023 pauschal alle propalästinensischen Versammlungen verboten. Bundesweit gab es viele weitere Verbote, vor allem in Berlin. Die Lage hat sich seither geändert. Demonstrationen werden nicht mehr verboten, dafür beschränkt und überwacht.
Dazu kam das Strafrecht. Wir haben seit dem 7. Oktober eine unglaubliche Menge an Strafverfahren. Das sind zum einen Delikte, die bei verschiedenen Arten von Demonstrationen vorkommen: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, tätlicher Angriff, Beamtenbeleidigung, Vorwürfe wegen Landfriedensbruchs oder ähnliches. Neu ist, ist dass massiv gegen mutmaßliche Äußerungsdelikte vorgegangen wird. Menschen wurden angezeigt, weil sie von einem Genozid in Gaza sprachen oder Parolen wie "From the river to the sea" nutzten.
Warum ist diese Parole so umstritten und wie schätzen Sie sie ein?
Die Parole hat eine lange Geschichte und war erstmal nur die geographische Bezeichnung der Region. Sie kommt in der Bibel vor, wird von der zionistischen Bewegung genutzt, ebenso wie von der PLO oder der israelischen Likud-Partei. Mit dem Zusatz "Palestine will be free" hat der Slogan in der palästinensischen Solidaritätsbewegung an Popularität gewonnen und wird von muslimischen, christlichen, jüdischen, linken oder atheistischen Menschen genutzt.
Der deutsche Staat unterstellt Aktivist*innen, dass sie damit die Auslöschung jüdischen Lebens zwischen Jordan und Mittelmeer fordern.
Das wird der Komplexität des Slogans nicht gerecht. Die Leute, die ich vertrete, meinen damit in der Regel, dass sie sich eine friedliche demokratische Zukunft wünschen, in der alle Menschen mit den gleichen Rechten ausgestattet in dieser Region leben. Das Bundesinnenministerium hat die Parole als Kennzeichen der Organisationen Hamas und Samidoun verboten, doch es bleibt abzuwarten, wie die Gerichte entscheiden. Bisher gibt es ein Urteil des Landgerichts Mannheim, demnach ist die Parole nicht strafbar ohne Hamas-Bezug. Ein Amtsgericht in Berlin hat dagegen entschieden, dass die Parole kurz nach dem 7. Oktober automatisch einen Hamas-Bezug hatte und Straftaten billigte, auch wenn die angeklagte Person mit der Hamas nichts zu tun hatte.
Welche weiteren Bausteine neben Versammlungs- und Strafrecht werden zur Unterdrückung der palästinensischen Bewegung genutzt?
Es gibt weitere selektive Mittel der Repression wie Hochschulrecht, Förderrecht, Vergaberecht und teilweise auch Arbeitsrecht. Leute, die von öffentlichen Geldern, Räumen oder Arbeitsplätzen abhängig sind, werden davon abgeschnitten. So hat sich ein Mosaik gebildet, das dafür sorgt, dass Solidarität mit Palästina in Deutschland vielfältige Gefahren birgt, die auf verschiedenen Wegen kommen. Dazu kommt der sogenannte "chilling effect": Die Leute hören davon, was anderen passiert, und trauen sich nicht mehr, die eigenen Rechte wahrzunehmen. Das führt de facto zu einer Abschaffung von Rechten, gerade im Bereich Versammlung und Meinungsäußerung. Das schwächt die Demokratie, weil sich weniger Menschen beteiligen können – vor allem die, die keinen deutschen Pass haben. Das Migrationsrecht wird nämlich ebenfalls als Repressionsmittel genutzt.
Inwiefern?
Eine kleine strafrechtliche Verurteilung hat für die meisten Deutschen keine Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg. Man zahlt die Geldstrafe und das wars. Für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft können bereits kleinste Verurteilungen existentielle Konsequenzen haben: Betroffenen wird der Aufenthaltstitel verwehrt oder sie werden ausgewiesen. Der deutsche Staat nutzt das Migrationsrecht bewusst gegen die propalästinensische Bewegung, die sehr divers und migrantisch ist. Durch die Gesetzesverschärfungen der vergangenen Jahre sind Ausweisungen oder der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft sogar ohne strafrechtliche Verurteilung möglich. Da genügt es, dass eine vermeintliche Gefahr von jemandem ausgeht. Was das genau bedeutet, entscheiden zunächst die Ausländerbehörden. Jetzt wird sogar debattiert, dass ein Post oder ein Like in den sozialen Medien für eine Ausweisung genügen soll.
Welche Rolle spielen antimuslimischer und antipalästinensischer Rassismus?
Aus meiner Sicht eine sehr große. Das hat sich schon in der Vergangenheit bei den Verboten der Nakba-Demonstrationen gezeigt. In Berlin wurde argumentiert, dass diese Veranstaltungen die öffentliche Sicherheit gefährden würden. Dabei wurde arabischen Menschen pauschal Antisemitismus unterstellt und rassistisch argumentiert: Wenn viele arabische junge Männer zu diesem Thema zusammenkommen, werde es emotional und gefährlich.
Wann sind Versammlungseinschränkungen legitim?
Wenn von der Versammlung eine Gefahr ausgeht, nämlich die der Begehung von Straftaten. Aber wenn Parolen wie "From the river to the sea, Palestine will be free" gerufen werden, wird oft pauschal gesagt, das wäre eine Straftat. Die Würdigung der Strafgerichte wird damit vorweggenommen und den Teilnehmer*innen etwas unterstellt, was sie gar nicht wollen. Die meisten propalästinensischen Versammlungen haben keinen Hamas-Bezug. Leider gibt es im Versammlungsrecht in den vergangenen Jahren eine Tendenz der Versicherheitlichung. Auch im Bezug auf die Corona-Pandemie oder den Ukraine-Krieg wurden Proteste zu abweichenden Meinungen sehr schnell verboten oder eingeschränkt. Dabei sollten wir sie als Teil des Diskurses und des Streits in der Demokratie aushalten.
Was aber, wenn Meinungen bestimmte Grenzen überschreiten, zum Beispiel zu Hass und Gewalt aufrufen? Sollte der Staat das nicht unterbinden?
Grundsätzlich ist in Artikel 5 des Grundgesetzes die Meinungsfreiheit garantiert. Sie darf eingeschränkt werden, um zum Beispiel die Billigung von Straftaten oder Volksverhetzung zu unterbinden. Das Bundesverfassungsgericht hat vorgesehen, dass solche Einschränkungen nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden dürfen.
Wie funktioniert das in der Praxis?
Wenn eine Aussage unterschiedlich interpretiert werden kann – wie zum Beispiel "From the river to the sea" – dann muss das Gericht erst alle straflosen Varianten ausschließen, bevor es eine Person verurteilt. Es muss sicher sein, dass die Person die strafbare Variante gemeint hat. Das ist im Einzelfall extrem schwierig, und genau so ist es auch gedacht. Nur sehr selten sollen Personen in Deutschland wegen Äußerungsdelikten verurteilt werden. Holocaust-Leugnung steht zum Beispiel zurecht unter Strafe, aber das muss die Ausnahme bleiben. Wenn Meinungen kriminalisiert werden, hat das einen Dammbruch-Effekt. Gerade bei sensiblen Themen werden die Grenzen des Sagbaren rechtlich so eng gezogen, dass bestimmte Debatten nicht mehr stattfinden können.
Was meinen Sie mit Dammbruch-Effekt?
Ich glaube, dass an vulnerablen Gruppen Dinge ausprobiert werden, die bei Gruppen mit gesellschaftlicher Lobby zu großer Empörung führen würden. Im Europa des 21. Jahrhunderts betrifft das meist geflüchtete oder migrantische Menschen. Gesetzesänderungen, die vorher undenkbar waren, sind plötzlich möglich. Danach hat es der Staat sehr viel leichter, das auf die nächste Gruppe anzuwenden. Und am Ende betrifft es alle.
Beobachten Sie allgemein eine Kriminalisierung von zivilgesellschaftlichem Engagement?
Definitiv gab es in den vergangenen Jahren in Deutschland und Europa eine autoritäre Wende. Das sieht man in zwei Bereichen besonders deutlich: Das eine ist die Migrationspolitik, das andere die Kriminalisierung der Zivilgesellschaft. Wir haben zum Beispiel bei der Klimabewegung gesehen, wie schnell der Staat sehr restriktive Maßnahmen gegen friedliche Protestbewegungen einsetzt und wie leicht die mehrheitliche öffentliche Meinung dem folgt. Das gleiche passiert jetzt im Bezug auf die propalästinensische Bewegung. Ein starker Staat versucht durch eine antiliberale Handhabung von Gesetzen Dissens aus der öffentlichen Wahrnehmung zu drängen und Leute davon abzuhalten, sich für gewisse Belange einzusetzen.
Was könnten Gegenstrategien sein, sowohl für Betroffene als auch für Unterstützer*innen?
Wir brauchen einen breiteren Widerstand gegen autoritäre Tendenzen in Staat und Gesellschaft. Mehr Menschen müssen sich bewusst machen, wohin das steuert, und in unterschiedlichen Lebensbereichen tätig werden, sei es aktivistisch, journalistisch, juristisch, künstlerisch oder anders, um dem autoritären Trend einen anderen Trend entgegenzusetzen. Grund- und Menschenrechte, nicht Repression und Einschüchterung, müssen Leitbild für staatliches Handeln sein. Positiv ist, dass die Debatte um Gaza gerade bei jungen Menschen eine große politische Neugier und Engagement ausgelöst hat. Aber insgesamt passiert viel zu wenig. Es ist verständlich, dass die Zivilgesellschaft übermüdet ist. Umso wichtiger ist, dass jede Person, die dazu in der Lage ist, sich ein wenig beteiligt. Nur so kann eine kritische Masse an aktiven Menschen entstehen.