Amnesty Journal Belarus 13. Januar 2021

Und sie geben nicht auf

Zeichnung einer Frau mit schulterlangem braunen Haar, die einen Mantel trägt.

Frau der klaren Worte: "Wir nehmen oft gar nicht wahr, wie stark wir sind", sagt Swetlana Tichanowskaja.

Swetlana Tichanowskaja hat das ­belarussische Regime herausgefordert wie kaum eine andere. Dabei strebte sie nie ein politisches Amt an.

Von Barbara Oertel

Sie ist eine Frau der klaren Worte. "Wir nehmen oft gar nicht wahr, wie stark wir sind", sagte Swetlana Tichanowskaja unlängst. Ihrer Fähigkeit, Menschen zu mobilisieren, konnte sie sich oft vergewissern. Vergleichsweise unwirklich dürfte ihr hingegen der fast kometenhafte Aufstieg vorkommen, der ihr einen Platz auf der diesjährigen BBC-Liste der weltweit hundert einflussreichsten Frauen einbrachte.

Innerhalb weniger Wochen ist die 38-Jährige zu einem, wenn nicht zu dem Gesicht der belarussischen Opposition geworden. Sie hat an der Geschichte dieser wenig beachteten ehemaligen Sowjetrepublik mitgeschrieben und tut es immer noch.

"Vielleicht bin ich naiv"

"Vielleicht bin ich naiv, aber ich bin ja einfach so mir nichts, dir nichts in die Politik hineingeworfen worden, mit reiner Seele", sagte sie Anfang Oktober während eines Interviews in Berlin. Das klingt bescheiden, aber auch authentisch. Und vielleicht ist es diese Mischung, die Tichanowskaja so glaubwürdig macht.

Geboren 1982 in einem Dorf nahe Brest studierte sie Pädagogik, Deutsch und Englisch. Danach arbeitete sie als Übersetzerin für verschiedene Organisationen – unter anderem für Chernobyl Life Line mit Sitz in Irland.

Am 15. Mai 2020 wurde sie aus dem Nichts auf die politische Bühne katapultiert: An diesem Tag stoppte die Zentrale Wahlkommission die Ambitionen ihres Mannes Sergei. Der regimekritische Blogger hatte bei der Präsidentschaftswahl am 9. August Amtsinhaber Alexander Lukaschenko herausfordern wollen. Doch die Kommission ließ seine Kandidatur nicht zu.

Familie bedroht

Tichanowskaja reichte kurzerhand Dokumente für ein eigenes Team ein, das von ihrem Mann geleitet wurde. Sie ließ sich auch nicht entmutigen, als er, genau wie zwei weitere Oppositionskandidaten, inhaftiert wurde. Am 14. Juli wurde sie dank Tausender Unterstützerinnen und Unterstützer offiziell als Kandidatin registriert. Nach Drohungen, was ihrer Familie alles ­passieren könne, sollte sie ihre Kandidatur nicht zurückziehen, schickte Tichanowskaja ihre beiden Kinder mit der Großmutter nach Litauen.

Am 10. August verkündete die Zentrale Wahlkommission das Ergebnis der Präsidentenwahl: Lukaschenko soll angeblich knapp über 80, Tichanowskaja gerade einmal zehn Prozent der Stimmen erhalten haben. Die dreiste Fälschung treibt seither die Menschen auf die Straße. Für sie ist Tichanowskaja, die alsbald selbst nach Litauen fliehen musste, ihre rechtmäßige Präsidentin. Die Protestbewegung verstetigte sich, seit Wochen demonstrieren manchmal bis zu 100.000 Menschen. Das Regime antwortet mit Gewalt und schreckt nicht vor schweren Menschenrechtsverletzungen zurück.

Aus dem Exil heraus gründete Tichanowskaja einen "Koordinationsrat der Opposition", der einen friedlichen Machttransfer organisieren soll. Und sie bereiste Europa, um dort als eine Art Oppositionsbotschafterin ihres Landes für die Unterstützung beim Aufbau eines neuen Belarus zu werben. Das könnte noch lange dauern.

Aber Tichanowskaja gibt nicht auf. Bislang sagt sie zwar, sie strebe kein politisches Amt an, sollte Lukaschenko abgetreten und der Weg für freie Wahlen und einen Machtwechsel geebnet sein. Aber ihre Meinung könnte sich ändern, denn Tichanowskaja hat bereits mehrfach bewiesen, dass sie über sich hinauswachsen kann.

ER KÄMPFT WEITER

Zeichnung eines Mannes mit weißem kurzen Haar und weißem Bart, der ein Jackett trägt.

Voller Einsatz für die belarussische Zivilgesellschaft: Ales Bialiatski

Wenn es um Menschenrechte in Belarus geht, ist Ales Bialiatski seit Jahren ganz vorne mit dabei.

Von Barbara Oertel

Als die Europäische Union unlängst der belarussischen Opposition den Sacharow-Preis für geistige Freiheit zuerkannte, durfte sich auch Ales Bialiatski geehrt fühlen. Und den Alternativen Nobelpreis 2020 erhielt er dann auch noch. Wer, wenn nicht er, kann für sich in Anspruch nehmen, entscheidend zum Aufbau einer belarussischen Zivilgesellschaft beigetragen zu haben.

Seit dem 9. August, dem Tag der Präsidentenwahl in Belarus, gehen Zehntausende auf die Straße und bieten dem Autokraten Alexander Lukaschenko die Stirn, der behauptet, die Wahl gewonnen zu haben. Besonders für viele junge Belarussinnen und Belarussen dürfte die Hartnäckigkeit Bialiatskis Vorbild und ­Ansporn zugleich sein.

Vebrechen anprangern

Der 58-Jährige ist einer, der immer wieder das Wort ergreift, um Verbrechen des Regimes anzuprangern. Die Massenfestnahmen und absurden Strafverfahren gegen friedlich Demonstrierende bezeichnete er in einem Interview im November als totalen Terror des Staates. Das alles erinnere an die grausamen Verbrechen der Stalin-Zeit; ein schmerzlicher Befund für jemanden, der sich seit Jahrzehnten der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels sowjetischer Geschichte verschrieben hat.

Bialiatski wird am 25. September 1962 in Russland geboren, im karelischen Dorf Wjartsilija. Zwei Jahre später zieht die Familie nach Belarus. 1984 schließt Bialiatski ein Philologiestudium ab, dem später eine Promotion folgt. Zwischendurch arbeitet er als Lehrer sowie in verschiedenen Kultureinrichtungen.

Mittlerweile verheiratet und Vater eines Sohnes ist Bialiatski 1988 Mitorganisator mehrerer öffentlicher Aktionen zum Gedenken an die Opfer des Stalinismus. Dieses Engagement bringt ihm mehrere Festnahmen und wiederholt Bußgelder ein. Auch an der Gründung der Belarussischen Volksfront Adraschenje (Wiedergeburt) ist Bialiatski federführend beteiligt. Die Bewegung setzt sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 für eine Demokratisierung des Landes ein.

Ins Straflager geschickt

1996 – in jenem Jahr lässt sich Lukaschenko in einem fragwürdigen Referendum unbegrenzte Vollmachten geben – gründet Bialiatski mit Gleichgesinnten das Menschenrechtszentrum Viasna (Frühling), dessen Vorsitzender er wird. Anfangs unterstützt das Zentrum inhaftierte Demonstrantinnen und Demonstranten, später kommt auch das Monitoring von Wahlen hinzu. 2003 entziehen die Behörden Viasna die Registrierung. Doch ­Bialiatski setzt seine Arbeit fort.

2011 wird er wegen angeblicher Steuerhinterziehung zu ­viereinhalb Jahren Straflager verurteilt, kommt aber im Juni 2014 vorzeitig frei. Während seiner Haft setzen sich zahlreiche Menschenrechtsorganisationen für ihn ein – darunter auch Amnesty International. Eine Amnesty-Solidaritätsaktion beschert Bialiatski mitunter 500 Briefe am Tag. Später wird er sagen, das sei nicht nur für ihn eine Unterstützung gewesen, sondern eine deutliche Nachricht an alle Menschen in Belarus.

Im Sommer 2020 ist die Geduld der Menschen in Belarus aufgebraucht. Sie fordern den Rücktritt Lukaschenkos, dessen gefälschten Wahlsieg sie nicht anerkennen. Die Opposition richtet einen Koordinierungsrat ein, der einen friedlichen Machttransfer organisieren soll. Dort findet auch Bialiatski seinen Platz. Das Regime antwortet wie immer: Festnahmen, Prügel und Folter – Menschenrechtsverletzungen, die Viasna dokumentiert. "Keines dieser Verbrechen wird ungesühnt bleiben. Ich rufe alle Menschen auf: Verzweifelt nicht, sondern kämpft weiter für eure Rechte", sagt Ales Bialiatski. Wie auch immer der Machtkampf in Belarus ausgeht: Er wird weitermachen.

MUTIG UND UNBEIRRBAR

Zeichnung einer Frau mit blondem Haar und bunter Bluse, die lächelt.

Olga Karatsch, Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Nash Dom ("Unser Haus") in Belarus

Der Protest gegen Langzeitpräsident ­Lukaschenko lebt von der Kraft der ­widerständigen belarussischen Frauen. Olga Karatsch ist eine von ihnen.

Von Stefan Wirner

Ihr Mut und ihre Entschlossenheit haben Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa zu Symbolfiguren der belarussischen Demokratiebewegung werden lassen. Tichanowskaja hat Alexander Lukaschenko bei der Wahl im August als Gegenkandidatin herausgefordert, anschließend musste sie nach Litauen ins Exil fliehen. Die Musikerin Kolesnikowa gehört dem oppositionellen Koordinierungsrat an. Sie wurde im September verschleppt und in ein Gefängnis gebracht. Hinter den beiden Frauen stehen zahlreiche andere, die sich unerschrocken dem Regime entgegenstellen. Eine davon ist Olga Karatsch, die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Nash Dom ("Unser Haus").

Festnahme als Schlüsselmoment

Karatsch wurde 1979 in der Industriestadt Witebsk geboren. Sie stammt aus einer Arbeiterfamilie, ihr Vater ist Schweißer, ihre Mutter Köchin. Nach der Schule studierte sie russische Philologie und machte in Litauen an der Universität in Vilnius ihren Magister in Politologie. Zur Menschenrechtsaktivistin wurde sie durch Zufall, wie sie sagt. Im Jahr 1999 verteilte sie mit zwei Freundinnen Flugblätter gegen Lukaschenko und seine autoritäre Herrschaft. "Wir wurden von 15 Polizisten mit Maschinenpistolen festgenommen. Sie belästigten uns sexuell und bedrohten uns", erinnert sie sich.

Diese Festnahme war ein Schlüsselmoment: "Ich beschloss, für meine Rechte zu kämpfen", sagt Karatsch. Die drei Frauen reichten Beschwerde wegen des brutalen Vorgehens der Polizei ein. Vor Gericht schlug der Richter eine gütliche ­Einigung vor: Sie sollten ihre Beschwerden zurückziehen, im Gegenzug würden die Anschuldigungen gegen sie fallengelassen. "Für mich war das ein Sieg", sagt Karatsch und verweist auf die repressiven Bedingungen in Belarus. 

Einsatz für Jugendliche

Von 2003 bis 2007 war Karatsch Abgeordnete im Stadtrat von Witebsk, als einzige Oppositionelle. Im Jahr 2005 gründete sie "Unser Haus". Anfangs engagierte sich die Organisation vor allem in der Kommunalpolitik, inzwischen setzt sie sich für die Menschenrechte im ganzen Land ein, etwa für Jugendliche, die wegen kleiner Drogenvergehen jahrelang eingesperrt und zur Zwangsarbeit verpflichtet werden.

"Der belarussische Staat will den Einzelnen in jedem Bereich kontrollieren, egal ob Arbeit, Religionsausübung oder Privatleben", sagt Karatsch. Wer sich dem widersetze, müsse mit Repressalien rechnen. Man habe sie mehrfach angegriffen und ihr mit Vergewaltigung gedroht, erzählt sie. Im Jahr 2011 wurde sie wegen Terrorverdachts inhaftiert, im Falle eines Schuldspruchs hätte ihr die Todesstrafe drohen können. Der Fall erregte international derart viel Aufsehen, dass sie wieder freigelassen wurde.

Sohn im Exil

Karatsch ist mit einem freien Journalisten verheiratet, sie hat eine Tochter und einen Sohn. Diesen hat sie aus Angst vor ­einer Entführung nach Vilnius gebracht, sie selbst pendelt zwischen der litauischen Hauptstadt und Witebsk. Von ihrer Familie erfährt sie volle Unterstützung, sie spürt aber, wie sehr sich ihre Angehörigen um sie sorgen.

Doch Karatsch lässt nicht locker, und neben der Teilnahme an den Protesten geht für Nash Dom die Menschenrechtsarbeit weiter. "Spricht man das erste Mal mit Betroffenen, dann glauben sie meist nicht mehr an sich", erzählt Karatsch. "Wenn sich dann etwas zum Besseren wendet und ihre Augen wieder strahlen, dann freut einen das mehr als alles andere."

Barbara Oertel ist freie Journalistin, Stefan Wirner ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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